Das Verkehrslexikon

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Allgemeines zum Absehen vom Fahrverbot - wirtschaftliche Nachteile - Arbeitsplatzverlust - Existenzvernichtung - Augenblicksversagen - Zeitablauf - Verbotsirrtum

Absehen vom Fahrverbot




Gliederung:


   Einleitung
Weiterführende Links
Allgemeines
Kein Absehen bei Fahranfängern
Ehrenamtliche / gemeinnützige Tätigkeit
Absehen bei Alkohol-OWi
Rotlichtverstoß ohne „abstrakte“ Gefährdung
Rotlichtverstoß an Baustellen-Ampel
Geschwindigkeits-Überwachungsgerät LEIVTEC XV3
Keine Urlaubsmöglichkeit
Teilnahme an einem Aufbauseminar
Teilabsehen - Dauerverkürzung
Berücksichtigung der Fahrverbotsweisung eines Polizeibeamten
Berufung auf Versagen des Fahrerassistenzsystems
Berücksichtigung einer verwaltungsrechtlichen Fahrerlaubnisentziehung
Keine Notwendigkeit für persönliches Erscheinen für ein Absehen vom Regelfahrverbot
Keine Sachentscheidung bei Säumnis des Betroffenen

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Einleitung:


Wenn durch die Bußgeldkatalog-Verordnung die Anordnung eines Fahrverbots wegen der unterstellten Gefährlichkeit des begangenen Verkehrsverstoßes angezeigt ist, kommt ein Absehen vom vorgenannten Regeltatbestand nur dann in Betracht, wenn Härten ganz außergewöhnlicher Art vorliegen oder sonstige, das äußere oder innere Tatbild beherrschende außergewöhnliche Umstände ein Absehen von dieser Sanktion rechtfertigen.


Im Laufe vieler Jahre haben sich in der Rechtsprechung zahlreiche Fallgruppen herausgebildet, in denen nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls ausnahmsweise von der Verhängung eines Fahrverbots - mit oder auch ohne Kompensation durch eine Erhöhung der Geldbuße - abgesehen werden kann. Die Fülle der teilweise auch divergierenden Rechtsprechung lässt eine erschöpfende Erläuterung der Ausnahmegestaltungen in diesem Rahmen nicht zu. Die hauptsächlichen Fallgruppen sind:

der drohende Verlust des Arbeitsplatzes bei abhängig Beschäftigen

die Existenzgefährdung bei Selbständigen

das sog. Augenblicksversagen

notstandsähnliche Situationen bei der Tatbegehung

Fehlende „abstrakte“ Gefährdung bei qualifiziertem Rotlichtverstoß

Tatumstände / Nachtatverhalten

besondere persönliche Umstände / Persönlichkeitsstruktur

Vorliegen eines vermeidbaren Verbotsirrtums

extrem langer Zeitablauf zwischen Vorfall und Urteil

Da die Staatsanwaltschaft gegen Urteile in Bußgeldsachen, in denen trotz Vorliegen eines Regelfalls von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen wurde, das Rechtsmittel der Rechtsbeschwerde hat, findet eine Kontrolle der Amtsrichter durch das jeweilige Oberlandesgericht statt, so dass einem Wildwuchs an Großzügigkeit recht schnell der Boden entzogen wird. Auf der anderen Seite gibt es erstaunlich viele OLG-Urteile, in denen zu strenge Amtsgerichtsurteile aufgehoben werden.

Befindet sich der Betroffene in einem Irrtum über die Beschilderung, liegt in der Regel kein Tatumstandsirrtum vor, sondern ein - meist vermeidbarer - Verbotsirrtum. Das kann im Einzelfall ein Absehen vom Regelfahrverbot rechtfertigen, siehe OLG Bamberg (Beschluss vom 01.12.2015 - 3 Ss OWi 834/15).

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Weiterführende Links:


Stichwörter zum Thema Fahrverbot

Fahrverbot im Strafverfahren

Regelfahrverbot

Lange Verfahrensdauer

Fahrverbot bei Rotlichtverstößen - Einzelfälle

Fahrverbot bei Geschwindigkeitsüberschreitungen - Einzelfälle

Absehen vom Fahrverbot allgemein

Fahrverbot und sog. Augenblicksversagen

Absehen vom Fahrverbot wegen Existenzgefährdung oder drohendem Verlust des Arbeitsplatzes

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Allgemeines zum Absehen vom Fahrverbot bei Regelverstößen:


OLG Karlsruhe v. 10.11.2004:
Ausführlich zum Begründungszwang, wenn vom Regelfahrverbot abgesehen werden soll und zur notstandsähnlichen Situation eines Arztes

OLG Hamm v. 02.08.2005:
Das Absehen vom Regelfahrverbot erfordert eine eingehende Begründung; die behauptete Unmöglichkeit, mehrere tägliche Kundenbesuche mit öffentlichen Verkehrsmitteln erledigen zu können, rechtfertigt kein Absehen vom Fahrverbot wegen Existenzgefährdung.

