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Oberlandesgericht Frankfurt am Main Beschluss vom 26.04.2022 - 3 Ss-OWi 415/22 - Absehen vom Fahrverbot wegen beruflicher Gründe

OLG Frankfurt am Main v. 26.04.2022: Zum Absehen vom Fahrverbot wegen beruflicher Gründe




Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Beschluss vom 26.04.2022 - 3 Ss-OWi 415/22) hat entschieden:

  1.  Die Erfüllung des Tatbestandes des § 4 Abs. 1 in Verbindung mit Nr. 11.3.7 BKatV indiziert einen Pflichtverstoß im Sinne des § 25 Abs. 1 S. 1 StVG, was regelmäßig die Verhängung eines Fahrverbotes zur Folge hat.

  2.  Nur dann, wenn der Sachverhalt durch wesentliche Besonderheiten gekennzeichnet ist, die für den Betroffenen persönlich eine außergewöhnliche Härte darstellen, kann von der Verhängung eines Fahrverbotes abgesehen werden.

  3.  Der Verlust des Arbeitsplatzes sowie ein drohender Existenzverlust des Betroffenen können im Einzelfall eine unverhältnismäßige Härte darstellen und eine Ausnahme von der Verhängung eines Fahrverbotes rechtfertigen.

  4.  Die Annahme eines Ausnahmefalles bedarf jedoch einer ausführlichen Begründung sowie einer Darlegung der dieser Entscheidung zugrundeliegenden Tatsachen durch das Tatgericht; die kritiklose Übernahme der Einlassung des Betroffenen oder bloße Vermutungen seitens des Tatgerichtes genügen diesen Anforderungen nicht.


Siehe auch
Absehen vom Fahrverbot wegen Existenzgefährdung oder drohendem Verlust des Arbeitsplatzes
und
Stichwörter zum Thema Fahrverbot


Gründe:


I.

Das Regierungspräsidium Kassel hat mit Bußgeldbescheid vom 03.05.2021 gegen den Betroffenen eine Geldbuße in Höhe von 160,00 Euro wegen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 43 km/h festgesetzt und - verbunden mit einer Anordnung gem. § 25 Abs. 2a StVG - ein Fahrverbot von einem Monat verhängt.

Auf seinen Einspruch hin hat das Amtsgericht Wiesbaden gegen den Betroffenen mit Urteil vom 25.11.2021 wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften um 43 km/h eine Geldbuße von 320,00 Euro festgesetzt.

Nach den Feststellungen des Amtsgerichts Wiesbaden ist der

   "Betroffene [...] am XX.XX.1985 geboren. Er ist verheiratet und (...) Staatsangehöriger. Er ist Berufskraftfahrer. Seine wirtschaftlichen Verhältnisse sind geordnet. Er verdient 2.300 € netto monatlich und hat zwei Kinder im Alter von ... und ... Jahren. Der Betroffene arbeitet erst seit dem 01.10.2021 bei seinem aktuellen Arbeitgeber und befindet sich noch in der Probezeit, sodass er ohne Begründung gekündigt werden kann, was zu befürchten ist, wenn gegen ihn ein Fahrverbot festgesetzt wird. Das Fahreignungsregister enthält keine Eintragungen zu Lasten des Betroffenen.

Der Betroffene befuhr am 02.04.2021 um 09:17Uhr in Stadt1 mit dem Pkw mit dem amtlichen Kennzeichen ... die A ..., km 150,357, in Fahrtrichtung Stadt2. Die an dieser Stelle zulässige Höchstgeschwindigkeit betrug 100km/h, angeordnet durch Verkehrszeichen 274.

Infolge von Unachtsamkeit überschritt der Betroffene die zulässige Höchstgeschwindigkeit um 43 km/h. Statt der erlaubten 100 km/h fuhr er mindestens 143 km/h. [...]."




