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Verwaltungsgericht Augsburg Beschluss vom 29.05.2006 - Au 3 S 06.600 - Nach dem Halbritter-Beschluss - Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung

VG Augsburg v. 29.05.2006: Nach dem Halbritter-Beschluss - Aufgabe der bisherigen Rechtsprechung




Das Verwaltungsgericht Augsburg (Beschluss vom 29.05.2006 - Au 3 S 06.600) hat entschieden:

   Die vom EuGH im Beschluss vom 06.04.2006 - C 227/05 (Halbritter) - statuierte strikte Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung von Führerscheinen, die von Mitgliedstaaten der Europäischen Union ausgestellt wurden, veranlasst das Gericht, seine bisherige Ansicht aufzugeben, dass die Vorschriften des § 28 Abs. 4 Nr. 3, Abs. 5 FeV mit hoher Wahrscheinlichkeit mit europäischen Recht vereinbar sind; ebenso ist nach der jüngsten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs kein Raum mehr für eine Interessenabwägung für den Fall, dass die Frage der Vereinbarkeit der zitierten Normen mit Europarecht offen ist.

Siehe auch
Stichwörter zum Thema EU-Führerschein
und
Die Nutzungsuntersagung bzw. Nichtanerkennung einer ausländischen EU-Fahrerlaubnis im Inland

Zum Sachverhalt:


Dem 1980 geborenen Antragsteller wurde am 4. August 1998 eine Fahrerlaubnis der Klasse 3 erteilt (alte Klasseneinteilung).

Der Antragsteller hat seit Geburt seinen Hauptwohnsitz im Zuständigkeitsbereich der vorliegend tätigen Straßenverkehrsbehörde.

Mit rechtskräftigem Strafbefehl vom 11. Juli 2003 wurde der Antragsteller wegen fahrlässiger Trunkenheit im Verkehr mit einer Geldstrafe belegt und ihm die Fahrerlaubnis entzogen; die Verwaltungsbehörde wurde angewiesen, dem Antragsteller vor Ablauf von acht Monaten keine neue Fahrerlaubnis zu erteilen. Am 26. Mai 2003 hatte er ein Kraftfahrzeug mit einer mittleren Blutalkoholkonzentration (BAK) von 2,01 Promille geführt.

Ein Antrag auf Wiedererteilung der Fahrerlaubnis der Klassen B und BE vom 8. Juni 2004 wurde nicht weiter verfolgt, nachdem die Fahrerlaubnisbehörde vom Antragsteller die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gefordert hatte.




Mit Schreiben vom 24. November 2005 teilte die Grenzpolizeistation Schirnding der Fahrerlaubnisbehörde mit, dass dort bekannt geworden sei, dass der Antragsteller im Besitz einer von Behörden der Tschechischen Republik am 9. November 2005 ausgestellten Fahrerlaubnis der Klasse B ist. Daraufhin forderte die Fahrerlaubnisbehörde den Antragsteller mit Schreiben vom 30. November 2005 auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten zur Klärung seiner Fahreignung vorzulegen. Da er ein Fahrzeug mit einer BAK von 2,01 Promille geführt hatte und deshalb strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurde, bestünden Zweifel an seiner Fahreignung.

Der Antragsteller legte das geforderte Gutachten nicht vor.

Mit insoweit für sofort vollziehbar erklärtem Bescheid vom 27. April 2006 wurde dem Antragsteller das Recht aberkannt, von seiner in Tschechien erteilten Fahrerlaubnis der Klasse B im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Gebrauch zu machen und - unter Zwangsgeldandrohung - angeordnet, unverzüglich seinen tschechischen Führerschein vorzulegen.

Der Antragsteller erhob hiergegen Widerspruch und beantragte mit Erfolg die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung.





Aus den Entscheidungsgründen:


"... Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und hat in vollem Umfang Erfolg.

1. Der Antrag ist hinsichtlich der in Nummer 1. des Bescheids vom 27. April 2006 verfügten Aberkennung des Rechts, von der tschechischen Fahrerlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland Gebrauch zu machen, zulässig. Insbesondere kann ein Rechtsschutzbedürfnis wegen Fehlens einer in jedem Fall erforderlichen, aber nicht erteilten Genehmigung zum Gebrauchmachen der ausländischen Fahrerlaubnis nach § 28 Abs. 5 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV) nicht verneint werden. Die Vorschrift des § 28 Abs. 5 FeV widerspricht europäischem Recht und ist dementsprechend nicht anzuwenden.

