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Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Urteil vom 08.05.2023 - 1 Ss 276/2 - Entziehung der Fahrerlaubnis bei Trunkenheitsfahrt mit E-Scooter

OLG Frankfurt am Main v. 08.05.2023: Entziehung der Fahrerlaubnis bei Trunkenheitsfahrt mit E-Scooter




Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main (Urteil vom 08.05.2023 - 1 Ss 276/22) hat entschieden:

   Eine Trunkenheitsfahrt (§ 316 StGB) mit einem E-Scooter begründet die Regelvermutung der Ungeeignetheit des Täters zum Führen eines Kfz. Von der Entziehung der Fahrerlaubnis kann nur in Ausnahmefällen abgesehen werden.

Siehe auch
E-Scooter - Elektro-Tretroller
und
Stichwörter zum Thema Alkohol

Gründe:


Das Amtsgericht Frankfurt am Main hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr (§ 316 Abs. 1 und Abs. 2 StGB) zu einer Geldstrafe von 30 Tagesätzen zu je 20 € und einem Fahrverbot von sechs Monaten verurteilt.

Dagegen wendet sich die Amtsanwaltschaft mit ihrer Sprungrevision, die der Sache nach nicht nur auf den Rechtsfolgenausspruch beschränkt ist, sondern innerhalb dessen auf die Ablehnung der Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB sowie die damit verbundene Verhängung einer Sperre für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis gemäß § 69a StGB. Die Amtsanwaltschaft rügt in ihrer Revisionsbegründung die Verletzung materiellen Rechts und beanstandet dabei ausschließlich, dass das Amtsgericht trotz der Erfüllung des Regelbeispiels gemäß § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB dem Angeklagten die Fahrerlaubnis nicht entzogen und keine Sperre gemäß § 69a StGB bestimmt hat. Aufgrund der für Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft geltenden besonderen Begründungsanforderungen (Nr. 156 RiStBV) ist damit eine Beschränkung des Rechtsmittels auf den in der Begründung allein angegriffenen Gesichtspunkt verbunden (vgl. BGH, Urteil vom 25. April 2017 - 1 StR 606/16), sofern eine solche Beschränkung wirksam möglich ist. Das ist hier der Fall. Zum einen kann im vorliegenden Fall ausnahmsweise sowohl die Fahrerlaubnis entzogen als auch ein Fahrverbot angeordnet werden, weil Letzteres gerade auch fahrerlaubnisfreie Fahrzeuge wie den hier verwendeten E-Scooter erfasst (vgl. BGH, Beschluss vom 7. August 2018 - 3 StR 104/18). Und zum anderen besteht vorliegend auch keine untrennbare Wechselwirkung zwischen nicht angeordneter Maßregel und Strafausspruch, die eine getrennte Anfechtung verbieten würde. Weder ergibt sich aus dem tatrichterlichen Urteil, dass der Strafausspruch von der Entscheidung über das Absehen von der Maßregel beeinflusst wäre, noch greift die Staatsanwaltschaft mit ihrer Revisionsbegründung doppelrelevante Tatsachen an, also solche, die für die Entscheidung nach §§ 69, 69a StGB und die Strafzumessung gleichermaßen von Bedeutung sind. Vielmehr geht es allein um die rechtliche Bewertung des Vorliegens der Voraussetzungen für die Anordnung der Maßregel auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen (vgl. Saarländisches OLG Saarbrücken, Urteil vom 14. September 2020 - Ss 40/20 (40/20); KG Berlin, Beschluss vom 14. Juli 2015 - (3) 121 Ss 96/15 (75/15); OLG Frankfurt, Beschluss vom 27. Februar 2002 - 2 Ss 21/02; OLG Stuttgart, Urteil vom 7. Januar 1997 - 4 Ss 672/96; vgl. auch zu einer ähnlichen Fragestellung BGH, Beschluss vom 15. Mai 2001 - 4 StR 306/00).




Das so auszulegende Rechtsmittel der Staatsanwaltschaft hat Erfolg.

Nach den aufgrund der wirksamen Beschränkung der Revision rechtskräftigen Feststellungen des Amtsgerichts befuhr der Angeklagte am XX.XX.2022 gegen 2.39 Uhr in Stadt1 mit einem E-Scooter die Straße1. Seine Blutalkoholkonzentration betrug zu diesem Zeitpunkt mindestens 1,64 Promille. Der Angeklagte war in den vorangegangenen Stunden in einer Bar gewesen und hatte dort Bier und Wodka-Soda getrunken. Nach Verlassen der Bar hatte er sich spontan entschlossen, für die Fahrt zurück zu seiner damaligen Unterkunft im Wohnviertel1 einen E-Scooter zu benutzen. Er fühlte sich zu diesem Zeitpunkt noch fahrtüchtig und machte sich wegen des getrunkenen Alkohols keine Gedanken; er hätte bei Anwendung der erforderlichen Sorgfalt aber erkennen können, dass er fahruntüchtig war.

