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BGH Urteil vom 15.06.2021 - VI ZR 1029/20 - Zum notwendigen Inhalt eines Berufungsurteils

BGH v. 15.06.2021: Zum notwendigen Inhalt eines Berufungsurteils




Der BGH (Urteil vom 15.06.2021 - VI ZR 1029/20) hat entschieden:

   Die Berufungsanträge müssen im Berufungsurteil zumindest sinngemäß wiedergegeben werden. Ohne die Wiedergabe der Anträge leidet das Berufungsurteil regelmäßig an einem von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangel, der zur Aufhebung und Zurückverweisung führt (vgl. Senatsurteile vom 21. Februar 2017 - VI ZR 22/16, NJW 2017, 3449 Rn. 6 und vom 30. Mai 2017 - VI ZR 501/16, VersR 2017, 1014 Rn. 7 mwN). Die ausdrückliche Wiedergabe der Anträge ist jedoch entbehrlich, wenn sich aus dem Gesamtzusammenhang der Gründe das Begehren des Berufungsführers noch mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen lässt (vgl. Senatsurteil vom 10. Februar 2004 - VI ZR 94/03, BGHZ 158, 60, 62 f., juris Rn. 9; BGH, Urteil vom 17. Dezember 2013 - II ZR 21/12, ZIP 2014, 216 Rn. 18 mwN).

Siehe auch
Urteile im Zivilprozess
und
Stichwörter zum Thema Zivilprozess


Tatbestand:


Die Parteien streiten um Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall.

Der Kläger befuhr am 21. Mai 2018 mit seinem - bei der Drittwiderbeklagten haftpflichtversicherten - Pkw die linke Spur einer zweispurigen Straße in Leipzig. Die Beklagte zu 3 fuhr mit einem Pkw, dessen Halter der Beklagte zu 2 ist, und der zum damaligen Zeitpunkt bei der Beklagten zu 1 haftpflichtversichert war, auf der rechten Spur derselben Straße in dieselbe Richtung. Es kam zur Kollision beider Fahrzeuge, die beide beschädigt wurden.

Mit der Klage verlangt der Kläger von den Beklagten zu 1 bis 3 als Gesamtschuldner Ersatz seiner Reparatur- und Sachverständigenkosten sowie eine Unkostenpauschale, insgesamt 2.420,05 €, und außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 334,75 €, jeweils zzgl. Zinsen. Der Beklagte zu 2 begehrt mit der Widerklage und Drittwiderklage vom Kläger und dem drittwiderbeklagten Versicherer als Gesamtschuldner Ersatz von Reparaturkosten in Höhe von 3.221,39 € netto, Ersatz einer Wertminderung von 300 €, eine Auslagenpauschale von 25 €, Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von 413,64 €, jeweils zzgl. Zinsen, und die Feststellung, dass der Kläger und die Drittwiderbeklagte als Gesamtschuldner zum Ersatz weiterer Schäden aus dem Unfallereignis verpflichtet sind.

Das Amtsgericht hat unter Klageabweisung im Übrigen die Beklagten zu 1 bis 3 gesamtschuldnerisch verurteilt, an den Kläger 1.210,03 € sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 201,75 €, jeweils zzgl. Zinsen, zu zahlen. Auf die Widerklage und Drittwiderklage des Beklagten zu 2 hat das Amtsgericht den Kläger und die Drittwiderbeklagte als Gesamtschuldner verurteilt, an den Beklagten zu 2 einen Betrag von 1.773,20 € sowie außergerichtliche Rechtsanwaltskosten von 255,85 €, jeweils zzgl. Zinsen, zu zahlen und festgestellt, dass der Kläger und die Drittwiderbeklagte als Gesamtschuldner verpflichtet sind, 50 % aller weiteren materiellen und immateriellen Schäden aus dem Unfallereignis vom 21. Mai 2018 zu zahlen, soweit diese nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind. Im Übrigen hat es die Widerklage abgewiesen.

Das Landgericht hat die Berufung der Beklagten zu 2 und 3 zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Beklagten zu 2 und 3 ihre Berufungsanträge weiter.




Entscheidungsgründe:


I.

Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

Die erstinstanzliche Entscheidung sei zwar unrichtig, da nach der Überzeugung des Berufungsgerichts feststehe, dass der Kläger sein Fahrzeug auf die rechte Fahrspur in das Fahrzeug der Beklagten zu 2 und 3 gelenkt habe. Aufgrund der rechtskräftigen Entscheidung des Amtsgerichts, das dem Kläger einen hälftigen Erstattungsanspruch zuerkannt habe, sei das Berufungsgericht aber daran gehindert, das amtsgerichtliche Urteil aufzuheben. Das Amtsgericht sei im Rahmen der rechtskräftigen Entscheidung über die Klage davon ausgegangen, dass der Verkehrsunfall von beiden Fahrzeugen anteilig verursacht worden sei. Damit habe es das Vorliegen eines unabwendbaren Ereignisses nach § 17 Abs. 3 StVG auf Seiten der Beklagten zu 2 und 3 verneint. An diese Feststellungen sei das Berufungsgericht gebunden. Nur wenn der Unfall für die Beklagten zu 2 und 3 unabwendbar gewesen wäre, stünde den Beklagten zu 2 und 3 ein voller Erstattungsanspruch gegen den Kläger und die Drittwiderbeklagte zu.

II.

Die zulässige Revision der Beklagten zu 2 und 3 ist begründet.

1. Entgegen der Ansicht der Revisionsbeklagten ist sowohl die Revision des Beklagten zu 2 als auch die der Beklagten zu 3 zulässig.




Selbst wenn mit der Berufung nur die Teilabweisung der Widerklage durch das Amtsgericht angegriffen worden ist und an diesem Prozessrechtsverhältnis die Beklagte zu 3 in erster Instanz gar nicht beteiligt war, da Widerklage und Drittwiderklage nur der Beklagte zu 2 erhoben hat, steht es der Beklagten zu 3 als durch das Berufungsurteil beschwerter Partei zu, Rechtsmittel gegen dieses Urteil einzulegen (vgl. BGH, Urteil vom 21. Juli 2017 - V ZR 72/16, NZM 2017, 853 Rn. 11 mwN; BGH, Beschluss vom 28. März 1995 - X ARZ 255/95, NJW-RR 1995, 764, 765, juris Rn. 5). Die Beklagten zu 2 und 3 sind im Berufungsurteil als Berufungskläger genannt. Das Berufungsgericht hat die "Berufung der Beklagten zu 2 und 3" zurückgewiesen und beiden die Kosten der Berufung auferlegt. Auch die Zulassung der Revision erstreckt sich auf beide Beklagte.

2. Die Revision der Beklagten zu 2 und 3 ist schon deshalb begründet, weil das Berufungsurteil nicht den Anforderungen des § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO genügt und daher aufzuheben ist.

a) Nach § 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO enthält das Berufungsurteil anstelle von Tatbestand und Entscheidungsgründen die Bezugnahme auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil mit Darstellung etwaiger Änderungen oder Ergänzungen. Die Berufungsanträge müssen im Berufungsurteil zumindest sinngemäß wiedergegeben werden. Ohne die Wiedergabe der Anträge leidet das Berufungsurteil regelmäßig an einem von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangel, der zur Aufhebung und Zurückverweisung führt (vgl. Senatsurteile vom 21. Februar 2017 - VI ZR 22/16, NJW 2017, 3449 Rn. 6 und vom 30. Mai 2017 - VI ZR 501/16, VersR 2017, 1014 Rn. 7 mwN). Die ausdrückliche Wiedergabe der Anträge ist jedoch entbehrlich, wenn sich aus dem Gesamtzusammenhang der Gründe das Begehren des Berufungsführers noch mit hinreichender Deutlichkeit entnehmen lässt (vgl. Senatsurteil vom 10. Februar 2004 - VI ZR 94/03, BGHZ 158, 60, 62 f., juris Rn. 9; BGH, Urteil vom 17. Dezember 2013 - II ZR 21/12, ZIP 2014, 216 Rn. 18 mwN). Bei teilweiser Anfechtung muss der Umfang des in die Berufung gelangten Streitgegenstands deutlich werden (vgl. BGH, Urteil vom 26. Februar 2003 - VIII ZR 262/02, BGHZ 154, 99, 101, juris Rn. 5; BGH, Urteil vom 25. Mai 2011 - IV ZR 59/09, NJW 2011, 2054 Rn. 10; Zöller/Heßler, ZPO, 33. Aufl., § 540 Rn. 8).


b) Die Berufungsanträge der Parteien sind im Berufungsurteil weder ausdrücklich noch sinngemäß wiedergegeben. Das Begehren der Beklagten zu 2 und 3 lässt sich auch nicht aus dem Gesamtzusammenhang der Gründe erschließen.