OLG Hamm v. 10.11.2006:
Ist der Betroffene in der Vergangenheit bereits mehrfach verkehrsrechtlich in Erscheinung getreten, bedarf es einer eingehenden Erörterung, warum trotz dieser Vorwarnung(en) nun nochmals von der Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme des Fahrverbotes abgesehen werden kann bzw. soll.

OLG Bamberg v. 09.01.2007:
Allein die Tatsache, dass sich die Geschwindigkeitsüberschreitung zur Nachtzeit auf einer Autobahn bei geringem oder nahezu fehlendem Verkehrsaufkommen ereignet hat, rechtfertigt ohne das Hinzuziehen sonstiger besonderer Umstände keine Ausnahme von einem verwirkten Fahrverbot.

OLG Bamberg v. 11.07.2007:
Die Vorbewertung des Verordnungsgebers, der in § 4 Abs. 1 Satz 1 BKatV bestimmte Verhaltensweisen als grobe Pflichtverletzungen ansieht, bei denen regelmäßig die Anordnung eines Fahrverbots in Betracht kommt, ist von den Gerichten zu beachten. Ist ein - regelmäßig als vermeidbar anzusehender - Verbotsirrtum angesichts der konkreten Beschilderung als fernliegend anzusehen, liegt ein Regelverstoß vor, der die Ahndung mit einem Fahrverbot indiziert.

OLG Hamm v. 12.10.2007:
Berufliche und wirtschaftliche Schwierigkeiten als Folge eines angeordneten Fahrverbotes rechtfertigen nicht das Absehen von der Verhängung eines Regelfahrverbotes, sondern nur Härten ganz außergewöhnlicher Art, wie z.B. drohender Verlust des Arbeitsplatzes oder einer sonstigen wirtschaftlichen Existenzgrundlage. Ob gravierende berufliche Nachteile ausnahmsweise ein Absehen vom Fahrverbot rechtfertigen können, bedarf dabei der positiven Feststellung und Darlegung der entsprechenden Tatsachen in den Urteilsgründen.

OLG Bamberg v. 20.08.2008:
Ist nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht seinen Feststellungen zwar nicht ausschließlich nur die Angaben des Betroffenen zu Grunde gelegt, diese im Ergebnis jedoch ohne hinreichende Ausschöpfung sonstiger Beweismittel nur einer an der Oberfläche verbleibenden Plausibilitätsprüfung unterzogen hat, genügt dies den aus § 267 Abs. 3 StPO in Verbindung mit § 71 Abs. 1 OWiG resultierenden sachlichrechtlichen Anforderungen an die Abfassung der Urteilsgründe regelmäßig nicht.

AG Lüdinghausen v. 23.01.2009:
Ein Absehen von einem Regelfahrverbot nach einem grob pflichtwidrigen Geschwindigkeitsverstoß ist selbst bei Vorliegen etwaiger Härten dann nicht möglich, wenn zugleich ein Fall der Beharrlichkeit vorlag.

OLG Hamm v. 12.06.2009:
Allein der Umstand, dass die für die Indizierung eines Fahrverbotes maßgebliche Grenze einer Geschwindigkeitsüberschreitung nur knapp (hier um 1 km/h) überschritten wurde, begründet noch keinen Ausnahmefall. Im Falle der Geschwindigkeitsüberschreitung innerhalb geschlossener Ortschaften hat der Verordnungsgeber die maßgebliche untere Grenze, ab der ein Fahrverbot eingreift, mit 31 km/h festgesetzt, so dass allein der Umstand, dass der abzuurteilende Verstoß am untersten Rand dieser Grenze liegt, ein Absehen von der Verhängung des Regelfahrverbots nicht zu rechtfertigen vermag.

OLG Hamm v. 19.01.2010:
Der Tatrichter hat im Rahmen der Verhängung des Fahrverbotes stets zu prüfen, ob außergewöhnliche Umständen vorliegen, die ausnahmsweise, insbesondere unter Beachtung des Übermaßverbotes, das Absehen vom Regelfahrverbot rechtfertigen, was dann der Fall ist, wenn erhebliche Härten oder eine Vielzahl für sich genommen gewöhnlicher und durchschnittlicher Umstände vorliegen, die einen Ausnahmefall begründen.

