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Oberlandesgericht Stuttgart Beschluss vom 22.10.2021 - 1 Ws 153/21 - Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis sechzehn Monate nach Tatbegehung

OLG Stuttgart v. 22.10.2021: Vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis sechzehn Monate nach Tatbegehung




Das Oberlandesgericht Stuttgart (Beschluss vom 22.10.2021 - 1 Ws 153/21) hat entschieden:

  1.  xxx

  2.  xxx

  1.  Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis kann im Einzelfall auch sechzehn Monate nach Tatbegehung verhältnismäßig sein.

  2.  Resultiert die Verfahrensverzögerung aus der Sphäre der Verteidigung bzw. des Angeklagten, ist dies bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer erst später vorgenommenen Maßnahme nach § 111a StPO zu berücksichtigen.

  3.  Zum Grundsatz „Einfach Abwarten und Bestreiten“ als effektive Verteidigung“ bei drohendem Fahrerlaubnisentzug.


Siehe auch
Zeitablauf seit der Tat und Fortdauer der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis
und
Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren


Gründe:


I.

Mit Beschluss vom 30. August 2021 hat das Landgericht Stuttgart – 32. kleine Strafkammer – dem Angeklagten die Fahrerlaubnis nach § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO vorläufig entzogen. Dagegen hat der Angeklagte über seinen Verteidiger am 27. September 2021 Beschwerde einlegen lassen. Das Landgericht hat dieser nicht abgeholfen.

II.

Die Beschwerde ist zulässig, aber unbegründet.

1. Die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis setzt gemäß § 111a Abs. 1 Satz 1 StPO voraus, dass dringende Gründe für die Annahme vorhanden sind, die Fahrerlaubnis werde gemäß § 69 StGB entzogen werden. Das ist hier gemäß §§ 69 Abs. 2 Nr. 3, 142 StGB der Fall.

Der Angeklagte wurde wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort vom Amtsgericht Ludwigsburg am 25. März 2021 zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen zu je 80 € verurteilt. Ferner ordnete das Amtsgericht im Urteil die Entziehung der Fahrerlaubnis, die Einziehung des Führerscheins und eine Sperre für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis von acht Monaten an. Angeklagter und Staatsanwaltschaft haben gegen das Urteil Berufung eingelegt. Die Tat soll am 4. Juni 2020 in Ludwigsburg begangen worden sein, der Schaden etwa 3.000 € betragen. Der dringende Verdacht einer verkehrsspezifischen Anlasstat liegt damit vor. Die Regelwirkung ist nicht widerlegt. Im Übrigen wird zur Vermeidung von Wiederholungen auf die zutreffenden Gründe des landgerichtlichen Beschlusses verwiesen, auf die der Senat nach eigener Prüfung Bezug nimmt.




2. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist – auch in Anbetracht des Zeitablaufs – gewahrt. Eine Fahrerlaubnis kann mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Tatgeschehen noch (vorläufig) entzogen werden, wenn nach einer sorgfältigen, am Einzelfall orientierten Abwägung das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs und der Schutz der Allgemeinheit das Interesse des Fahrerlaubnisinhabers an der uneingeschränkten Nutzung seiner Fahrerlaubnis überwiegt (vgl. KG Berlin, Beschluss vom 1. April 2011, – 3 Ws 153/11 –, juris).

a) Der Senat verkennt dabei nicht, dass seit der vorgeworfenen Tat fast sechzehn Monate und seit dem erstinstanzlichen Urteil nunmehr sieben Monate vergangen sind. Er hat bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit auch die von der Verteidigung vorgebrachte Rechtsprechung der Landgerichte Ravensburg, Saarbrücken und Koblenz berücksichtigt, die in den dortigen Einzelfällen bei sechs, acht bzw. neun Monaten Zeitablauf die Entziehung der Fahrerlaubnis als unverhältnismäßig beurteilen (vgl. LG Ravensburg, Beschluss vom 22. Mai 1995 – 1 Qs 139/95 –; LG Saarbrücken, Beschluss vom 15. März 2007 – 3 Qs 70/07 – und LG Koblenz, Beschluss vom 10. Oktober 2017 – 3 Qs 84/17 –; jeweils juris).