Im Rubrum des Berufungsurteils sind die Beklagten zu 2 und 3 als Berufungskläger genannt, allerdings ist nur der Beklagte zu 2 als Widerkläger angegeben. Aus den Gründen des Berufungsurteils ergibt sich, dass die Entscheidung des Amtsgerichts rechtskräftig ist, soweit dem Kläger ein hälftiger Erstattungsanspruch gegen die Beklagten zuerkannt wurde. Damit bleibt unklar, wogegen sich die Berufung der Beklagten zu 3 richten soll.

Aus dem im Berufungsurteil genannten Umstand, dass die Entscheidung des Amtsgerichts über die Klage rechtskräftig ist, folgt zwar, dass die Berufung des Beklagten zu 2 nur den mit der Widerklage und Drittwiderklage verfolgten Antrag zum Gegenstand haben kann, den das Amtsgericht zur Hälfte abgewiesen hat. Dem Berufungsurteil lässt sich aber weder sinngemäß noch aus dem Gesamtzusammenhang entnehmen, welche Ansprüche der Beklagte zu 2 im Einzelnen noch weiterverfolgt, also welche Haupt- und Nebenforderungen in welcher Höhe Gegenstand der Berufung sind, ebenfalls nicht, in welchem Umfang er den in erster Instanz gestellten und vom Amtsgericht mit einer Quote von 50 % zuerkannten Feststellungsantrag weiterverfolgt.

3. Aus diesen Gründen ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (vgl. Senatsurteil vom 10. Februar 2004 - VI ZR 94/03, BGHZ 158, 60, 63, juris Rn. 10; BGH, Urteil vom 19. Juli 2017 - VIII ZR 3/17, NZM 2017, 732 Rn. 9).

III.

Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, dass die Auffassung des Berufungsgerichts, durch die teilweise stattgebende Entscheidung über die Klage daran gehindert zu sein, der Widerklage weitergehend als das Amtsgericht stattzugeben, nicht zutrifft. In prozessualer Hinsicht hat das Berufungsgericht insoweit bereits die objektiven Grenzen der Rechtskraft verkannt, die zwar das Bestehen/Nichtbestehen des mit der Klage geltend gemachten Anspruchs erfasst, sich aber nicht auf die Beurteilung von Vorfragen wie hier auf die Frage nach der Unabwendbarkeit des Unfalls für die Beklagten zu 2 und 3 im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG oder die dem Zahlungsausspruch zugrundeliegende Haftungsquote erstreckt (vgl. BGH, Urteil vom 25. Februar 1985 - VIII ZR 116/84, BGHZ 94, 29, 32 f.; MüKo ZPO/Gottwald, 6. Aufl., § 322 Rn. 100).



Unzutreffend sind die Ausführungen zur Haftungsverteilung aber auch in materiell-rechtlicher Hinsicht. Die konkrete Haftungsverteilung für den mit der Widerklage geltend gemachten Anspruch hängt nach § 17 Abs. 2, Abs. 1 StVG davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die Abwägung ist aufgrund aller festgestellten Umstände des Einzelfalles vorzunehmen. In erster Linie ist dabei nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung das Maß der Verursachung von Belang, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist dabei nur ein Faktor der Abwägung (Senatsurteil vom 13. Dezember 2005 - VI ZR 68/04 - VersR 2006, 369, juris Rn. 16 mwN).

Die Ansicht des Berufungsgerichts, dem Beklagten zu 2 könne nur dann ein Schadensersatzanspruch gegen den Kläger und die Drittwiderbeklagte in voller Höhe zustehen, wenn der Unfall für ihn selbst unabwendbar im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG gewesen sei, ist rechtsfehlerhaft. Eine alleinige Haftung des Halters des anderen am Unfall beteiligten Fahrzeugs ist auch in den Fällen anerkannt, in denen die schwere Schuld der Gegenseite die eigene geringe Schuld oder die allein auf Seiten des Anspruchsstellers zu berücksichtigende Betriebsgefahr ganz zurücktreten lässt (vgl. Senatsurteil vom 17. September 1965 - VI ZR 7/64, VersR 1965, 1075; König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 46. Aufl., § 17 StVG Rn. 4 mwN). Falls das Berufungsgericht abweichend von der Bewertung des Amtsgerichts zu der Überzeugung käme, dass der Kläger den Unfall verschuldet habe, während auf Seiten des Beklagten zu 2 nur die Betriebsgefahr zu berücksichtigen wäre, käme im Übrigen eine Haftungsverteilung nach § 17 Abs. 2, Abs. 1 StVG in Betracht, die der Berufung des Beklagten zu 2, soweit mit ihr mehr als der vom Amtsgericht zuerkannte hälftige Schadensersatz verlangt wird, zumindest ggf. teilweise zum Erfolg verhelfen könnte.

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