OLG Bamberg v. 28.12.2011:
Von einem wegen Unterschreitung des Mindestabstandes von einem vorausfahrenden Fahrzeug nach § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BKatV verwirkten Regelfahrverbot im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. StVG darf nicht allein mit der Begründung abgesehen werden, dass der die Fahrverbotsanordnung indizierende untere Tabellengrenzwert (sog. "Fahrverbotsschwelle") nur knapp unterschritten wurde (u.a. Anschluss an OLG Köln VRS 105, 296ff. und OLG Hamm, Beschluss vom 12. Juni 2009, 3 Ss OWi 68/09).

KG Berlin v. 12.03.2012:
Wenn der Bußgeldkatalog bei Vorliegen bestimmter, schuldhaft begangener Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr die Anordnung eines Fahrverbotes als Regelfolge vorsieht, ist es in aller Regel ausreichend, wenn sich dem Urteil entnehmen lässt, dass sich der Tatrichter der Möglichkeit bewusst war, in Ausnahmefällen von dieser Regel abweichen zu können. Hat er konkrete Anhaltspunkte, die ein Absehen von dem Regelfahrverbot rechtfertigen könnten, muss er ihnen nachgehen. Er ist jedoch nicht von sich aus gehalten, die privaten bzw. beruflichen Auswirkungen dieser Maßregel aufzuklären, wenn ihr lediglich mit pauschalen Einwänden entgegen getreten wird.

OLG Oldenburg v. 13.01.2014:
Bei Nichteinhaltung einer verwaltungsrechtlichen Vorschrift über den Abstand bis zur Messstelle kann der Schuldgehalt einer Tat geringer bewertet werden mit der Folge, dass allein die Verwirklichung des Tatbestandes noch keine grobe Verletzung der Pflichten eines Fahrzeugführers darstellt und im Einzelfall daher von einem Regelfahrverbot Abstand genommen werden kann.

AG Landstuhl v. 22.09.2014:
Von einem als Regelfolge anzuordnenden Fahrverbot kann wegen fehlenden Handlungsunwerts abgesehen werden, wenn die Verkennung einer Sonderrechtssituation nach § 35 StVO zu einer Fehleinschätzung führt, die einem Augenblicksversagen ähnlich ist.




OLG Celle v. 26.01.2015:
Liegt der Regelfall eines Fahrverbotes nach § 4 BKatV vor, so bedarf es für eine Ausnahme von der Regel nachvollziehbarer Feststellungen über deren Gründe.

AG Landstuhl v. 11.05.2015:
Der Betroffene kann sich nicht auf die Unverhältnismäßigkeit der Anordnung eines Fahrverbots berufen, wenn er Gelegenheit zur verhältnismäßigen Ableistung des Fahrverbots, z. B. einen Krankenhausaufenthalt oder die Nebensaison seines Arbeitgebers, eigenverantwortlich verstreichen lässt. Der Betroffene darf nicht die Hauptverhandlung abwarten, sondern muss ab Erhalt des Bußgeldbescheides, Vorbereitungen dafür treffen, das Fahrverbot sozialkonform anzutreten (Anschluss an OLG Hamm, Beschluss vom 3. März 2005, 2 Ss OWi 817/04, NZV 2005, 495).

KG Berlin v. 02.10.2015:
Ein Absehen von der Anordnung eines Fahrverbotes kommt nur dann in Betracht, wenn entweder besondere Ausnahmeumstände in der Tat oder in der Persönlichkeit des Betroffenen offensichtlich gegeben sind und deshalb erkennbar nicht der von § 4 BKatV erfasste Normalfall vorliegt oder wenn eine Vielzahl für sich genommen gewöhnlicher und durchschnittlicher Umstände, die in ihrer Gesamtheit eine Ausnahme zu begründen vermögen, oder wenn durch die Anordnung eines Fahrverbots bedingte erhebliche Härten oder gar eine Härte außergewöhnlicher Art eine solche Entscheidung als nicht gerecht erscheinen lassen. Dem tatrichterlichen Beurteilungsspielraum sind jedoch der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit wegen enge Grenzen gesetzt und die gerichtlichen Feststellungen müssen die Annahme eines Ausnahmefalles nachvollziehbar erscheinen lassen.