Die Begründung, mit der das Amtsgericht trotz Vorliegens eines Regelfalls nach § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB von der Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 StGB und Bestimmung einer Sperre gemäß § 69a StGB abgesehen hat, hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand.

Schon im Ansatz geht das Amtsgericht abweichend von der gesetzlichen Regelung davon aus, § 69 StGB sehe „für den Regelfall der Verwirklichung einer Trunkenheitsfahrt gemäß § 316 StGB die Entziehung der Fahrerlaubnis vor“, um sodann festzustellen, vorliegend handele es sich nicht um einen solchen Regelfall.


Tatsächlich bestimmt das Gesetz aber, dass die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB zwingend anzuordnen ist, wenn die Voraussetzungen hierfür gegeben sind. Ein Ermessen des Tatrichters besteht nicht (vgl. BGHSt 5, 168, 176; 6, 183, 185; Fischer StGB 70. Aufl. § 68 Rn. 50; Schäfer/Sander/van Gemmeren Strafzumessung 6. Aufl. Rn. 555). Auch eine Verhältnismäßigkeitsprüfung nach § 62 StGB findet nicht statt (§ 69 Abs. 1 Satz 3 StGB). Die Fahrerlaubnis muss danach entzogen werden, wenn sich aus der Tat ergibt, dass der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen ungeeignet ist. Dies ist bei der Verwirklichung eines der in § 69 Abs. 2 StGB genannten Tatbestände in der Regel der Fall.

Nach § 69 Abs. 2 Nr. 2 StGB begründet die Begehung einer Straftat nach § 316 StGB eine Regelvermutung für die Ungeeignetheit des Täters zum Führen von Kraftfahrzeugen im Sinne des § 69 Abs. 1 Satz 1 StGB mit der Folge der Entziehung der Fahrerlaubnis (BGH, Urteil vom 29. April 2021 - 4 StR 522/20).

Von der Entziehung der Fahrerlaubnis kann nur in seltenen Ausnahmen abgewichen werden, so wenn die Tat selbst Ausnahmecharakter hat, wenn die Würdigung der Gesamtpersönlichkeit des Täters die Gewähr dafür bietet, dass er in Zukunft gleiche oder ähnliche Taten nicht mehr begehen wird, oder wenn ganz besondere vor oder nach der Tat liegende Umstände objektiver oder subjektiver Art festgestellt sind, die den Eignungsmangel entfallen lassen. Es müssen Umstände vorliegen, die sich von den Tatumständen des Durchschnittsfalls deutlich abheben (OLG Stuttgart, Urteil vom 7. Januar 1997 - 4 Ss 672/96; OLG Koblenz, Urteil vom 1. September 1983 - 1 Ss 252/83).

Die von dem Amtsgericht aufgeführten Gründe tragen die Annahme eines solchen Ausnahmefalls nicht. Das Amtsgericht stellt rechtsfehlerhaft darauf ab, dass der Angeklagte nicht Auto, sondern E-Scooter gefahren ist. Das widerspricht der Wertung des Verordnungsgebers, nach der solche Elektrokleinstfahrzeuge Kraftfahrzeuge sind (§ 1 eKFV) sind und damit den dafür geltenden allgemeinen Vorschriften unterliegen (Senat, Urteil vom 4. Oktober 2021 - 1 Ss 113/21; KG Berlin, Urteil vom 10. Mai 2022 - (3) 121 Ss 67/21 (27/21); BayObLG, Beschluss vom 24. Juli 2020 - 205 StRR 216/20). Es mag zutreffen, dass der Gesetzgeber bei der Schaffung der Norm des § 69 StGB E-Scooter nicht kannte. Der Verordnungsgeber hat aber später in Kenntnis der §§ 69, 69a StGB E-Scooter gleichwohl als Kraftfahrzeuge eingestuft. Demgegenüber sind auf E-Bikes und Pedelecs die Vorschriften über Fahrräder anzuwenden (§ 1 Abs. 3 StVG).

Auch die Argumentation, die Benutzung eines E-Scooters durch einen betrunkenen Fahrer gefährde andere Menschen nicht in gleichem Maße wie eine mittels Pkw oder Lkw begangene Trunkenheitsfahrt, verfängt nicht. Es erschließt sich schon nicht, wie damit die Regelvermutung der Ungeeignetheit im Sinne des § 69 StGB des widerlegt werden könnte. Im Übrigen können durch den Sturz eines Fußgängers oder Radfahrers infolge eines Zusammenstoßes mit dem E-Scooter ganz erhebliche, unter Umständen sogar tödliche Verletzungen verursacht werden. Ebenso wenig berücksichtigt das Amtsgericht in diesem Zusammenhang, dass andere, auch stärker motorisierte Verkehrsteilnehmer durch alkoholbedingte Fahrfehler eines E-Scooter-Fahrers zu Ausweichmanövern, abruptem Bremsen oder Ähnlichem veranlasst werden können, was ebenfalls gravierende Folgen haben kann.




