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Amtsgericht Köln Urteil vom 19.04.2016 - 263 C 210/15 - Zur Haftung beo Unfall nach Aufhebung einer Rettungsgasse

AG Köln v. 19.04.2016: Zur Haftung beo Unfall nach Aufhebung einer Rettungsgasse




Das Amtsgericht Köln (Urteil vom 19.04.2016 - 263 C 210/15) hat entschieden:

   Gemäß § 38 Abs. 1 StVO sind alle Verkehrsteilnehmer verpflichtet, dem Rettungsfahrzeug freie Bahn zu verschaffen. Damit erfüllen sie einen im Allgemeininteresse liegenden Zweck, Verletzte schnellstmöglich retten zu können. Zu diesem Zweck haben sie dem mit Blauem Blinklicht und Einsatzhorn fahrenden Rettungsfahrzeug Vorfahrt zu gewähren. Ist das Rettungsfahrzeug vorbeigefahren und eine künftige Störung des Fahrwegs nicht mehr zu befürchten, ordnet sich der Verkehr wieder so ein, wie er zuvor gefahren ist. Im Interesse eines flüssigen Straßenverkehrs nehmen daher alle Verkehrsteilnehmer ihre alte Position wieder ein. Ein einzelner Verkehrsteilnehmer, der die "Unordnung" nach dem Platzmachen für das Rettungsfahrzeug ausnutzt, um sich vorzudrängeln, handelt dabei rücksichtslos. Wie auch die Gasse gemäß § 11 Abs. 2 StVO nicht um Vordrängeln genutzt werden darf. so gilt dies auch für die innerorts gebildete Gasse in einer Einbahnstraße.

Siehe auch
Rettungsgasse bei stockendem Verkehr
und
Stichwörter zum Thema Unfallschadenregulierung

Zum Sachveerhalt:


Am … 2013 befuhr die Klägerin gegen 7:20 Uhr mit ihrem Pkw O. amtliches Kennzeichen …, die …-gasse in Köln in Fahrtrichtung Norden. Die ..-gasse ist einspurig und als Einbahnstraße ausgestaltet. Die Geschwindigkeit ist auf 30 km/h beschränkt. Es herrschte zähflüssiger Berufsverkehr. Von hinten näherte sich ein Rettungswagen mit Einsatzhorn und Blaulicht. Die Klägerin und die ihr nachfolgenden Fahrzeuge fuhren an den rechten Fahrbahnrand, stoppten ihre Fahrzeuge und ließen das Rettungsfahrzeug vorbeifahren. Der Beklagte zu 1) befuhr mit dem bei der Beklagten zu 2) versicherten Pkw P., amtliches Kennzeichen …, einige Fahrzeuge hinter der Klägerin. Nachdem der Rettungswagen ihn passiert hatte, folgte er dem Rettungswagen und fuhr an den rechts stehenden und wartenden Fahrzeugen vorbei. Als er sich in Höhe der Hausnummer 00 auf Höhe des Klägerfahrzeugs befand, fuhr die Klägerin nach links auf die Fahrbahn, um weiterzufahren. Die Fahrzeuge kollidierten miteinander in der Weise, dass das klägerische Fahrzeug vorne links und das Beklagtenfahrzeug hinten rechts beschädigt wurden.




Die Klägerin behauptet, sie habe vor dem Einordnen einen doppelten Schulterblick gemacht und habe geblinkt. Das Beklagtenfahrzeug habe man nicht erkennen können.

Die Klägerin beantragt,

   die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an sie 1.277,68 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 17.03.2014 sowie außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 201,71 € zu zahlen.

Die Beklagten beantragen,

   die Klage abzuweisen.

Die Klage war teilweise erfolgreich.