OLG Bamberg v. 01.12.2015:
Nicht jeder vermeidbare Verbotsirrtum führt 'automatisch' dazu, von einem Regelfahrverbot Ausnahmen zuzulassen. Erforderlich ist stets eine umfassende einzelfallbezogene Abwägung und Gewichtung sämtlicher erkennbarer Umstände und eine hierauf aufbauende Gesamtschau. Denn ein vermeidbarer Verbotsirrtum kann, muss aber den Schuldvorwurf nicht unter allen Umständen mindern. Nur soweit er ihn im Einzelfall wirklich mindert, ist eine entsprechende Milderung geboten. - Die Anerkennung einer Privilegierungswirkung und ihr möglicher Umfang hängen im Falle des vermeidbaren Verbotsirrtums mit Blick auf ein bußgeldrechtliches Fahrverbot entscheidend vom Grad der Vermeidbarkeit für den Betroffenen ab. Die Anerkennung einer Privilegierung hinsichtlich eines an sich verwirkten Fahrverbots, seiner Dauer oder seines Umfangs bedarf daher auch in den Fällen des vermeidbaren Verbotsirrtums regelmäßig ergänzender, dem Tatrichter vorbehaltener Wertungen und demgemäß korrespondierender tatsächlicher Feststellungen, um dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung der Rechtsfolgenentscheidung zu ermöglichen (Anschluss an OLG Karlsruhe NZV 2005, 380 und OLG Stuttgart BeckRS 2012, 09299).

KG Berlin v. 07.12.2015:
Der Tatrichter hat im Urteil die Frage zu erörtern, ob der Betroffene die Dauer des einmonatigen Fahrverbots durch eine Kombination von ihm lediglich zustehendem zweiwöchigem Urlaub und Beschaffung eines Ersatzfahrers auf eigene Kosten für die restliche Zeit überbrücken könnte. Bei entsprechendem Einkommen könnten ihm die durch einen Aushilfsfahrer entstehenden Aufwendungen auch wirtschaftlich zuzumuten sein. Selbst wenn nicht, bedarf es der Darlegung, ob dem Betroffenen dieser Betrag ggf. auch durch die Unterstützung eines Dritten zur Verfügung gestellt werden könnte.

OLG Bamberg v. 28.12.2015:
Ein Absehen von einem wegen eines groben Pflichtenverstoßes an sich verwirkten Regelfahrverbot unter Berufung auf das rechtsstaatliche Übermaßverbot ist nicht schon dann gerechtfertigt, wenn die besondere Härte lediglich mit erwarteten erheblichen Ertrags- oder Gewinneinbußen begründet wird, wenn nicht zugleich konkret aufgezeigt ist, dass diese mit einer drohenden Existenzgefährdung einhergehen. Denn nur dann ist das Tatgericht gehalten, entsprechenden Behauptungen des Betroffenen im Rahmen seiner Amtsaufklärungspflicht weiter nachzugehen.

OLG Bamberg v. 17.01.2017:
Sieht das Tatgericht von der Verhängung eines Regelfahrverbotes wegen eines Härtefalls ab, so stellt es einen sachlich-rechtlichen Fehler dar, wenn die den Härtefall begründenden Feststellungen auf der Einlassung des Betroffenen beruhen, der Tatrichter die Richtigkeit dieser Einlassung aber nicht überprüft hat (Anschluss an OLG Bamberg, Beschlüsse vom 28. Dezember 2015 - 3 Ss OWi 1450/15 = BA 53, 192 [2016] = ZfS 2016, 290 und 22. Juli 2016 - 3 Ss OWi 804/16).

KG Berlin v. 21.08.2018:
In Fällen von grober Pflichtverletzung des Betroffenen ist der Tatrichter gehalten, ein Fahrverbot anzuordnen. Ein Absehen von dieser Anordnung kommt nur dann in Betracht, wenn entweder besondere Ausnahmeumstände in der Tat (z.B. atypischer Rotlichtverstoß wegen Ausschlusses eines Gefahrenlage) oder in der Persönlichkeit des Betroffenen (z.B. Augenblicksversagen beim Rotlichtverstoß) offensichtlich gegeben sind und deshalb erkennbar nicht der von § 4 Abs. 1 BKatV erfasste Normalfall vorliegt.

OLG Bamberg v. 22.01.2019:
Ein Absehen von einem an sich verwirkten Regelfahrverbot sowie die Herabsetzung der Regelgeldbuße wegen Fehlens einschlägiger Vorahndungen ist deshalb verfehlt, weil die in der BKatV vorgesehenen Regelsanktionen gemäß § 3 Abs. 1 BKatV von einen nicht vorgeahndeten Betroffenen ausgehen.

