Landgericht Darmstadt Urteil vom 13.12.1973 - 9 O 378/72 - Keine Verletzung der Aufsichtspflicht bei Überquerung einer Hauptstraße durch 6 1/2 Jahre altes Kind
LG Darmstadt v. 13.12.1973: Keine Verletzung der Aufsichtspflicht bei Überquerung einer Hauptstraße durch 6 1/2 Jahre altes Kind
Das Landgericht Darmstadt (Urteil vom 13.12.1973 - 9 O 378/72) hat entschieden:
Gestattet der Aufsichtspflichtige einem 6 ½-jährigen Kind das Überqueren einer Hauptverkehrsstraße mit dem Fahrrad, so begründet das für sich allein noch keine Verletzung der Aufsichtspflicht.
Die Bekl. zu (2) beabsichtigte, am 26.6.1970 mit ihrem damals 6 1/2jährigen Sohn mit dem Fahrrad ins Schwimmbad zu fahren. Sie verschloß das Gartentor ihres Hauses, ihr Sohn fuhr mit seinem Fahrrad voraus. Er näherte sich der in unmittelbarer Nähe seines Elternhauses gelegenen Kreuzung der P.-Straße mit der bevorrechtigten Hauptverkehrsstraße S.-F Auf dieser Straße näherte sich ein im Linienverkehr eingesetzter Omnibus der Kl. Der Sohn der Bekl. fuhr unter Verletzung seiner Wartepflicht mit seinem Fahrrad unmittelbar vor dem Bus in die Hauptverkehrsstraße ein. Obwohl dessen Fahrer eine Vollbremsung einleitete, konnte er nicht mehr verhindern, dass das Kind frontal gegen die Stirnseite des Busses prallte und zu Boden geschleudert wurde. An dem Bus entstand Sachschaden.
Die Kl. nahm die bekl. Eltern in Höhe von 1749 DM auf Schadenersatz in Anspruch. Sie war der Ansicht, die Bekl. hätten ihre Aufsichtspflicht verletzt. Die Bekl. zu (2) hätte das Kind nicht ohne besondere Vorsichtsmaßnahmen in die Hauptstraße einfahren lassen dürfen.
Die Bekl. bestritten, ihre Aufsichtspflicht verletzt zu haben. Ihr Sohn sei durch mehrjährige Übung an den Umgang mit seinem Fahrrad gewöhnt, er beherrsche es sicher. Er sei von ihnen und von Bekannten und Verwandten bereits vor dem Unfall immer wieder auf die Verkehrsregeln und die Bedeutung von Verkehrszeichen hingewiesen worden. Diese Unterrichtung habe sich nicht auf die Theorie beschränkt, vielmehr habe ihr Sohn an vielen Ausflügen mit dem Fahrrad teilgenommen. Diese Ausflüge hätten nicht nur über Nebenstraßen und Feldwege, sondern auch immer wieder über Bundesstraßen und Hauptverkehrsstraßen geführt. Dabei habe ihr Sohn sich stets an die Verkehrsregeln gehalten.
Die Klage blieb erfolglos.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Der Kl. steht ein Anspruch gegen die Bekl. aus § 832 BGB nicht zu; denn die Bekl. haben ihrer Aufsichtspflicht Genüge getan.