Aus den Entscheidungsgründen:


“... Der Klägerin steht ein Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz gegen die Beklagten gemäß §§ 7, 18 StVG, 115 VVG zu. Sie kann Erstattung von 2/3 ihres Schadens verlangen. Ein darüber hinausgehender Anspruch steht ihr indes nicht zu. Denn sie muss sich im Rahmen der Abwägung der Betriebsgefahren und der beiderseitigen Verkehrsverstöße einen Mitverschuldensanteil von 1/3 entgegenhalten lassen (§ 17 Abs. 2 StVG).

Der Unfall stellt für keine der Parteien ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG dar, so dass die Ersatzpflicht der einen oder der anderen Seite nicht von vornherein ausgeschlossen ist. In derartigen Fällen hängt nach § 17 Abs. 1 StVG die Verpflichtung zum Schadensersatz wie auch der Umfang der Ersatzpflicht von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Im Rahmen der Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge unter Berücksichtigung der von beiden Kraftfahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahren nach §§ 17 Abs. 1 StVG, 254 BGB sind nach der ständigen Rechtsprechung neben unstreitigen und zugestandenen Tatsachen nur bewiesene Umstände zu berücksichtigen.

Nach dem unstreitigen Parteivortrag und dem gesamten Inhalt der mündlichen Verhandlung steht fest, dass die Klägerin unter Missachtung ihrer Pflichten aus § 10 StVO vom Fahrbahnrand in den fließenden Verkehr eingebogen ist und den Unfall mitverursacht hat. Zu Lasten der Klägerin greift damit der Anscheinsbeweis des § 10 StVO ein. Wer aus vom Fahrbahnrand auf die Straße einfahren will, muss die Gefährdung des fließenden Verkehrs ausschließen. Von ihm wird äußerste Sorgfalt verlangt. Das setzt Umblick, gegebenenfalls Rückschau und rechtzeitiges, deutliches Zeichengeben voraus (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Auflage § 10 StVO Rn 10). Kommt es im unmittelbaren zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit Ein- bzw. Anfahren zu einer Kollision mit dem fließenden Verkehr, so spricht der Anschein gegen den Einfahrenden (Hentschel/König/Dauer aaO Rn 11). Der Einfahrvorgang endet jedenfalls erst, wenn sich das Fahrzeug endgültig in den fließenden Verkehr eingeordnet hat, wofür jede Einflussnahme des Anfahrens auf das weitere Verkehrsgeschehen auszuschließen ist (KG, NZV 08, 413). Dass der Unfall nach dem Anfahren vom Fahrbahnrand auf die Straße geschehen ist, ist zwischen den Parteien unstreitig. Die Klägerin hat es nicht vermocht, den für ihr Verschulden sprechenden Anscheinsbeweis zu erschüttern. Dafür hätte sie Tatsachen vortragen müssen, die einen atypischen Geschehensablauf als möglich erscheinen lassen. Dem genügt ihr Vortrag nicht.




Dass die Klägerin ihren Pflichten nach § 10 StVO genügt hätte, hat sie zwar behauptet. Sie hat vortragen lassen, geblinkt zu haben und einen doppelten Schulterblick gemacht zu haben. Dafür hat sie indes keinen Beweis angeboten. Dass sie keine ausreichende Rückschau gehalten haben kann, ergibt sich im Übrigen auch aus den unstreitigen Umständen des Verkehrsunfalls. Hätte sie nämlich einen Schulterblick nach links gemacht, dann hätte sie das Beklagtenfahrzeug sehen müssen. Das versteht sich von selbst und ist gerade der Grund, weshalb der Gesetzgeber den Schulterblick beim Spurwechsel, Linksabbiegen und Anfahren vom Fahrbahnrand vorschreibt, nämlich, um Fahrzeuge im toten Winkel wahrzunehmen. Hinzu kommt, dass sich die Schäden am Beklagtenfahrzeug an der hinteren rechten Seite befinden, weshalb das Beklagtenfahrzeug im Moment des Unfalls schon teilweise am Klägerfahrzeug vorbeigefahren sein muss.

Weitere Verkehrsverstöße der Klägerin liegen nicht vor.

