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Kammergericht Berlin Beschluss vom 20.07.2021 - 3 Ws (B) 175/21 - 122 Ss 80/21 - Erfordernis einer kritischen Würdigung der vom Betroffenen behaupteten fahrverbotsfeindlichen Umstände

KG Berlin v. 20.07.2021: Erfordernis einer kritischen Würdigung der vom Betroffenen behaupteten fahrverbotsfeindlichen Umstände




Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 20.07.2021 - 3 Ws (B) 175/21 - 122 Ss 80/21) hat entschieden:

   Die Entscheidung, ob trotz Vorliegens eines Regelfalls der konkrete Sachverhalt Ausnahmecharakter hat und deshalb die Verhängung eines Fahrverbots nicht erfordert, muss durch Tatsachen gestützt sein, die sich nicht in einer unkritischen Wiedergabe der Einlassung des Betroffenen erschöpfen darf. Der Tatrichter ist vielmehr gehalten, die Einlassung eines Betroffenen kritisch zu prüfen und gegebenenfalls zu überprüfen.

Siehe auch
Absehen vom Fahrverbot
und
Stichwörter zum Thema Fahrverbot

Gründe:


Der Polizeipräsident in Berlin hat mit Bußgeldbescheid vom 11. Februar 2020 gegen den Betroffenen wegen einer innerörtlich vorsätzlich begangenen Geschwindigkeitsüberschreitung um 43 km/h (erlaubt: 50 km/h) eine Geldbuße von 425 Euro verhängt und auf der Grundlage von § 4 Abs. 1 BKatV ein einmonatiges Fahrverbot angeordnet. Zugleich ist bestimmt worden, dass das Fahrverbot nach § 25 Abs. 2a StVG wirksam werden soll.

Auf seinen in zulässiger Weise auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Einspruch hat das Amtsgericht Tiergarten den Betroffenen zu einer Geldbuße von 500 Euro verurteilt. Von der Verhängung eines Fahrverbots hat es abgesehen, weil der Betroffene auf seinen Führerschein „angewiesen“ sei (UA S. 2). Der Betroffene habe angegeben, als Physiotherapeut tätig zu sein und Hausbesuche in „ganz Berlin und zum Teil bundesweit“ zu absolvieren. Hierzu benötige er „eine große Liege und diverse schwere Sportgeräte“. Seine eigenen Praxisräume habe er wegen einer Covid-19-Erkrankung im November 2020 aufgeben müssen. Urlaub könne er nicht nehmen, weil er die finanziellen Verluste aufarbeiten müsse und auch drohe, dass ihm Kunden verloren gingen (UA S. 2). Der Betroffene habe für die Monate Februar bis April 2021 einen Umsatz von 4.000 Euro nachgewiesen. Weitere Unterlagen habe er nicht einreichen können, „da er seine Selbstständigkeit erst seit Februar 2021 führt“ (UA S. 2). Einen Fahrer könne er sich mit ca. 800 Euro, die ihm monatlich blieben, nicht leisten. Das Amtsgericht hat festgestellt, dass das Fahreignungsregister eine Eintragung für den Betroffenen enthält. Zugleich habe er Tage vor dem Termin einen Einspruch „in einem Verfahren wegen Mängeln am Tatfahrzeug“ zurückgenommen; der „Gesamtbetrag einschließlich Kosten, Gebühren und Auslagen“ habe hier 1.522 Euro betragen (UA S. 2).

Die Amtsanwaltschaft Berlin beanstandet das Urteil mit der Rechtsbeschwerde und erhebt die Rüge der Verletzung sachlichen Rechts. Das Rechtsmittel hat Erfolg. Die Beschwerdeführerin bemängelt zu Recht, dass die getroffenen Feststellungen es bei der hier abgeurteilten beträchtlichen Geschwindigkeitsüberschreitung durch einen verkehrsrechtlich vorbelasteten Betroffenen nicht rechtfertigen, vom vorgesehenen Fahrverbot abzusehen.