Zur Begründung des Rechtsfolgenausspruchs führt das Amtsgericht aus:

   "Der Bußgeldkatalog sieht für Verstöße wie den vorliegenden eine Regelgeldbuße von 160 € und ein einmonatiges Regelfahrverbot vor. Wird von der Anordnung eines Fahrverbots ausnahmsweise abgesehen, so soll das für den betreffenden Tatbestand als Regelsatz vorgesehene Bußgeld angemessen erhöht werden, § 4 Abs. 4 BKatV. Von vorstehend genannter Möglichkeit wurde vorliegend Gebrauch gemacht. Statt ein Fahrverbot zu verhängen, wurde die Regelgeldbuße vorliegend auf 320 € erhöht und somit verdoppelt. Das ausnahmsweise Absehen vom Fahrverbot beruht auf den unter I. aufgeführten Erwägungen zur beruflichen Tätigkeit des Betroffenen und zu seiner in diesem Zusammenhang noch bestehenden Probezeit. Da der Betroffene in der derzeit laufenden Probezeit ohne nähere Begründung des Arbeitgebers und ohne wesentliche rechtliche Hürden entlassen werden kann und in der Probezeit in der Regel kein Urlaub genommen werden darf, stellt das vorliegend grundsätzlich vorgesehene Regelfahrverbot eine besondere Härte für den Betroffenen dar, die insbesondere vor dem Hintergrund, dass es sich bei dem Betroffenen um einen Ersttäter handelt, unverhältnismäßig ist."

Gegen dieses Urteil richtet sich die nach § 79 Abs.1 S.1 Nr. 3 OWiG statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und ebenso mit der Sachrüge begründete Rechtsbeschwerde der Staatsanwaltschaft Wiesbaden, welcher die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt am Main beigetreten ist. Die Rechtsbeschwerde wendet sich gegen die Nichtanordnung eines Fahrverbots und damit gegen den Rechtsfolgenausspruch.




II.

Die Rechtsbeschwerde ist zulässig und begründet.

1. Das Urteil hält sachlich-rechtlicher Überprüfung nicht stand. Das Amtsgericht Wiesbaden hat ohne tragfähige Begründung auf der Rechtsfolgenseite von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen. Aus den tatrichterlichen Feststellungen ergeben sich die Voraussetzungen für das Absehen von einem Fahrverbot nicht hinreichend.

a) Das Rechtsbeschwerdegericht hat auf die Sachrüge hin zu überprüfen, ob die getroffenen Urteilsfeststellungen eine tragfähige Grundlage für die sachliche Rechtsanwendung bilden. Erfüllen die Feststellungen diese Anforderungen nicht, weil sie lückenhaft, widersprüchlich oder auf andere Weise unklar sind, so liegt ein Mangel

des Urteils vor, der zu dessen Aufhebung führt. Um dem Rechtsbeschwerdegericht diese Nachprüfung zu ermöglichen, müssen die Urteilsgründe erkennen lassen, dass die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen, verstandesmäßig einsichtigen Tatsachengrundlage beruht und die vom Gericht gezogene Schlussfolgerung nicht etwa nur eine Annahme ist oder sich als bloße Vermutung erweist. Das Urteil muss deshalb in der Regel auch erkennen lassen, auf welche Tatsachen das Gericht seine

Überzeugung gestützt hat, wie sich der Betroffene eingelassen hat und ob das Gericht dieser Einlassung des Betroffenen aus welchen Gründen folgt oder als widerlegt ansieht (vgl. König, in: Hentschel, StVG, 46. Aufl. 2021, § 25 StVG Rn. 26; Seitz/Bauer, in: Göhler, OWiG, 18. Aufl. 2021, § 71 Rn. 43, je m.w.N).

b) Diesen Anforderungen genügt die angefochtene Entscheidung nicht.