Welche Anforderungen an Eltern bei der Beaufsichtigung ihrer Kinder bei der Teilnahme am Straßenverkehr zu stellen sind, hängt vom Alter der Kinder, von ihrer Einsichtsfähigkeit in die Gefahren des Straßenverkehrs generell und von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Dabei kann der Bekl. zu (2) nicht schon allein deswegen eine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht vorgeworfen werden, weil sie ihrem zum Unfallzeitpunkt 6 1/2 Jahre alten Sohn das Überqueren einer Hauptverkehrsstraße gestattete, ohne die Möglichkeit jederzeitigen Eingriffs auf sein Verhalten zu haben. Angesichts der heute herrschenden Verkehrsverhältnisse erscheint es vielmehr notwendig, Kindern frühestmöglich die Gefahren des Straßenverkehrs und ihre eigene Verantwortlichkeit dadurch aufzuzeigen, dass die Eltern ihnen bei der Teilnahme am Straßenverkehr einen gewissen Spielraum zu eigenständigen Entscheidungen belassen. So hat das OLG Celle (VersR 69, 333) ausgeführt, es sei nicht erforderlich, dass bei einem normal veranlagten Kind von 4 (!) Jahren ein jederzeitiges Eingreifen der Eltern möglich sei. Zu Recht weist das OLG darauf hin, eine solche Überwachung sei einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung des Kindes hinderlich und für den Aufsichtsführenden untragbar. Wenn dies bereits bei einem 4jährigen Kind anerkannt wird, so muss dies erst recht bei einem 6 1/2jährigen Jungen gelten, der unmittelbar vor seiner Einschulung steht. Schon mit Rücksicht auf den bevorstehenden Schulbesuch und die mit dem Schulweg verbundenen Gefahren ist es zweckmäßig, Kinder dieses Alters langsam daran zu gewöhnen, sich auch ohne ständige Überwachung in ihrem Verhalten auf den Straßenverkehr einzustellen (vgl. BGH VersR 57, 340).
Wenn sich diese Entscheidungen auch nur auf Fälle der Teilnahme von Kindern am Straßenverkehr zu Fuß beziehen, so ergibt sich aus dem Umstand, dass der Sohn der Bekl. sein Fahrrad benutzte, zumindest dann nichts anderes, wenn er dieses Fahrrad und die Regeln des Straßenverkehrs beherrschte und die zusätzlichen Gefahren beim Benutzen eines Fahrrades hinreichend kannte (vgl. OLG Köln VersR 69, 44 m. w. Nachw.). Unter diesen Voraussetzungen liegen nämlich qualitative Unterschiede zwischen diesen beiden Möglichkeiten, am Straßenverkehr teilzunehmen, nicht vor. Wenn das OLG Köln in seiner oben zitierten Entscheidung allerdings weiter ausführt, eine Benutzung des Fahrrads durch Kinder sei, wenn sie ohne Begleitung ihrer Eltern führen, nur dann unbedenklich, wenn die Kinder bereits die Schule besuchten, weil sie erst dort zu selbständigem Denken und zum Erkennen ihrer Verantwortung erzogen würden, so ist dem in dieser Allgemeinheit nicht zuzustimmen.
Zuzugeben ist, dass es entscheidend auf die Reife und Einsichtsfähigkeit sowie das Verantwortungsbewusstsein des Kindes ankommt. Es ist aber nicht gesagt, dass Kinder diese Eigenschaft in der Schule kurzfristig erwerben müssten oder nur in der Schule erwerben könnten. Auf das formale Kriterium des Schulbesuchs abzustellen, erscheint daher unangemessen. Vielmehr ist in jedem Einzelfall das Vorliegen der oben genannten Voraussetzungen zu untersuchen.
Hinzu kommt, dass anders als in dem vom OLG Köln entschiedenen Fall der
Sohn der Bekl. nicht allein, sondern in Begleitung der Bekl. zu (2) war, wenn diese ihm auch erst in ca. 15 m Abstand folgte. Unter diesen Umständen spricht die Lebenserfahrung dafür, dass Kinder sich in Gegenwart von Erwachsenen eher vorsichtiger verhalten, als wenn sie allein fahren, weil sie zeigen wollen, dass sie die Verkehrsregeln beherrschen (vgl. OLG Oldenburg VersR 63, 491 = MDR 62, 736). An die Beaufsichtigung der Kinder durch die Eltern sind daher in diesem Fall geringere Anforderungen zu stellen, als wenn sie ihre Kinder mit dem Fahrrad ohne Begleitung Erwachsener fahren lassen.
Nach diesen allgemein anerkannten Grundsätzen wäre der Bekl. zu (2) daher nur dann eine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht vorzuwerfen, wenn sie dem Verhalten ihres Sohnes eine gesteigerte Aufmerksamkeit hätte widmen müssen, weil dieser nicht oder nicht ausreichend mit den Gegebenheiten und Gefahren des Straßenverkehrs, insbesondere der Gefährlichkeit der zu überquerenden Kreuzung, und mit der Beherrschung seines Fahrrades vertraut gewesen wäre.
Diese Voraussetzungen liegen nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme jedoch nicht vor ... "