Soweit die Beklagten vorgetragen haben, die Klägerin habe selbst dem Rettungswagen folgen wollen, liegt darin nur eine bloße Vermutung, der nicht weiter nachzugehen war.

Umgekehrt trifft aber auch den Beklagten zu 1) eine erhebliche Mitschuld am Zustandekommen des Unfalls.

Dem Beklagten zu 1) ist vorzuwerfen, die Rettungsgasse zum Vordrängeln missbraucht zu haben (§ 1 Abs. 1 StVO). Damit hat er gegen das Rücksichtnahmegebot verstoßen. Gemäß § 38 Abs. 1 StVO sind alle Verkehrsteilnehmer verpflichtet, dem Rettungsfahrzeug freie Bahn zu verschaffen. Damit erfüllen sie einen im Allgemeininteresse liegenden Zweck, Verletzte schnellstmöglich retten zu können. Zu diesem Zweck haben sie dem mit Blauem Blinklicht und Einsatzhorn fahrenden Rettungsfahrzeug Vorfahrt zu gewähren. Ist das Rettungsfahrzeug vorbeigefahren und eine künftige Störung des Fahrwegs nicht mehr zu befürchten, ordnet sich der Verkehr wieder so ein, wie er zuvor gefahren ist. Im Interesse eines flüssigen Straßenverkehrs nehmen daher alle Verkehrsteilnehmer ihre alte Position wieder ein. Ein einzelner Verkehrsteilnehmer, der die "Unordnung" nach dem Platzmachen für das Rettungsfahrzeug ausnutzt, um sich vorzudrängeln, handelt dabei rücksichtslos. Wie auch die Gasse gemäß § 11 Abs. 2 StVO nicht um Vordrängeln genutzt werden darf (vgl. Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Auflage § 11 StVO Rn 9), so gilt dies auch für die innerorts gebildete Gasse in einer Einbahnstraße.


Nach dem unstreitigen Parteivortrag steht zudem fest, dass der Beklagte zu 1) das Klägerfahrzeug entgegen § 5 Abs. 3 StVO bei unklarer Verkehrslage überholt hat. "Überholen" ist das Vorbeifahren von hinten nach vorn an einem Verkehrsteilnehmer, der sich auf derselben Fahrbahn in derselben Richtung bewegt oder nur mit Rücksicht auf die Verkehrslage anhält. Vorbeigefahren im Sinne von § 6 StVO wird dagegen an den nicht verkehrsbedingt, also in der Regel nicht in Fahrstellung haltenden Verkehrsteilnehmern, an haltenden, parkenden und liegen gebliebenen Fahrzeugen (Hentschel/ König/ Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Auflage § 5 Rn 18). Auch an den kurz vor dem Halten am Fahrbahnrand praktisch zum Stillstand gekommenen Fahrzeugen wird vorbeigefahren. Hier lag ein Überholen vor, denn die Klägerin hatte ihr Fahrzeug zwar zum Stillstand gebracht. Sie beabsichtigte aber - wie alle anderen Fahrzeuge auch - nach dem Passieren lassen des Rettungswagens weiterzufahren. Für den Beklagten zu 1) bestand eine unklare Verkehrslage im Sinne von § 5 Abs. 3 StVO. Unklar ist die Verkehrslage, wenn nach allen Umständen mit gefahrlosem Überholen nicht gerechnet werden darf (vgl. Hentschel/ König/ Dauer Straßenverkehrsrecht, 42. Auflage § 5 StVO Rn 34), etwa, wenn sich nicht verlässlich beurteilen lässt, was der Vorausfahrende jetzt sogleich tun wird, wenn er in seiner Fahrweise unsicher erscheint, wenn es den Anschein hat, er wolle abbiegen, ohne dass dies deutlich wird oder er suche eine Parkmöglichkeit (vgl. nur OLG Köln, VRS 96, 407).