aa) Für die festgestellte Ordnungswidrigkeit nach §§ 41 Abs. 1 i.V.m. Anlage 2, 49 StVO, § 4 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. Nr. 11.3.7 BKatV, §§ 24, 25 StVG ist eine Regelgeldbuße von 160,00 Euro sowie ein Regelfahrverbot von einem Monat nach Nr. 11.3.7 BKatV vorgesehen. Bei dieser Zuwiderhandlung ist ein grober bzw. beharrlicher Pflichtverstoß indiziert, dessen Ahndung, abgesehen von besonderen Ausnahmefällen, eines Fahrverbotes als Denkzettel- und Besinnungsmaßnahme bedarf (BGHSt 38, 125, 134 = NJW 1992, 446; BGHNJW 2016, 1188, 1190; König, in: Hentschel aaO., § 25 StVG Rn.19 m.w.N.). Zeichnet sich der Sachverhalt zugunsten des Betroffenen durch wesentliche Besonderheiten aus, so kann der Tatrichter dennoch die Überzeugung gewinnen, dass trotz eines Regele

Verhängung eines Fahrverbots unangemessen ist und der notwendige Warneffekt unter angemessener Erhöhung der Regelgeldbuße erreicht werden kann, wobei das Absehen vom Fahrverbot stets näher zu begründen ist (BGHSt 38, 231, 237 = NJW 1992, 1397;

Senat, Beschl. v. 31.01.2022 - 3 Ss-OWi 41/22, BeckRS 2022, 2657 Tz. 12 f.; König, in: Hentschel aaO., § 25 StVG Rn. 26 m.w.N.).

Grundsätzlich ist anerkannt, dass die Verhängung eines Fahrverbots unter Anwendung der Regelbeispielstechnik des Bußgeldkatalogs nach Maßgabe des § 25 Abs. 1 S.1 StVG dann ungemessen erscheint und daher von der Verhängung abgesehen werden kann, wenn dem Betroffenen infolge des Fahrverbots der Verlust seines Arbeitsplatzes oder zum Existenzverlust bei einem Selbstständigen führen würde und dies nicht durch zumutbare Vorkehrungen vermieden werden kann (OLG Frankfurt, Beschl. v. 25.07.2006 - 2 Ss-OWi 246/06, BeckRS 2014, 477; OLG Hamm, Beschl. v. 03.03.2022 - 5 RBs 48/22, BeckRS 2022, 5633 Tz.30 m.w.N.).


bb) Im Grundsatz zu Recht ist das Amtsgericht in seiner Begründung davon ausgegangen, dass ein Fahrverbot während der Probezeit im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses als Berufskraftfahrer grundsätzlich die Besorgnis der Auflösung des Arbeitsverhältnisses begründen kann. Gleichzeitig ist zu berücksichtigen, dass die Maßstäbe der Besorgnis einer drohenden Kündigung in einem nicht gesicherten Arbeitsverhältnis nicht zu hoch angesetzt werden dürfen. Zudem ist es dem Tatrichter bei der Beurteilung der Frage, ob für den Betroffenen eine solche unbillige Härte aufgrund eines konkret drohenden Verlustes des Arbeitsplatzes anzunehmen ist, nicht verwehrt, der Behauptung bzw. Besorgnis des Betroffenen zu glauben.

Das Amtsgericht hat ausgeführt, das ausnahmsweise Absehen vom Fahrverbot beruhe insbesondere auf der beruflichen Tätigkeit des Betroffenen und der in diesem Zusammenhang bestehenden Probezeit. Da der Betroffene in der derzeit laufenden Probezeit ohne nähere Begründung des Arbeitgebers und ohne wesentliche Hürden entlassen werden und in der Probezeit in der Regel kein Urlaub genommen werden könne, stelle das Regelfahrverbot eine besondere Härte für den Betroffenen dar.

