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BayObLG Beschluss vom 19.01.2021 - 202 ObOWi 1728/20 - Fahrverbot wegen Rufbereitschaft eines in Notaufnahme tätigen Arztes

BayObLG v. 19.01.2021: Kein Absehen von Regelfahrverbot wegen Rufbereitschaft eines in Notaufnahme tätigen Arztes




Das BayObLG (Beschluss vom 19.01.2021 - 202 ObOWi 1728/20) hat entschieden:

  1.  Allein die mit nächtlicher Rufbereitschaft an Wochenenden und im Urlaub verbundene leitende ärztliche Funktion in der zentralen Notaufnahme eines Klinikums mit Schwerpunktversorgung rechtfertigt ein Absehen von einem bußgeldrechtlichen Regelfahrverbot oder sonstige Fahrverbotsprivilegierungen als im „überwiegenden öffentlichen Interesse“ liegend auch dann nicht, wenn der oder die Betroffene daneben im Notarztdienst engagiert und zur Gewährleistung der Einsatzbereitschaft und zur beruflichen Pflichtenerfüllung auf eine private Kraftfahrzeugnutzung angewiesen ist.

  2.  Wird ein Absehen von einem an sich verwirkten Fahrverbot mit der Angewiesenheit auf die Kraftfahrzeugnutzung zur Erreichung des Arbeitsplatzes begründet, müssen sich die Urteilsgründe auch dazu verhalten, warum der oder die Betroffene nicht darauf verwiesen werden kann, vorübergehend eine angemessene Unterkunft in Arbeitsplatznähe anzumieten (Anschluss an OLG Bamberg, Beschl. v. 18.03.2009 – 3 Ss OWi 196/09 = DAR 2009, 401 = VerkMitt 2009, Nr 63 = OLGSt StVG § 25 Nr 46).



Siehe auch
Absehen vom Fahrverbot bei bestimmten Berufen?
und
Stichwörter zum Thema Fahrverbot

Gründe:


I.

Mit Urteil vom 01.10.2020 hat das Amtsgericht gegen den Betroffenen, einen als stellvertretender Leiter der zentralen Notaufnahme eines Klinikums tätigen Arzt, wegen einer am 02.03.2020 als Führer eines Pkw fahrlässig begangenen Überschreitung der innerhalb geschlossener Ortschaften zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h um 33 km/h eine gegenüber lfd. Nr. 11.3.6 der Tabelle 1c zum BKat in der zur Tatzeit gültigen - für innerörtliche Verstöße durch die am 28.04.2020 in Kraft getretene Neufassung vom 20.04.2020 (BGBl. 2020 I, 814) nicht geänderten - Fassung eine über § 4 Abs. 4 BKatV verdreifachte Geldbuße von 480 Euro festgesetzt. Von der Anordnung eines im Bußgeldbescheid vom 18.03.2020 neben einer dort festgesetzten Geldbuße in Höhe vom 320 Euro vorgesehenen einmonatigen Fahrverbots hat es abgesehen. Mit ihrer gegen dieses Urteil zu Ungunsten des Betroffenen eingelegten und von der Generalstaatsanwaltschaft vertretenen, ausweislich der Rechtsmittelrechtfertigung vom 04.11.2020 auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkten Rechtsbeschwerde beanstandet die Staatsanwaltschaft mit der Sachrüge, dass das Amtsgericht von der Anordnung eines Fahrverbots wegen eines groben Pflichtenverstoßes abgesehen hat. Die Stellungnahme des Verteidigers des Betroffenen vom 12.01.2021 zur Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft vom 11.12.2020 lag dem Senat vor.





II.

Das gemäß § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 OWiG statthafte und auch im Übrigen zulässige, wegen der wirksamen Beschränkung der Rechtsbeschwerde allein noch den Rechtsfolgenausspruch betreffende Rechtsmittel führt auf die Sachrüge hin zu den aus Ziffer I. des Beschlusstenors ersichtlichen Abänderungen des angefochtenen Urteils erster Instanz, weil die Begründung, mit der das Amtsgericht von der Anordnung eines Fahrverbots abgesehen hat, einer rechtlichen Überprüfung nicht standhält.