Dies ist hier bereits auf der Grundlage des unstreitigen Parteivortrags zu bejahen. Denn die Klägerin hatte ihr Fahrzeug nur deshalb am rechten Fahrbahnrand zum Stillstand gebracht, um das Rettungsfahrzeug passieren zu lassen, wie es auch alle anderen Fahrzeuge vor und nach der Klägerin getan haben. Das ist zwischen den Parteien unstreitig, so dass es nicht der Vernehmung der beklagtenseits angebotenen Zeugen bedurfte. Sämtlichen Beteiligten war unter diesen Umständen klar bzw. hätte klar sein müssen, dass das Freimachen der Straße ausschließlich dem Zweck diente, das Rettungsfahrzeug passieren zu lassen, wozu die Verkehrsteilnehmer gemäß § 38 Abs. 1 StVO verpflichtet waren. Dass die Klägerin hier den Anschein erweckt hätte, sie habe ihr Fahrzeug aus anderen Gründen rechts angehalten, haben die Beklagten nicht geltend gemacht. Insbesondere haben sie nicht behauptet, sie habe rechts geblinkt oder in anderer Weise zu erkennen gegeben (etwa durch überlanges Warten nach dem Passieren des Rettungswagens), sie wolle dauerhaft rechts halten. Deshalb musste der Beklagte zu 1) damit rechnen, dass die Klägerin ihr Fahrzeug nach dem Vorbeifahren wieder in den Verkehr einordnen würde.



Dass die Klägerin auch links geblinkt hätte, was die unklare Verkehrslage für den Beklagten zu 1) noch verstärkt hätte, steht dagegen nicht fest. Die dafür beweisbelastete Klägerin hat diesbezüglich keinen Beweis angeboten, so dass es auch insofern nicht der Vernehmung der beklagtenseitigen Zeugen bedurfte.

Weitere Verstöße sind auf Seiten der Beklagten nicht festzustellen.

Insbesondere ist dem Beklagten zu 1) kein Verstoß gegen § 3 StVO wegen zu schnellen bzw. unangepassten Fahrens zu machen. Soweit die Klägerin dies behauptet hat, war die Behauptung bereits unsubstanziiert und auch nicht mit einem Beweisantritt versehen worden.

Bei Abwägung der gegenseitigen Verkehrsverstöße, dem verkehrswidrigen Anfahren vom Fahrbahnrand auf die Straße und dem rücksichtslosen Vordrängeln unter Benutzung der für das Rettungsfahrzeug gebildeten Rettungsgasse und dem Überholen trotz Überholverbots, und der Betriebsgefahren gewichtet das Gericht das Verschulden auf Beklagtenseite deutlich stärker als auf Klägerseite. Der Beklagte zu 1) hat sich sehenden Auges und missbräuchlich in eine gefährliche Situation begeben, mit der andere Verkehrsteilnehmer nur bedingt rechnen konnten. Er hätte den Unfall leicht vermeiden können, wenn er sich wie alle anderen auch nach dem ihm vorausfahrenden Fahrzeug auf die Straße eingeordnet hätte. Die Klägerin hätte den Unfall auch leicht vermeiden können, wenn sie den vorgeschriebenen Schulterblick gemacht hätte. Ihr Verschulden ist aber als leicht fahrlässig einzustufen. Da sie die Rettungsgasse nur für das Rettungsfahrzeug gebildet hat und sich kein zweites Rettungsfahrzeug näherte, bestand aus ihrer Sicht wenig Veranlassung für die Annahme, dass sich ein anderes Fahrzeug hinter dem Rettungswagen befindet. Sie muss zwar mit verkehrswidrigem Verhalten anderer Verkehrsteilnehmer rechnen. Ihr Verschulden, dies nicht getan zu haben, gewichtet das Gericht allerdings nicht als so gravierend wie das Fehlverhalten des Beklagten zu 1). Dessen Verschulden bewertet das Gericht hier unter Berücksichtigung aller Umstände mit 2/3. … “

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