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Oberlandesgericht Karlsruhe Beschluss vom 15.10.2020 - 2 Rv 35 Ss 175/20 - Absolute Fahruntüchtigkeit von Pedelec-Fahrern

OLG Karlsruhe v. 15.10.2020: Zur absoluten Fahruntüchtigkeit von Pedelec-Fahrern




Das Oberlandesgericht Karlsruhe (Beschluss vom 15.10.2020 - 2 Rv 35 Ss 175/20) hat entschieden:

  1.  Elektrofahrräder mit Begrenzung der motorunterstützten Geschwindigkeit auf 25 km/h (sog. Pedelecs) sind auch strafrechtlich nicht als Kraftfahrzeuge einzustufen.

  2.  Ein Erfahrungssatz, dass Pedelec-Fahrer unterhalb des für Fahrradfahrer geltenden Grenzwertes von 1,6 Promille Blutalkoholkonzentration absolut fahruntüchtig sind, besteht nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht.

Siehe auch
Elektro-Zweiräder
- Pedelec - Segway - E-Bike - E-Scooter - E-Roller

und
Alkohol - Grenzwerte für die absolute Fahruntauglichkeit

Gründe:


I.

Der Angeklagte wurde von Amts- und Landgericht vom Vorwurf der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr freigesprochen. Nach den im Berufungsurteil des Landgerichts Freiburg getroffenen Feststellungen stieß der Angeklagte am Abend des 9.5.2018 als Fahrer eines Pedelec mit einer auf seinen Fahrweg einbiegenden Fahrradfahrerin zusammen. Bei dem Pedelec handelt es sich um ein Elektrofahrrad mit einem zuschaltbaren Elektromotor mit einer Nenndauerleistung von 250 Watt, der das Fahrrad bis zu einer Geschwindigkeit von 6 km/h ohne Trittunterstützung, darüber bis zu einer Geschwindigkeit bis 25 km/h beim Treten (mit-) antreibt. Nach den weiteren Feststellungen hatte der Angeklagte dabei eine maximale Alkoholkonzentration von 1,59 %o im Blut, ohne dass die vorhandenen Beweise für die Annahme ausreichten, der Angeklagte sei deshalb alkoholbedingt nicht mehr zum Führen des Fahrzeugs in der Lage gewesen. Im Weiteren sind Amts- und Landgericht auf der Grundlage von § 1 Abs. 3 StVG davon ausgegangen, dass Pedelecs nicht als Kraftfahrzeuge einzustufen sind und deshalb bei der Beurteilung der absoluten Fahruntüchtigkeit nicht der für Kraftfahrer geltende Grenzwert von 1,1 %o, sondern der für Fahrradfahrer geltende Grenzwert von 1,6 %o zugrunde zu legen ist. Hiergegen wendet sich die Staatsanwaltschaft Freiburg mit ihrer auf die Sachrüge gestützten Revision, die auch von der Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe vertreten wird.

Die Generalstaatsanwaltschaft Karlsruhe hat deshalb die Aufhebung des Urteils im Rechtsfolgenausspruch mit den Feststellungen, der Verteidiger Verwerfung der Revision beantragt.




II.

Die form- und fristgerecht eingelegte und begründete Revision der Staatsanwaltschaft bleibt erfolglos.

Eine Verurteilung kann weder wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1 und 2 StGB) noch wegen eines Verstoßes gegen § 24a Abs. 1 OWiG erfolgen.




1. Hinsichtlich der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr kommt es für die Entscheidung auf der Grundlage der rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen maßgeblich darauf an, ob - was die Revision bejaht - Führer von Pedelecs bereits ab einer Blutalkoholkonzentration von 1,1 %o absolut fahruntüchtig sind, also auch ohne Hinzutreten weiterer Beweisanzeichen unwiderleglich als zum Führen des Fahrzeugs ungeeignet anzusehen sind. Ein entsprechender Erfahrungssatz besteht indes derzeit nicht.

a. Der für die Führer von Kraftfahrzeugen geltende Grenzwert von 1,1 %o Blutalkoholkonzentration ist schon deshalb nicht auf Pedelecs übertragbar, weil es sich dabei entgegen der von der Revision unter Berufung auf Stimmen in der Literatur (vor allem König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl., § 316 Rn. 17) vertretenen Auffassung auch im strafrechtlichen Sinn nicht um Kraftfahrzeuge handelt.

aa) Dabei steht außer Frage, dass Pedelecs - jedenfalls bei zugeschaltetem Motor - technisch Kraftfahrzeuge sind, weil sie im Geschwindigkeitsbereich bis 25 km/h - unterhalb von 6 km/h auch ohne Tretleistung des Fahrers - durch Maschinenkraft bewegt werden (vgl. § 1 Abs. 2 StVG).

bb) Nach Auffassung des Senats kommt der rechtlichen Ausnahme der Pedelecs vom straßenverkehrsrechtlichen Kraftfahrzeugbegriff in § 1 Abs. 3 StVG indes auch für die Auslegung desselben Begriffes im Strafrecht entscheidende Bedeutung zu.

(1) Dabei verkennt der Senat nicht, dass in § 1 Abs. 3 StVG ausdrücklich bestimmt ist, dass diese Elektrofahrräder keine Kraftfahrzeuge im Sinne dieses Gesetzes, also des Straßenverkehrsgesetzes, sind und Anlass für die Einfügung des § 1 Abs. 3 StVG durch das Gesetz zur Änderung des Güterkraftverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 17.6.2013 (BGBl. I S. 1558) eine Zulassungsfragen betreffende EU-Richtlinie war (BT-Drs. 17/12856 S. 11).