BayObLG v. 06.05.2019:
Dem Opportunitätsgedanken sind insbesondere in den Fällen eines nach der Vorbewertung des Verordnungsgebers über die §§ 24, 25 Abs. 1, 1. Alt., 26a StVG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 Nrn. 1 bis 4 BKatV tatbestandlich einen groben Pflichtenverstoß indizierenden Verstoßes Grenzen gesetzt. Denn die in diesem Bereich ansetzende und von den Rechtsbeschwerdegerichten zu überwachende Bindung der Sanktionspraxis ist Ausdruck einer allgemein anerkannten Anwendungsschranke des Opportunitätsgrundsatzes, nämlich der gerade im Straßenverkehrsrecht anzustrebenden Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer und damit der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit staatlichen Reaktionshandelns, von der nur in begründeten Ausnahmefällen abgewichen werden darf.

KG Berlin v. 13.05.2019:
Von der Anordnung eines Fahrverbots kann nur dann abgesehen werden, wenn der Sachverhalt so erheblich vom Regelfall abweicht und deswegen Ausnahmecharakter hat, dass es eine unangemessene Härte darstellt.

AG Mettmann v. 06.02.2020
Übersieht eine 79-jährige Kfz-Führerin bei einer nicht abgedeckten nicht im Betrieb befindlichen Hauptampel das Rotlicht einer seitlich etwas ungeschickt aufgestellten Baustellenampel, dann kann trotz des durch den Rotlichtverstoß verursachten Unfalls von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen werden.

OLG Hamm v. 06.10.2020:
Die Regelahndung nach der Bußgeldkatalogverordnung geht nicht davon aus, dass der Betroffene vorbelastet ist.

AG Eilenburg v. 30.09.2021:
Soweit (insbesondere voreintragungsfreie) Betroffene in derartigen Fällen mit einer Einspruchsbeschränkung auf die Rechtsfolgen Schuldeinsicht zeigen und hiermit das andernfalls erforderliche Sachverständigengutachten nicht zum Tragen lassen kommen, ist es sachgerecht, sie in "Fahrverbotsfällen" nicht mit der Regelfahrverbotsanordnung zu überziehen, sondern es als verkehrserzieherisch ausreichend zu erachten, die ohne Fahrverbot als tat- und schuldangemessen anzusehende Geldbuße angemessen zu erhöhen.

KG Berlin v. 20.07.2021:
Die Entscheidung, ob trotz Vorliegens eines Regelfalls der konkrete Sachverhalt Ausnahmecharakter hat und deshalb die Verhängung eines Fahrverbots nicht erfordert, muss durch Tatsachen gestützt sein, die sich nicht in einer unkritischen Wiedergabe der Einlassung des Betroffenen erschöpfen darf. Der Tatrichter ist vielmehr gehalten, die Einlassung eines Betroffenen kritisch zu prüfen und gegebenenfalls zu überprüfen.

OLG Hamm v. 17.12.2021:
Soll vom Regelfall der Verhängung eines Fahrverbotes abgesehen werden, so bedarf es wegen der grundsätzlich gebotenen Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer einer besonders eingehenden und sorgfältigen Überprüfung der Einlassung des Betroffenen, um das missbräuchliche Behaupten eines solchen Ausnahmefalls auszuschließen und auch dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung der richtigen Rechtsanwendung zu ermöglichen. Deshalb hat das Amtsgericht eine auf Tatsachen gestützte, besonders eingehende Begründung zu geben, in der es im Einzelnen darlegt, welche besonderen Umstände in objektiver und subjektiver Hinsicht es gerechtfertigt erscheinen lassen, vom Regelfahrverbot abzusehen.

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Kein Absehen bei Fahranfängern:


OLG Bamberg v. 29.11.2010:
Von der Anordnung eines nach den § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG, § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 BKatV i.V.m. lfd. Nr. 248 BKat indizierten Regelfahrverbots gegen einen Kraftfahrzeugführer wegen dessen vorsätzlicher Teilnahme an einem Kraftfahrzeugrennen darf nicht mit der Begründung abgesehen werden, dass sich der Betroffene als Fahranfänger noch in der Probezeit befindet und deshalb wegen der Ordnungswidrigkeit seitens der Fahrerlaubnisbehörde bereits mit empfindlichen Maßnahmen im Rahmen des § 2a StVG, insbesondere mit der Anordnung zur Teilnahme an einem Aufbauseminar und mit der Verlängerung der Probezeit, zu rechnen hat.