Doch rechtfertigt der bloße bisherige Zeitablauf nicht zwangsläufig die Annahme, der durch die Tatbegehung indizierte Eignungsmangel sei im Zeitpunkt der tatrichterlichen Entscheidung entfallen (so auch OLG Koblenz, Beschluss vom 10. Oktober 2007 – 1 Ws 513/07 –, NZV 2008, 47 f., beck-online; ähnlich KG Berlin, Beschluss vom 8. Februar 2017, – 3 Ws 39/17 –, juris). Auch das Bundesverfassungsgericht hat keine verfassungsrechtlichen Bedenken, wenn bei der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis nach § 111a StPO im Einzelfall der Sicherheit des Straßenverkehrs der Vorrang gegenüber dem eingetretenen Zeitablauf und der bei der Staatsanwaltschaft zu beobachtenden Verfahrensverzögerung eingeräumt wird (vgl. BVerfG, Beschluss vom 15. März 2005 – 2 BvR 364/05 –, NJW 2005, 1767 ff., beck-online).

b) Dieser Grundsatz gilt umso mehr, wenn die eingetretene Verfahrensverzögerung nicht auf Seiten der Staatsanwaltschaft oder der Gerichte, sondern in der Sphäre des Angeklagten und seines Verteidigers zu beobachten ist. Zwar stellt § 111a StPO eine vorläufige Maßnahme zur Sicherheit des Straßenverkehrs dar, weswegen der Zeitablauf selbstredend nicht unendlich sein kann. Liegt die Verantwortung für einen überschaubaren Zeitablauf von sechzehn Monaten jedoch auch in der Sphäre des Angeklagten und der Verteidigung, so kann und muss dieser Umstand bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer späteren Maßnahme nach § 111a StPO Berücksichtigung finden. Ein etwaiger Vertrauensschutz bezüglich der im bisherigen Verfahren unterbliebenen vorläufigen Entziehung wiegt nicht so schwer, als dass die angefochtene Entscheidung ermessensfehlerhaft erscheint (so auch KG Berlin, Beschluss vom 8. Februar 2017, – 3 Ws 39/17 –; juris). Vielmehr kann ein Angeklagter kein hinreichend schutzwürdiges Vertrauen auf den (vorläufigen) Erhalt der Fahrerlaubnis gründen, wenn er selbst durch sein Prozessverhalten zu einer Verfahrensverzögerung beigetragen hat.


Zentral ist dabei eine sorgfältige, am Einzelfall orientierte Abwägung der von § 111a StPO geschützten Rechtsgüter mit dem Grundsatz der effektiven Verteidigung nach Art. 6 Abs. 3 EMRK. Eine zulässige Verteidigung darf sich im Ergebnis nicht zum Nachteil des Angeklagten auswirken. Zugleich ist aber ein einfaches „Abwarten und Bestreiten“ nicht immer zielführend (vgl. hierzu auch Gübner/Krumm, Verteidigungsstrategien bei drohender Fahrerlaubnisentziehung, NJW 2007, 2801 ff., beck-online).

c) Im vorliegenden Fall verlief das bisherige Prozessgeschehen auffallend schleppend, obwohl sowohl die Ermittlungsbehörden als auch die Gerichte das Verfahren am Beschleunigungsgrundsatz orientiert betrieben und gefördert haben. Die Verfahrensverzögerung ist demgegenüber in der Sphäre des Angeklagten und der Verteidigung entstanden. Dabei ist wesentlich, dass nicht die einzelnen Punkte an sich, wohl aber die Gesamtschau der Vorkommnisse zu einer beachtlichen Verfahrensverzögerung geführt haben.

Im Einzelnen:

Der ursprüngliche Strafbefehl wurde am 14. Dezember 2020 erlassen und am 17. Dezember 2020 an die Meldeadresse in B. zugestellt. Er war bereits rechtskräftig geworden, bis der Angeklagte im Rahmen des an eine verworfene Wiedereinsetzung sich anschließendes Beschwerdeverfahren auf einen „Zweitwohnsitz“ in S. aufmerksam machte. Auch fortan konnte keine Zustellung in angemessener und üblicher Zeit erfolgen, da trotz mehrfacher Einwohnermeldeamtsanfragen der Angeklagte fortwährend verschiedene Meldeadressen in B. und S. geltend machte. Dies führte zwischenzeitlich zu einer Doppelzustellung der Beschlüsse.




Bei der Terminierung folgten weitere Verfahrensverzögerungen: Auf Antrag der Verteidigung wurde die erstinstanzlich terminierte Verhandlung auf einen späteren Zeitpunkt verlegt. Das Empfangsbekenntnis des Verteidigers zur zweitinstanzlich terminierten Verhandlung kam nicht in den Rücklauf.

Die Berufungshauptverhandlung am 26. Juli 2021 konnte nicht durchgeführt werden. Der Verteidiger trug insoweit – trotz vorheriger Terminsabstimmung – vor, nicht erscheinen zu können. Seine gegen die Terminierung erhobene Beschwerde zum Oberlandesgericht Stuttgart blieb ebenso erfolglos (1 Ws 118/21) wie sein Befangenheitsantrag gegen die Vorsitzende Richterin wegen Nichtverlegung des Termins. Das diskrepante Verhalten des Verteidigers setzte sich fort, indem er dann zum Termin entgegen seines Vortrags, verhindert zu sein, doch erscheinen konnte.