Nach der Grundregel des § 28 Abs. 1 Satz 1 FeV dürfen Inhaber einer gültigen EU-Fahrerlaubnis (wie vorliegend der Antragsteller), die ihren ordentlichen Wohnsitz i.S.v. § 7 Abs. 1 oder 2 FeV in der Bundesrepublik Deutschland haben, grundsätzlich im Umfang der erteilten Fahrerlaubnis Kraftfahrzeuge im Inland führen. Gemäß § 28 Abs. 4 Nr. 3 FeV gilt die Berechtigung des § 28 Abs. 1 FeV, im Umfang der ausländischen Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland zu führen, jedoch nicht für Inhaber einer EU-Fahrerlaubnis, denen die Fahrerlaubnis im Inland vorläufig oder rechtskräftig von einem Gericht oder sofort vollziehbar oder bestandskräftig von einer Verwaltungsbehörde entzogen worden ist, denen die Fahrerlaubnis bestandskräftig versagt worden ist oder denen die Fahrerlaubnis nur deshalb nicht entzogen worden ist, weil sie zwischenzeitlich auf die Fahrerlaubnis verzichtet haben. Das Recht von einer im EU-Ausland erworbenen Fahrerlaubnis in Deutschland Gebrauch zu machen, wird in solchen Fällen gemäß § 28 Abs. 5 Satz 1 FeV auf Antrag erteilt, wenn die Gründe für die Entziehung nicht mehr bestehen. Die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Vorschrift sind im vorliegenden Fall erfüllt, da dem Antragsteller die Fahrerlaubnis durch den rechtskräftigen Strafbefehl vom 11. Juli 2003 entzogen war und die Fahrerlaubnis in Tschechien nach Ablauf der Sperrfrist von acht Monaten erteilt wurde.

Nach der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs fordert Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 91/439/EWG („Zweite Führerschein-Richtlinie“) die „gegenseitige Anerkennung der von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine ohne jede Formalität und erlegt den Mitgliedstaaten damit eine klare und unbedingte Verpflichtung auf, die keinen Ermessensspielraum in Bezug auf die Maßnahmen einräumt, die zu erlassen sind, um dieser Verpflichtung nachzukommen“ (EuGH vom 6.4.2006, C-227/05, „Halbritter“, RdNr. 25). Da § 28 Abs. 5 FeV der vom Europäischen Gerichtshof strikt statuierten europarechtlichen Pflicht zur Anerkennung ausländischer Fahrerlaubnisse ohne jede Formalität widerspricht, ist die auf dieser Vorschrift beruhende Voraussetzung einer zusätzlichen Genehmigung für die Gültigkeit einer EU-Fahrerlaubnis nach vorangegangenem Entzug in Deutschland nicht zu erfüllen.


2. Der Antrag ist in vollem Umfang begründet.

Bei der dem Gericht im Rahmen der Entscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO zukommenden Ermessensentscheidung sind in erster Linie die Erfolgsaussichten des Rechtsmittels, dessen aufschiebende Wirkung angeordnet bzw. wiederhergestellt werden soll, zu prüfen. Lässt sich schon bei summarischer Prüfung eindeutig feststellen, dass der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist und den Betroffenen in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO), so dass - wie hier - der Widerspruch mit Sicherheit Erfolg haben wird, so kann kein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung dieses Verwaltungsaktes bestehen (vgl. Jörg Schmidt in Eyermann, VwGO, 11. Aufl. 2000, RdNr. 69 ff. zu § 80). Die mit dem angefochtenen Bescheid verfügte Aberkennung des Rechts zum Gebrauch der tschechischen Fahrerlaubnis in Deutschland erweist sich im Rahmen der Überprüfung im Eilverfahren als rechtswidrig und verletzt den Antragsteller in seinen Rechten.

a) Die deutschen Fahrerlaubnisbehörden dürfen Inhaber einer in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union erteilten Fahrerlaubnis wegen Tatsachen, die zwar Zweifel an der Fahreignung begründen, jedoch vor Erteilung dieser Fahrerlaubnis liegen, nicht zu Aufklärungsmaßnahmen nach innerstaatlichem Recht verpflichten.