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Ehrenamtliche / gemeinnützige Tätigkeit:


AG Dortmund v. 15.11.2019:

  1.  Ehrenamtliche Tätigkeit als Vorsitzender des Vorstands einer gemeinnützigen Stiftung ist nicht geeignet, ein Absehen vom Fahrverbot begründen zu können.
  2.  Dies gilt umso mehr, wenn der Betroffene als Pensionär im öffentlichen Dienst gut abgesichert ist und ihm zudem eine sogenannte Schonfrist nach § 25 Abs. 2a StVG gewährt wird.

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Absehen bei Alkohol-OWi:


Alkohol im Ordnungswidrigkeitenrecht

OLG Hamm v. 23.04.2009:
Soll vom Regelfall der Verhängung eines Fahrverbotes abgesehen werden, so bedarf es wegen der grundsätzlich gebotenen Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer einer besonders eingehenden und sorgfältigen Überprüfung der Einlassung des Betroffenen, um das missbräuchliche Behaupten eines solchen Ausnahmefalls auszuschließen und auch dem Rechtsbeschwerdegericht die Nachprüfung der richtigen Rechtsanwendung zu ermöglichen. Deshalb hat das Amtsgericht eine auf Tatsachen gestützte, besonders eingehende Begründung zu geben, in der es im einzelnen darlegt, welche besonderen Umstände in objektiver und subjektiver Hinsicht es gerechtfertigt erscheinen lassen, vom Regelfahrverbot bei einer Ordnungswidrigkeit wegen einer Trunkenheitsfahrt abzusehen.

OLG Bamberg v. 29.10.2012:
Eine Ausnahme von einem nach §§ 24a Abs. 1 und 3, 25 Abs. 1 Satz 2 StVG i.V.m. § 4 Abs. 3 BKatV verwirkten Regelfahrverbot kann nicht damit begründet werden, dass die in § 24a Abs. 1 StVG genannten Grenzwerte für die bußgeldbewehrte Atemalkohol- oder Blutalkoholkonzentration nur geringfügig überschritten wurden.

OLG Bamberg v. 02.07.2018:

1. Den Gerichten ist in den Fällen des § 24a StVG bei der Entscheidung darüber, ob von einem Fahrverbot im Einzelfall ausnahmsweise abgesehen oder seine Dauer abgekürzt werden kann, ein geringerer Ermessensspielraum als in den Fällen nach § 4 Abs. 1 und § 4 Abs. 2 BKatV eingeräumt. Angesichts des höheren Unrechtsgehalts und der Gefährlichkeit der in Rede stehenden Bußgeldtatbestände versteht sich die grundsätzliche Angemessenheit des Fahrverbots und seiner vorgesehenen Regeldauer von selbst (u.a. Anschluss an OLG Saarbrücken, Beschluss vom 11. April 2002, Ss (B) 13/02 = VRS 102 [2002], 458 = BA 41 [2004], 173; OLG Bamberg, Beschluss vom 29. Oktober 2012, 3 Ss OWi 1374/12 = BA 50 [2013], 27 = OLGSt StVG § 25 Nr 53 und 20. August 2008, 3 Ss OWi 966/08 = BA 45 [2008], 394 = DAR 2009, 39 = OLGSt StVG § 25 Nr 43).

2. In den Fällen des § 24a StVG bleibt das Tatgericht auch dann, wenn schon eine einschlägige Ordnungswidrigkeit entsprechend Nr. 241.1 BKat voreingetragen ist, verpflichtet, sich aus Gründen des rechtsstaatlichen Übermaßverbotes mit den möglichen Folgen eines Fahrverbots oder seiner Dauer für den Betroffenen zu befassen. Gegen das Doppelverwertungsverbots würde verstoßen, wenn allein aus den die qualifizierten Regelfolgen nach Nr. 241.1 BKat begründenden Umständen auf die Unerheblichkeit existentieller Härten für den Betroffenen und damit für eine unterschiedslose Beibehaltung des Fahrverbots oder seiner Regeldauer geschlossen würde (Anschluss an OLG Stuttgart, Beschluss vom 21. Oktober 2013, 5 Ss 337/13 = VM 2014, Nr 9 = BA 51 [2014], 24 = VRS 125 [2013], 166 = NZV 2014, 535).

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Rotlichtverstoß ohne „abstrakte“ Gefährdung:


Absehen vom Fahrverbot - fehlende „abstrakte“ Gefährdung bei qualifiziertem Rotlichtverstoß

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Rotlichtverstoß an Baustellen-Ampel:


BayObLG v. 13.12.2021:
  1.  Nicht jede Missachtung eines Wechsellichtzeichens trotz bereits länger als eine Sekunde andauernder Rotphase stellt eine typische, die Verhängung der erhöhten Geldbuße sowie eines Fahrverbotes nach Nr. 132.3 BKat indizierende Pflichtverletzung dar. Insbesondere im Falle einer einspurigen Verkehrsführung an einer Baustellenampel kann die Indizwirkung des Regelbeispiels entkräftet sein.