(2) Gleichwohl ist es allgemein anerkannt, dass die Begrifflichkeiten straßenverkehrsrechtlicher Gesetze wegen des gleichen Schutzzwecks, der Verkehrssicherheit, auch bei der Auslegung der den Straßenverkehr betreffenden strafrechtlichen Normen heranzuziehen sind (BGHSt 50, 93, 100 - zum Begriff der Ungeeignetheit; so im Übrigen auch LK-König, StGB, 12. Aufl. 2008, § 315c Rn. 7). Es entspricht deshalb ganz überwiegender Auffassung, dass der Kraftfahrzeugbegriff des Strafgesetzbuches entsprechend der Legaldefinition im Straßenverkehrsgesetz zu bestimmen ist (OLG Rostock NZV 2008, 472; OLG Brandenburg NZV 2008, 474; BayObLG MDR 1993, 1100; LK-Valerius, StGB, 13. Aufl., § 69 Rn. 44; MK-Athing/von Heintschel-Heinegg, StGB, 3. Aufl., § 69 Rn. 30; Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl., § 69 Rn. 13; Lackner/Kühl, StGB, 29. Aufl., § 44 Rn. 3; Ernemann in Satzger/Schluckebier/Widmaier, StGB, 4. Aufl., § 315c Rn. 3; Eschelbach in Matt/Renzikowski, StGB, § 69 Rn. 20).

(3) Dass der Gesetzgeber abweichend hiervon mit der Begrenzung des unmittelbaren Anwendungsbereichs eine Übertragung der Begrifflichkeit des Straßenverkehrsrechts auf das Strafrecht ausschließen wollte, lässt sich auch den Gesetzesmaterialien nicht entnehmen. Vielmehr ist in der Begründung des Entwurfs des Gesetzes vom 17.6.2013 ausgeführt (BT-Drs. 17/12856 S. 11): „Im Zusammenhang mit dem Thema Elektromobilität gewinnen sogenannte Elektrofahrräder im öffentlichen Straßenverkehr zunehmend an Bedeutung. Auf Grund der dynamischen Marktentwicklung und großen Variantenvielfalt besteht oft Unklarheit über die verkehrsrechtliche Einstufung dieser Fahrzeuge und über die daraus resultierenden fahrerlaubnis-, verhaltens- und zulassungsrechtlichen Konsequenzen. Eine Anpassung des § 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) soll Rechtssicherheit bei der verkehrsrechtlichen Einordnung von Elektrofahrrädern schaffen.“ Dieses Regelungsziel und das ausdrückliche Ansprechen der verhaltensrechtlichen Konsequenzen legen eine vereinheitlichende Auslegung des Kraftfahrzeugbegriffs über den eigentlichen gesetzlichen Anwendungsbereich hinaus nahe.



(4) Auch systematische Erwägungen sprechen für dieses Auslegungsergebnis. Denn auch das Straßenverkehrsgesetz enthält in § 24a StVG eine das Führen von Kraftfahrzeugen unter dem Einfluss von Alkohol ahndende Regelung, die nach der insoweit eindeutigen Regelung des § 1 Abs. 3 StVG auf Pedelecs keine Anwendung findet. Den gleichgerichteten Regelungen im Strafgesetzbuch, vor allem § 69 StGB, einen anderen Kraftfahrzeugbegriff zugrundezulegen, erscheint systemwidrig (Kerkmann SVR 2019, 369, 370). Abs. 14 b. Ein Erfahrungssatz, dass Pedelec-Fahrer unterhalb des für Fahrradfahrer geltenden Grenzwertes von 1,6 Promille Blutalkoholkonzentration absolut fahruntüchtig sind, besteht nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht.

Zwar gibt es mehrere Untersuchungen, die darauf hindeuten, dass Pedelecs an ihre Fahrer höhere Anforderungen stellen als an Fahrradfahrer, wobei neben der erzielbaren höheren Geschwindigkeit auch das höhere Gewicht und das durch die Anschubhilfe veränderte Fahrverhalten von Bedeutung sein dürften (vgl. insbesondere Panwinkler/Holz-Rau, Unfallgeschehen von Pedelecs und konventionellen Fahrrädern im Vergleich, Zeitschrift für Verkehrssicherheit 2019, 336; Unfallforschung der Versicherer, Verkehrssicherheit von Elektrofahrrädern, 2017; Schleinitz u.a., Pedelec-Naturalistic Cycling Study, 2014 - im Internet abrufbar über die Homepage des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V.). Allein daraus lässt sich aber nicht der Schluss auf einen bestimmten niedrigeren Grenzwert für Pedelec-Fahrer ziehen (BGHSt 22, 352). Untersuchungen der Auswirkungen des Konsums von Alkohol gerade auf die Leistungsfähigkeit von Pedelec-Fahrern, die zu gesichertem Erfahrungswissen bezüglich der Bestimmung eines Grenzwerts für alkoholbedingte absolute Fahruntüchtigkeit geführt haben, liegen dagegen derzeit noch nicht vor.

2. Da § 24a Abs. 1 StVG das Führen eines Kraftfahrzeugs voraussetzt, Pedelecs nach der Legaldefinition in § 1 Abs. 3 StVG aber nicht als Kraftfahrzeuge im Sinn dieses Gesetzes gelten, scheidet auch insoweit eine Verurteilung aus, weshalb die freisprechende Entscheidung des Landgerichts zu Recht ergangen ist.

III.

Die Kosten- und Auslagenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 467 Abs. 1 StPO.

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