Wenn das Amtsgericht in diesem Zusammenhang weiter ausführt, mit der Anwendung des § 69 StGB könnten weitere Trunkenheitsfahrten mit einem E-Scooter nicht verhindert werden, setzt es sich in Widerspruch zur gesetzlichen Regelung, wonach die Fahrerlaubnis zu entziehen ist, wenn die Voraussetzungen dafür vorliegen. Mit der Entziehung der Fahrerlaubnis soll - anders als das Amtsgericht meint - nicht nur verhindert werden, „dass der Täter weiterhin betrunken sein Kraftfahrzeug fährt“. Vielmehr bezweckt § 69 StGB den Schutz der Sicherheit des Straßenverkehrs allgemein. Die hohen Risiken, die der Straßenverkehr infolge seiner Dynamik für Leben, Gesundheit und Eigentum der Verkehrsteilnehmer mit sich bringt, werden nämlich durch körperlich, geistig, ebenso aber auch durch charakterlich ungeeignete Kraftfahrer verstärkt; dem soll durch den (zumindest zeitigen) Ausschluss des Betreffenden von der Teilnahme am motorisierten Straßenverkehr entgegengewirkt werden (BGH [großer Senat für Strafsachen], Beschluss vom 27. April 2005 - GSSt 2/04 -, BGHSt 50, 93).

Durch seine gedankenlose Nutzung eines E-Scooters in erheblich alkoholisiertem Zustand hat der Angeklagte die Katalogtat der fahrlässigen Trunkenheit im Verkehr erfüllt und sich damit als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erwiesen. Die Ausführungen des Amtsgerichts wonach es sich bei dem Angeklagten „um einen besonnenen, verständigen und reflektierten Menschen [handelt], der eingesehen hat, dass er sich unrecht verhalten hat“, die Tat bereut und der „außer im hiesigen Fall, die Verkehrsregeln respektiert und befolgt“, sind auch in der Gesamtschau mit den sonstigen Tatumständen nicht derart außergewöhnlich, dass damit die Regelvermutung widerlegt ist. Soweit das Amtsgericht in diesem Zusammenhang darauf abstellt, es handele sich bei dem Angeklagten nicht um den „üblichen Trunkenheitsfahrer“ mit dem es in einer Vielzahl von Fällen zu tun habe, bleibt unklar, was damit gemeint ist. Diese Ausführungen lassen zudem besorgen, dass das Amtsgericht, wie auch an den genannten anderen Stellen der Urteilsgründe deutlich wird, Trunkenheitsfahren mit E-Scootern hinsichtlich der Anwendung von §§ 69, 69a StGB entgegen der Regelvermutung grundsätzlich anders bewerten will als solche mit anderen Kraftfahrzeugen.



Im Umfang der Aufhebung bedarf die Sache daher neuer Verhandlung und Entscheidung. Es ist nicht ausgeschlossen, dass der neue Tatrichter Feststellungen treffen kann, die geeignet sind, die Regelvermutung tragfähig zu widerlegen. Diese dürfen den rechtskräftigen Feststellungen zum Tathergang jedoch nicht widersprechen. Bei der neuen Entscheidung wird zudem die Dauer der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis sowie des Fahrverbots zu berücksichtigen sein.

In diesem Zusammenhang weist der Senat darauf hin, dass das Fahrverbot mit Eingang der Revisionsbegründung vom 28. Oktober 2022 bei dem Amtsgericht am 4. November 2022 infolge der Rechtsmittelbeschränkung rechtskräftig und gemäß § 44 Abs. 2 Satz 1 StGB im selben Zeitpunkt wirksam geworden ist, da der Führerschein des Angeklagten aufgrund der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis bereits in amtlicher Verwahrung war. Das Amtsgericht hat außerdem in den Entscheidungsgründen deutlich zum Ausdruck gebracht, dass auf die Verbotsfrist die Zeit der amtlichen Verwahrung infolge der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 111a StPO angerechnet werden soll, so wie dies in der Regel der Fall ist (§ 51 Abs. 5 StGB; Fischer a.a.O. § 44 Rn. 32). Der Führerschein des Angeklagten gelangte aufgrund der vorläufigen Entziehung der Fahrerlaubnis durch Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt am Main vom 29. Juli 2022 am 17. August 2022 zur Akte. Mithin ist die Verbotsfrist zwischenzeitlich abgelaufen.

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