1. Zwar folgt aus § 4 Abs. 1 BKatV in der Tat nicht, dass ausnahmslos ein Fahrverbot zu verhängen wäre. Vielmehr steht dem Tatrichter ein Ermessensspielraum zu, um Verstößen im Straßenverkehr mit der im Einzelfall angemessenen Sanktion zu begegnen (vgl. BVerfG NJW 1996, 1809). Denn die Frage, ob die Würdigung der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen besondere Umstände ergibt, nach denen es der Warn- und Denkzettelfunktion eines Fahrverbots ausnahmsweise nicht bedarf, liegt grundsätzlich in seinem Verantwortungsbereich. Seine innerhalb des ihm eingeräumten Bewertungsspielraums nach eigenem pflichtgemäßen Ermessen zu treffenden Wertungen können vom Rechtsbeschwerdegericht nur daraufhin überprüft werden, ob er sein Ermessen deshalb fehlerhaft ausgeübt hat, weil er die anzuwendenden Rechtsbegriffe verkannt oder die Grenzen des Ermessens durch unzulässige Erwägungen überschritten und sich nicht nach den Grundsätzen und Wertmaßstäben des Gesetzes gerichtet hat (vgl. zuletzt OLG Bamberg VRR 2017, 18 [Volltext bei juris]). Dass ein Kraftfahrer auf seine Fahrerlaubnis beruflich angewiesen ist, rechtfertigt ein Absehen von der Auferlegung eines Fahrverbotes allerdings grundsätzlich nicht (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. etwa Beschlüsse vom 22. September 2004 - 3 Ws (B) 418/04 - und 15. April 2005 - 3 Ws (B) 132/05 -). Ausnahmen davon können sich allenfalls ergeben, wenn dem Betroffenen infolge des Fahrverbots der Verlust seines Arbeitsplatzes oder seiner sonstigen wirtschaftlichen Existenz droht und dies nicht durch zumutbare Vorkehrungen vermieden werden kann (vgl. Senat, Beschluss vom 17. April 2002 - 3 Ws (B) 118/02 -; OLG Düsseldorf VRS 96, 228). Dabei ist nach der Einführung des § 25 Abs. 2a StVG mit der Möglichkeit, den Beginn der Wirksamkeit des Verbotes innerhalb von vier Monaten selbst zu bestimmen, ein noch strengerer Maßstab anzulegen (vgl. OLG Frankfurt DAR 2002, 82).

Die Entscheidung, ob trotz Vorliegens eines Regelfalls der konkrete Sachverhalt Ausnahmecharakter hat und deshalb die Verhängung eines Fahrverbots nicht erfordert, muss durch Tatsachen gestützt sein (vgl. BGHSt 38, 231), die sich nicht in einer unkritischen Wiedergabe der Einlassung des Betroffenen erschöpfen darf (vgl. OLG Hamm DAR 2012, 477; Krumm, Fahrverbot in Bußgeldsachen 4. Aufl., § 6 Rn. 203 m. w. N.). Zwar ist es dem Tatrichter nicht schlechthin verwehrt, „fahrverbotsfeindliche“ Behauptungen zu glauben. Entlastende Angaben des Betroffenen, der sich auf eine persönliche Ausnahmesituation beruft und regelmäßig ein großes Interesse daran haben wird, einem Fahrverbot zu entgehen, dürfen jedoch nicht ohne weitere Prüfung hingenommen werden (vgl. OLG Hamm BA 2004, 179; DAR 2007, 97; OLG Naumburg DAR 2003, 573; Krumm, a.a.O.). Der Tatrichter ist vielmehr gehalten, die Einlassung eines Betroffenen kritisch zu prüfen (vgl. Senat Blutalkohol 54, 385 [Bäcker]; DAR 2019, 391 [Taxifahrer]; OLG Zweibrücken VerkMitt 2020, Nr. 43 [„Gruppenführer im Schichtbetrieb“]; OLG Hamm VRR 2009, 310 [Volltext bei juris]; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 14. März 2008 – IV-5 Ss (Owi) 44/07 – [juris] [„Selbstständiger Gewerbetreibender“]; OLG HammDAR 2007, 97 [selbstständiger Taxifahrer]). Gegebenenfalls sind Beweise zu erheben (vgl. OLG Hamm DAR 2007, 97). Der Tatrichter muss dazu im Urteil so umfassende Feststellungen treffen, dass dem Rechtsbeschwerdegericht eine abschließende Prüfung möglich ist. Die negativen wirtschaftlichen und beruflichen Folgen eines Fahrverbots sowie die verschiedenen Möglichkeiten, die Auswirkungen abzumildern, sind im Einzelnen konkret darzulegen (vgl. OLG Hamm a.a.O.).

2. Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht. Die Feststellungen ermöglichen es dem Senat nicht, die tatrichterliche Bewertung nachzuvollziehen, das Fahrverbot treffe den Betroffenen außergewöhnlich hart.


a) Die Urteilsgründe geben bereits Anlass, daran zu zweifeln, ob das Amtsgericht dem Betroffenen seine Ausführungen zur persönlichen und beruflichen Situation überhaupt in vollem Umfang geglaubt hat. Diese Unklarheit ergibt sich schon daraus, dass das Urteil nicht zwischen der Einlassung des Betroffenen und den vom Gericht getroffenen (ergänzenden) Feststellungen differenziert. So beginnt ein Passus des Urteils damit, der Betroffene habe angegeben, als Psychotherapeut gearbeitet zu haben. Ob und warum das Amtsgericht diese Mitteilung für überzeugend hielt, bleibt offen.

b) Sollte es sich bei der Erklärung des Betroffenen, er arbeite als Physiotherapeut und habe bis November 2020 eine eigene Praxis betrieben (UA S. 2 oben), um Urteilsfeststellungen handeln, so ergäbe sich ein Widerspruch zu der gleichfalls getroffenen Feststellung, dass der Betroffene „seine Selbstständigkeit erst seit Februar 2021 führt“ (UA S. 2 unten). Sollte es sich bei Erstgenanntem nicht um eine Feststellung, sondern nur um die Einlassung des Betroffenen handeln, so hätte sich das Amtsgericht mit dem offensichtlichen Widerspruch auseinandersetzen und begründen müssen, warum es davon ausgeht, dass der Betroffene entgegen seiner Bekundung erst seit Februar 2021 selbstständig ist. Vervollständigt wird die Unklarheit noch durch die mit keiner der zwei Versionen zu vereinbarenden Mitteilung, der Betroffene habe die eigene Praxis aufgeben müssen, nachdem er „im Februar 2021 einigermaßen genesen“ war (UA S. 3 Mitte). Die Widersprüchlichkeit, Unklarheit und Ungenauigkeit der Feststellungen zur Berufstätigkeit des Betroffenen betrifft den Bestand der (negativen) Fahrverbotsentscheidung, weil das Amtsgericht gerade hieraus die Gefährdung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage ableitet.

c) Unabhängig hiervon lässt das Urteil die durch die obergerichtliche Rechtsprechung erforderte kritische Prüfung der vom Betroffenen vorgebrachten fahrverbotsfeindlichen Umstände vermissen. Dass das Amtsgericht sich veranlasst gesehen hätte, die Einlassung kritisch zu hinterfragen oder sogar zur Bekräftigung des Vortrags Beweise zu erheben, erweist das Urteil nicht. Es entsteht im Gegenteil der Eindruck, dass eine wenig plausible und widerspruchbehaftete Einlassung zur Grundlage der Entscheidung gemacht wurde, vom durch die BKatV indizierten Regelfahrverbot abzusehen. Vor dem Hintergrund des Verfahrensgangs als fragwürdig und deshalb erörterungsbedürftig muss etwa erscheinen, dass der Betroffene es trotz (angeblicher) Coronaerkrankung „versäumt“ habe, „den Führerschein abzugeben“ (UA S. 3). Auch für die Feststellung, der Betroffene führe als Physiotherapeut „bundesweite“ Hausbesuche durch, streitet – jedenfalls von vornherein – keine große Wahrscheinlichkeit, so dass es jedenfalls einer spezifizierenden Erläuterung und gegebenenfalls einer Überprüfung bedurft hätte.



d) Lediglich ergänzend ist noch anzumerken, dass das Urteil nicht erkennen lässt, ob ein weiterer gegen den Betroffenen erlassener Bußgeldbescheid, der offenbar im Zusammenhang mit einem mängelbehafteten und gegebenenfalls verkehrsunsicheren Fahrzeug steht, rechtsfolgenbestimmend berücksichtigt wurde. Auch die in diesem Zusammenhang wichtige Höhe der Geldbuße wird nicht mitgeteilt.

3. Die Entscheidung, vom Fahrverbot abzusehen, hat somit keinen Bestand. Wegen der Wechselwirkung zwischen der Frage der Anordnung des Fahrverbots und der Höhe der Geldbuße ist das Urteil, das richtigerweise ohnehin nur einen Rechtsfolgenausspruch enthält, insgesamt aufzuheben, und die Sache ist an das Amtsgericht Tiergarten zurückzuverweisen.

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