1. Zwar hat das Amtsgericht nicht verkannt hat, dass wegen der Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit innerhalb geschlossener Ortschaften um 33 km/h gemäß §§ 24, 25 Abs. 1 Satz 1 [1. Alt.] StVG, § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV i.V.m. lfd. Nr. 11.3.6 der Tabelle 1c zum BKat an sich die Anordnung eines Fahrverbots wegen grober Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers in der Regel in Betracht kam. Jedoch zeigen die Feststellungen und Erwägungen des Amtsgerichts weder in objektiver noch in subjektiver Hinsicht Besonderheiten derart auf, die ausnahmsweise das Absehen von einem Fahrverbot rechtfertigen könnten.

a) Aus § 4 Abs. 1 Satz 1 BKatV folgt nicht, dass in den dort genannten Fällen ausnahmslos ein Fahrverbot zu verhängen ist. Vielmehr steht dem Tatrichter ein Ermessensspielraum zu, um Verstößen im Straßenverkehr mit der im Einzelfall angemessenen Sanktion zu begegnen. Die Frage, ob die Würdigung der Tat und der Persönlichkeit des Betroffenen besondere Umstände ergibt, nach denen es ausnahmsweise der Warn- und Denkzettelfunktion eines Fahrverbots im Einzelfall nicht bedarf, liegt grundsätzlich in seinem Verantwortungsbereich. Der Tatrichter hat innerhalb des ihm eingeräumten Bewertungsspielraums die Wertungen nach eigenem pflichtgemäßem Ermessen zu treffen. Seine Entscheidung kann vom Rechtsbeschwerdegericht deshalb nur daraufhin überprüft werden, ob er sein Ermessen deshalb fehlerhaft ausgeübt hat, weil er die anzuwendenden Rechtsbegriffe verkannt, die Grenzen des Ermessens durch unzulässige Erwägungen überschritten und sich nicht nach den Grundsätzen und Wertmaßstäben des Gesetzes gerichtet hat. In Zweifelsfällen hat das Rechtsbeschwerdegericht die Bewertung des Tatrichters zu respektieren, und zwar auch dann, wenn es selbst hinsichtlich der Frage des Fahrverbots zu einem abweichenden Ergebnis gelangte.

b) Andererseits ist nach ständiger obergerichtlicher Rechtsprechung die Vorbewertung des Verordnungsgebers, der in § 4 Abs. 1 Satz 1 BKatV bestimmte Verhaltensweisen als grobe Pflichtverletzungen ansieht, bei denen regelmäßig die Anordnung eines Fahrverbots in Betracht kommt, von den Gerichten zu beachten. Entsprechend der Intention des Verordnungsgebers wird deshalb grundsätzlich - auch soweit der Tatbestand des § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BKatV i.V.m. lfd. Nr. 11.3.6 der Tabelle 1c zum BKat erfüllt ist - das Vorliegen eines groben Verstoßes im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG indiziert, so dass es regelmäßig der Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme eines Fahrverbots bedarf.


c) Diese durch den Verordnungsgeber gewollte ‚Bindung’ der Sanktionspraxis der Tatgerichte dient nicht zuletzt der Gleichbehandlung der Verkehrsteilnehmer und der Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit der tagtäglich durch eine Vielzahl von Verkehrsverstößen ausgelösten Rechtsfolgen. Zu diesen zählt deshalb auch nicht nur die Frage, ob gegen einen Betroffenen überhaupt ein Fahrverbot zu verhängen ist (§ 4 Abs. 1 Satz 1 BKatV), sondern auch, wie sich aus § 4 Abs. 1 Satz 2 BKatV ergibt, die "in der Regel" festzusetzende Dauer des aufgrund einer groben Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers im Sinne von § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG verwirkten Fahrverbots und auch, ob im Einzelfall von der Möglichkeit einer nach § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG vorgesehenen Fahrverbotsbeschränkung auf bestimmte Fahrzeugarten als gesetzlicher Ausdruck des rechtsstaatlichen Übermaßverbotes Gebrauch gemacht werden kann. Vor diesem Hintergrund ergibt sich, dass schon im Interesse der Anwendungsgleichheit Mindeststandards gerade dann beachtet werden müssen, wenn der berechtigten ‚Ausnahme’ - insbesondere durch ein gänzliches Absehen von einem an sich verwirkten Regelfahrverbot - in nachvollziehbarer Art und Weise Geltung verschafft werden soll (zu den insoweit anzulegenden Maßstäben vgl. zuletzt z.B. BayObLG, Beschluss vom 27.04.2020 - 202 ObOWi 492/20 = NJW 2020, 3539 = Blutalkohol 57 [2020], 227 = VerkMitt 2020, Nr 55 m.w.N.).