Die Durchführung des zweitinstanzlichen Termins scheiterte dann jedoch an dem Fernbleiben des Angeklagten. Dieser begab sich am Morgen des Verhandlungstags nicht pflichtgemäß zum Gericht, sondern stellte sich zehn Minuten nach Verhandlungsbeginn einem ihm bis dato völlig unbekannten Arzt vor. Der Angeklagte machte „Durchfall“ geltend, da er Eier gegessen habe. Der Arzt konstatierte, dass der Gesundheitszustand des Angeklagten für eine etwaige Infektion mit Salmonellen zu gut sei. Dem Begehren des Angeklagten, dass er ein Attest für eine Verhandlungsunfähigkeit benötigen würde, kam der Arzt schließlich für einen Tag nach.

Hinsichtlich eines neuen von Seiten der Vorsitzenden der Berufungskammer vorgeschlagenen Termins haben weder der Angeklagte noch der Verteidiger auf die möglichen Verfügbarkeiten eines geeigneten Sachverständigen reagiert, was erneut zu einer Verfahrensverzögerung geführt hat.

Diese einzelnen Verzögerungsaspekte wären für sich genommen jeweils unerheblich, in ihrer Gesamtschau führen sie jedoch zu einem erheblichen Zeitablauf, der aus der Sphäre des Angeklagten und seines Verteidigers resultiert. Der Angeklagte konnte daher kein schützenswertes Vertrauen auf den (vorläufigen) Erhalt der Fahrerlaubnis bilden. Der Grundsatz einer effektiven Verteidigung führt insoweit zu keiner anderen Betrachtungsweise. Im Gegenteil: Berücksichtigt man, dass der Angeklagte in der nun vergangenen Zeit sechzehn Monate lang die jederzeitige Entziehung seiner Fahrerlaubnis befürchten musste, jedoch die ursprünglich vorgesehenen acht Monate Sperrzeit zwischenzeitlich bereits zweimal abgelaufen gewesen wäre, ist darüber nachzudenken, ob eine Verfahrens-verzögerung durch „Abwarten und Bestreiten“ zielführend ist.

Die (vorläufige) Entziehung der Fahrerlaubnis ist daher auch in Anbetracht des Zeitablaufs verhältnismäßig.

d) Die Sicherheit des Straßenverkehrs ist beeinträchtigt.



Der Zeitablauf führt nicht nur zur einer besonders sorgfältigen Prüfung, ob dem Angeklagten nun unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten noch die Fahrerlaubnis (vorläufig) entzogen werden kann. In die Abwägungsentscheidung muss vielmehr bei Verfahrensverzögerungen auch einfließen, dass nunmehr die Sicherheit des Straßenverkehrs durch den mit der Tatbegehung indizierten Eignungsmangel seit ebenso langer Zeit – hier also seit sechzehn Monaten –beeinträchtigt ist. Zieht sich das Verfahren noch länger hin, wird die aus dem Eignungsmangel resultierende Gefährdungslage für den Straßenverkehr nicht weniger, sondern durch das schiere Fortdauern der Gefährdungslage noch intensiviert. Dies zeigt sich im vorliegenden Fall auch daran, dass der Angeklagte keineswegs – wie von der Verteidigung behauptet – seit der vorgeworfenen Tat beanstandungsfrei sein Fahrzeug im Straßenverkehr geführt hat. Vielmehr musste zwischenzeitlich gegen den Angeklagten bereits zweimal wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit ein Fahrverbot von jeweils einem Monat verhängt werden. Einer dieser Verkehrsordnungswidrigkeiten lag ein Geschwindigkeits-verstoß zugrunde, den der Angeklagte am 20. Juli 2020, mithin gerade mal sechs Wochen nach der vorgeworfenen Tat vom 4. Juni 2020 begangen hat.

Der Schutz der Allgemeinheit vor Gefahren durch ungeeignete Kraftfahrer gebietet daher nun dringend die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis.

e) Allem nach erweist sich die vorläufige Entziehung der Fahrerlaubnis daher als nicht rechtsfehlerhaft. Die Beschwerde ist unbegründet.

3. Der Angeklagte wird darauf hingewiesen, dass er keine fahrerlaubnispflichtigen Kraftfahrzeuge mehr führen darf. Dies gilt auch, wenn er noch im Besitz des Führerscheins ist. Sollte er dennoch ein Kraftfahrzeug führen, macht er sich gemäß § 21 StVG strafbar. Der Führerschein muss unverzüglich in amtliche Verwahrung abgegeben werden.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 Satz 1 StPO.

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