Die Urteilsfeststellungen über den einen Härtefall begründenden Arbeitsplatzverlust beruhen indes ausschließlich auf den Angaben des Betroffenen und lassen dabei eine Auseinandersetzung mit der Frage vermissen, ob eine Kündigung durch den Arbeitgeber tatsächlich konkret zu befürchten ist. Der Tatrichter hat jedoch im Urteil darzulegen, aus welchen Gründen er diese Angaben für glaubhaft erachtet, um Missbrauch auszuschließen und dem Rechtsbeschwerdegericht eine Entscheidung auf fundierter Tatsachengrundlage zu ermöglichen (OLG Bamberg, Beschl. v. 22.01.2009 - 2 Ss OWi 5/09, NZV 2010, 46; OLG Hamm, Beschl. v. 03.03.2022 - 5 RBs 48/22, BeckRS 2022, 5633 Tz. 31; König, in: Hentschel aaO., § 25 StVG Rn. 26 m.w.N.). Die Aufklärungspflicht des Tatrichters bestimmt sich dabei nach § 77 Abs. 1 OWiG. Dementsprechend darf sich die Begründung im Urteil nicht in einer unkritischen Wiedergabe der Einlassung des Betroffenen erschöpfen.

Die angefochtene Entscheidung enthält jedoch keine tragfähigen Erwägungen zu der Glaubhaftigkeit der Angaben des Betroffenen. Das Tatgericht führt allein aus, dass die Annahme der Voraussetzungen für das Absehen eines Fahrverbotes auf den Angaben des Betroffenen beruhen. Die daran anschließenden Urteilserwägungen, ob Zweifel am Zutreffen der Angaben des Betroffenen aufgekommen seien, beziehen sich lediglich auf die Einlassung des Betroffenen hinsichtlich des ihm vorgeworfenen Geschwindigkeitsverstoßes. Auch die vom Tatgericht gewählte Formulierung, wonach "in der Regel kein Urlaub genommen werden darf" indiziert, dass sich diese vom Tatgericht gezogene Schlussfolgerung nur als eine Annahme bzw. bloße Vermutung erweist.

Gleichzeitig hat sich das Amtsgericht im Rahmen der Begründung des Rechtsfolgenausspruches nur auf einen möglichen Arbeitsplatzverlust und auf seine Eigenschaft als Ersttäter beschränkt. Jedoch dürfen sämtliche konkreten Umstände des Einzelfalles in objektiver und subjektiver Hinsicht in der Entscheidung nicht unberücksichtigt bleiben (vgl. BVerfG, Beschl. v. 24.03.1996 - 2 BvR 616/91, NZV 1996, 284, 285).

2. Aufgrund des aufgezeigten sachlich-rechtlichen Begründungsmangels für ein Absehen von der Verhängung des verwirkten Regelfahrverbots ist auf die Rechtsbeschwerde das angefochtene Urteil aufgrund der Wechselwirkung zwischen Geldbuße und Fahrverbot im gesamten Rechtsfolgenausspruch aufzuheben. Mit der Aufhebung des Rechtsfolgenausspruches sind auch die tragenden Feststellungen aufzuheben.



Eine eigene Sachentscheidung durch den Senat (§ 79 Abs. 6 OWiG) scheidet aus. Die Beurteilung, ob die Anordnung eines Fahrverbots für den Betroffenen eine unerträgliche Härte bedeuten würde, obliegt weiterhin dem Tatrichter. Es ist nicht völlig auszuschließen, dass das Amtsgericht in einer neuen Hauptverhandlung gegebenenfalls noch Feststellungen zu dieser Frage treffen kann (vgl. Hadamitzky, in: KK-OWiG, 5. Aufl. 2018, § 79 Rn. 161). Dabei werden auch die von dem Fahrverbot ausgehenden Belastungen auf die aktuelle berufliche Situation des Betroffenen zu berücksichtigen sein. Eine Verweisung an eine andere Abteilung des Amtsgerichts war nicht angezeigt (vgl. Hadamitzky, in: KK-OWiG aaO., § 79 Rn. 161; Seitz/Bauer, in: Göhler aaO., § 79 Rn. 48).

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