2. Gründe dieser Art zeigen die Feststellungen des Amtsgerichts - wie die Generalstaatsanwaltschaft zutreffend feststellt - nicht auf:

a) Allerdings hat das Amtsgericht die berufliche Angewiesenheit des Betroffenen auf eine persönliche Fahrzeugnutzung im Rahmen seiner "grundsätzlichen Rufbereitschaft auch am Wochenende, abends oder im Urlaub" und sein daneben bestehendes Engagement im Rahmen des Notarztdienstes zu Recht in seinen Abwägungsvorgang mit einbezogen. Denn es steht außer Frage, dass der Betroffene unter den gegebenen Umständen durch ein Fahrverbot empfindlich jedenfalls in seiner gewohnten Berufsausübung berührt wird.




b) Andererseits konnten bereits im Urteilszeitpunkt auch diese mitunter "zeitkritischen" Umstände des auf "Mobilität und Flexibilität" angewiesenen ärztlichen Einsatzes auch unter Berücksichtigung der "Gesamtsituation der zentralen Notaufnahme" ein Absehen von dem durch den groben Pflichtenverstoß verwirkten Regelfahrverbot ersichtlich nicht rechtfertigen.

aa) Der seine wirtschaftlichen Verhältnisse selbst als "geordnet" bezeichnende Betroffene wird in seiner Existenzgrundlage angesichts der nach den Urteilsgründen sogar als "deutlich überdurchschnittlich" festgestellten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit durch ein Fahrverbot gerade nicht in unverhältnismäßiger oder gar in existenziell bedrohlicher Weise betroffen.

bb) Auch sonst ist nichts dafür erkennbar, dass - wie in unzähligen vergleichbaren Fällen nichtärztlicher Berufsausübung - tatsächlich keine nahe liegenden Möglichkeiten bestehen sollten, für die nur begrenzte Fahrverbotsdauer zur Wahrnehmung der Einsatzbereitschaft und zur Gewährleistung der beruflichen Pflichten durch organisatorische Maßnahmen und die Inanspruchnahme Dritter in wirtschaftlich vertretbarer Weise Abhilfe zu schaffen, mag hierzu auch ein vorübergehend erhöhter, jedoch letztlich alltäglicher Aufwand unumgänglich sein. Auch verhält sich das Amtsgericht nicht dazu, warum der Betroffene nicht darauf verwiesen werden kann, für nur vorübergehende Zeit ein Zimmer in unmittelbarer Arbeitsplatznähe anzumieten. Die hierfür anfallenden Aufwendungen sind unter dem Gesichtspunkt des Übermaßverbotes schon deshalb als grundsätzlich zumutbar anzusehen, weil ihnen die ersparten Aufwendungen für die private Fahrzeugnutzung gegenüber zu stellen sind (vgl. schon OLG Bamberg, Beschluss vom 18.03.2009 - 3 Ss OWi 196/09 = DAR 2009, 401 = VerkMitt 2009, Nr 63 = OLGSt StVG § 25 Nr 46).

cc) Weitere besondere Umstände dafür, dass der Betroffene durch ein Fahrverbot etwa einer ausweglosen Situation gegenüber stünde, sind ebenso wenig ersichtlich wie ein Zusammenbruch der ärztlichen Notversorgung der betreffenden zentralen Notaufnahme eines Krankenhauses mit Schwerpunktversorgung.

3. Nach alledem durfte "unter Berücksichtigung aller Gesamtumstände aufgrund eines überwiegenden öffentlichen Interesses" auch in Verbindung mit der hinsichtlich des äußeren Tatgeschehens geständigen und einsichtigen Einlassung des Betroffenen und einer gegebenenfalls deshalb vertretbaren günstigen Prognose hinsichtlich des künftigen Verkehrsverhaltens vom verwirkten Fahrverbot nicht abgesehen werden.




III.

Der Senat kann in der Sache selbst entscheiden, so dass es einer Zurückverweisung an das Amtsgericht nicht mehr bedarf. Neben der bereits im Bußgeldbescheid festgesetzten angemessenen Geldbuße in Höhe von 360 Euro ist deshalb gegen den Betroffenen ein mit der Vollstreckungserleichterung nach § 25 Abs. 2a Satz 1 StVG (sog. Vier-Monats-Regel) verbundenes Regelfahrverbot für die Dauer eines Monats anzuordnen (§ 25 Abs. 1 Satz 1 StVG). Weitere Umstände, die es gebieten könnten, von dieser Regelfolge ausnahmsweise abzuweichen, oder die die Annahme rechtfertigen könnten, der Zweck des Fahrverbots könnte (doch) allein mit einer - gegebenenfalls weiter erhöhten - Geldbuße erreicht werden, liegen nicht vor.

IV.

Auf die nur noch den Rechtsfolgenausspruch betreffende Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft ist deshalb das angefochtene Urteil des Amtsgerichts - wie geschehen - abzuändern.

V.

Der Senat entscheidet gemäß § 79 Abs. 5 Satz 1 OWiG durch Beschluss.

Der Beschluss wird mit Ablauf des Tages seines Erlasses rechtskräftig (§ 34 a StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG).

VI.

Nach § 465 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. § 46 Abs. 1 OWiG hat der Betroffene die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens zu tragen. VII.

Gemäß § 80 a Abs. 1 OWiG entscheidet der Einzelrichter.

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