  2.  In einem solchen Fall sind im tatrichterlichen Urteil nähere Darlegungen zur Tatörtlichkeit sowie zur konkreten Verkehrssituation erforderlich, die die Beurteilung erlauben, ob das Gewicht der Pflichtverletzung dem Typus des Regelfalles entspricht.

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Geschwindigkeits-Überwachungsgerät LEIVTEC XV3:


Das Messgerät Leivtec

AG Eilenburg v. 25.11.2021:
  1.  Bei Geschwindigkeitsmessungen mit dem hier zum Einsatz gekommenen Messgerät LEIVTEC XV3 kann auch nach der abschließenden Stellungnahme der Physikalisch-Technischen Bundesanstalt vom 9. Juni 2021 nicht mehr von einem standardisierten Messverfahren ausgegangen werden kann.

  2.  Soweit (insbesondere voreintragungsfreie) Betroffene in Fällen ohne Regelfahrverbotsanordnung mit einer Einspruchsbeschränkung auf die Rechtsfolgen Schuldeinsicht zeigen und hiermit das andernfalls erforderliche Sachverständigengutachten nicht zum Tragen lassen kommen, ist es sachgerecht, sie nicht mit der Regelgeldbuße zu überziehen, sondern es als verkehrserzieherisch ausreichend zu erachten, eine Geldbuße unterhalb der Eintragungsgrenze im Fahreignungsregister zu verhängen.

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Keine Urlaubsmöglichkeit:


OLG Hamm v. 24.04.2008:
Das Absehen vom Regelfahrverbot gegen eine drastische Erhöhung des Regelbußgeldes von 250,00 auf 700,00 €, weil dem Betroffenen ein Urlaubsanspruch bislang noch nicht zustehe und er auch im Falle einer Festanstellung in den ersten 6 Monaten keinen Urlaub nehmen könne, muss im einzelnen durch Darlegung der Umstände, weshalb ein Urlaub in angemessener Frist nicht möglich ist, im Urteil dargelegt werden.

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Teilnahme an einem Aufbauseminar:


OLG Bamberg v. 17.03.2008:
Die Teilnahme des Betroffenen an einem Aufbauseminar für Kraftfahrer rechtfertigt für sich allein grundsätzlich nicht das Absehen von einem verwirkten Regelfahrverbot. Eine Ausnahme kann im Einzelfall nur dann gerechtfertigt sein, wenn neben dem Seminarbesuch eine Vielzahl anderer zu Gunsten des Betroffenen sprechender Gesichtspunkte im Rahmen einer wertenden Gesamtschau durch den Tatrichter festgestellt werden können.

OLG Saarbrücken v. 12.02.2013:
Von der Verhängung eines Regelfahrverbots kann allein aufgrund der freiwilligen Teilnahme an einem Aufbauseminar nicht abgesehen werden. Dies ist grundsätzlich nur dann gerechtfertigt, wenn neben dem Seminarbesuch zusätzlich eine Vielzahl anderer, vom Tatrichter festzustellender Gesichtspunkte zu Gunsten des Täters spricht.

AG Traunstein v. 14.11.2013:
Von der Verhängung eines Fahrverbotes kann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn der Betroffene zwischenzeitlich an einem Aufbauseminar für Kraftfahrer gemäß § 4 Abs. 8 StVG teilgenommen hat und er aufgrund deutschlandweiter beruflicher Tätigkeit auf seinen Führerschein angewiesen ist.

OLG Zweibrücken v. 12.05.2017:
Die Rechtsauffassung des Bußgeldrichters, dass die Teilnahme an der verkehrspsychologischen Maßnahme Mobil Plus Prävention - für sich genommen - noch nicht genügt, um von der Verhängung eines Fahrverbots abzusehen, ist rechtlich nicht zu beanstanden.

OLG Bamberg v. 02.01.2018:
Eine auf eigene Kosten erfolgende freiwillige Teilnahme des Betroffenen an einer verkehrspsychologischen Schulung rechtfertigt für sich allein grundsätzlich nicht das Absehen von einem verwirkten bußgeldrechtlichen Fahrverbot. Eine Ausnahme kann auch dann nur in Betracht kommen, wenn daneben eine Vielzahl weiterer zu Gunsten des Betroffenen sprechender Gesichtspunkte festgestellt werden können (u.a. Anschluss an OLG Zweibrücken, Beschl. v. 12. Mai 2017, 1 OWi 2 SsBs 5/17, ZfS 2017, 471).

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Teilabsehen - Dauerverkürzung:


OLG Bamberg v. 18.03.2014:
Die von den Gerichten im Interesse der Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer und der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der durch bestimmte Verkehrsverstöße ausgelösten Rechtsfolgen zu beachtende Vorbewertung des Verordnungsgebers in § 4 Abs. 1 BKatV gilt auch für die Dauer des aufgrund einer groben Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 (1.Alternative) StVG verwirkten Regelfahrverbots.

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Berücksichtigung der Fahrverbotsweisung eines Polizeibeamten:


Weisungen von Polizeibeamten - Befolgungsanordnungen

OLG Zweibrücken v. 20.01.2016:
Eine Anrechnung des von einem Polizeibeamten ausgesprochenen mündlichen Fahrverbots findet in der Vollstreckung nicht statt, § 25 Abs. 6 StVG. Hierzu müsste die Fahrerlaubnis gem. § 111a StPO vorläufig entzogen oder der Führerschein gem. § 94 StPO verwahrt, sichergestellt oder beschlagnahmt werden. - Trotz der Regel des § 25 Abs. 1 Satz 2 StVG kann das AG insbesondere dann, wenn der Betroffene einen Monat oder sogar noch länger von einem wirksamen mündlich ausgesprochenen Fahrverbot ausgegangen sein sollte, von der Anordnung eines Fahrverbots absehen.

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Berufung auf Versagen des Fahrerassistenzsystems:
Autonomes Fahren - Assistenzsysteme

OLG Bamberg v. 06.11.2018:
Macht der Betroffene anlässlich eines ihm vorgeworfenen und mit einem Regelfahrverbot geahndeten Abstandsverstoßes geltend, auf die Funktion eines in seinem Fahrzeug als Bestandteil eines Fahrerassistenz-Pakets verbauten sog. Abstandspiloten vertraut zu haben, ist dies mit der ordnungsgemäßen Erfüllung der Pflichten eines Fahrzeugführers unvereinbar; erst recht scheidet die Anerkennung eines privilegierenden sog. Augenblicksversagens aus.

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Berücksichtigung einer verwaltungsrechtlichen Fahrerlaubnisentziehung:


Entziehung der Fahrerlaubnis - Führerscheinentzug

OLG Frankfurt am Main v. 16.7.2020 :
Wird auf Grund eines Verkehrsverstoßes die Fahrerlaubnis des Betroffenen durch die Verwaltungsbehörde - fälschlicherweise - entzogen, ist deshalb zwar nicht von einem für den Verstoß vorgesehenen Regelfahrverbot abzusehen, jedoch ist die Entziehungszeit auf die Verbüßung des Fahrverbots anzurechnen.

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Keine Notwendigkeit für persönliches Erscheinen für ein Absehen vom Regelfahrverbot:


OLG Hamm v. 01.07.2008:
Die Frage, ob ausnahmsweise von der Verhängung einer Fahrverbotes unter angemessener Erhöhung des Bußgeldes nach § 4 Abs. 4 BkatV abgesehen werden kann, rechtfertigt die Ablehnung eines Entbindungsantrages nicht, weil es dafür grundsätzlich nicht auf den persönlichen Eindruck von dem/der Betroffenen in der Hauptverhandlung ankommt.

KG Berlin v. 06.04.2018:
Hat der von der Verpflichtung des persönlichen Erscheinens entbundene Betroffene den ihn vertretenden Verteidiger nicht über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sowie die tatsächlichen Umstände seiner "Fahrverbotsempfindlichkeit" unterrichtet und kann der Verteidiger demzufolge hierzu in der Hauptverhandlung keine Angaben machen, so verlangt die Amtsaufklärungspflicht (§ 77 Abs. 1 OWiG) nicht, den Betroffenen in einem weiteren Termin dazu zu hören. Vielmehr hat sich der Betroffene durch die mangelnde Instruierung seines Verteidigers der Möglichkeit begeben, fahrverbotsfeindliche Umstände aus dem persönlichen Bereich geltend zu machen.

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Keine Sachentscheidung bei Säumnis des Betroffenen:


OLG Hamm v. 22.08.2011:
Im Falle der Einspruchsverwerfung nach § 74 Abs. 2 OWiG muss der Einspruch zwingend verworfen werden - ein Absehen vom Fahrverbot kann nicht ausgeurteilt werden.

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