Nach der jüngsten Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Beschluss vom 6.4.2006, a.a.O., Fall „Halbritter“) widerspricht es dem Leitgedanken der „Zweiten Führerschein-Richtlinie“, in der sich die Mitgliedstaaten zur gegenseitigen Anerkennung der Führerscheine innerhalb der europäischen Union verpflichtet haben, wenn einer nach Ablauf der Sperrfrist für die Wiedererteilung einer Fahrerlaubnis in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen Fahrerlaubnis weiterhin die Anerkennung der Gültigkeit verweigert wird (EuGH vom 6.4.2006, RdNrn. 27 f.). Daraus folgt, dass sich die Mitgliedstaaten nicht auf die ihnen mit Artikel 8 Abs. 2 der „Zweiten Führerschein-Richtlinie“ eingeräumte Befugnis, auf Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins ihre innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis anzuwenden, sowie die Befugnis nach Absatz 4 desselben Artikels, die Anerkennung der Gültigkeit eines solchen Führerscheins einer Person zu verweigern, auf die in ihrem Hoheitsgebiet eine der in Absatz 2 dieses Artikels genannten Maßnahmen angewandt wurde, berufen können, um die Gültigkeit eines in einem anderen Mitgliedstaat nach Ablauf der Sperrfrist erworbenen Führerscheins nicht anzuerkennen.

Die Mitgliedstaaten können vom Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins nicht verlangen, dass er die Bedingungen erfüllt, die ihr nationales Recht für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach ihrem Entzug aufstellt (EuGH, a.a.O., RdNr. 29).

Auch wenn der Europäische Gerichtshof im Fall „Halbritter“ auf die durch die Behörden des ausstellenden Mitgliedstaates erfolgte Eignungsprüfung nach dem Recht des Ausstellungsstaates verweist (EuGH, a.a.O., RdNr. 31), so sind der Entscheidung keine Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, dass die unbedingte Pflicht zur Anerkennung einer nach Ablauf der Sperrfrist in einem Mitgliedstaat der EU erworbenen Fahrerlaubnis davon abhängig ist, in welcher Form der ausstellende Staat die Fahreignung geprüft hat. Insbesondere die Schlussfolgerung Nummer 1 ist insoweit eindeutig, als darin ausdrücklich statuiert wird, dass ein Mitgliedstaat die Gültigkeit eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins nach dessen Entzug nicht deshalb verweigern werden darf, weil sich der Inhaber „nicht der nach den Rechtsvorschriften dieses Staates für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis nach dem genannten Entzug erforderlichen Fahreignungsprüfung unterzogen hat, wenn die mit diesem Entzug verbundene Sperrfrist für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis abgelaufen war, als der Führerschein in dem anderen Mitgliedstaat ausgestellt wurde (EuGH, a.a.O., Schlussfolgerung Nr. 1 a.E.). Nach den oben wiedergegebenen Ausführungen des Europäischen Gerichtshofs kommt es für die Pflicht zur Anerkennung eines ausländischen Führerscheins wohl auch nicht darauf an, ob die vor der Erteilung des ausländischen Führerscheins entstandenen Gründe für Fahreignungszweifel über die Erteilung des Führerscheins hinaus fortwirken (so NdsOVG vom 11.10.2005, DAR 2005, 704).



Wenn das Ergebnis auch unter dem Gesichtspunkt der Verkehrssicherheit, die mit den Bestimmungen der „Zweiten Führerschein-Richtlinie“ ebenfalls erhöht werden sollte, nicht befriedigend sein mag, so hat der Europäische Gerichtshof der Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung von durch Mitgliedstaaten der Europäischen Union ausgestellten Führerscheinen auf der Grundlage geltenden Rechts jedoch höheres Gewicht beigemessen. Die in der zitierten Entscheidung vom Europäischen Gerichtshof statuierte strikte Pflicht zur gegenseitigen Anerkennung von Führerscheinen, die von Mitgliedstaaten der Europäischen Union ausgestellt wurden, veranlasst das Gericht, seine bisherige Ansicht aufzugeben, dass die Vorschriften des § 28 Abs. 4 Nr. 3, Abs. 5 FeV mit hoher Wahrscheinlichkeit mit europäischen Recht vereinbar sind; ebenso ist nach der jüngsten Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs kein Raum mehr für eine Interessenabwägung für den Fall, dass die Frage der Vereinbarkeit der zitierten Normen mit Europarecht offen ist (vgl. zuletzt: VG Augsburg vom 18. Mai 2006, Au 3 S 06.588).

b) Damit erweist sich die Forderung nach Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens nach § 13 Nr. 2 lit. c FeV im vorliegenden Fall als rechtswidrig. Denn die Trunkenheitsfahrt des Antragstellers vom 26. Mai 2003, die allein Eignungszweifel auslöst, lag vor Erteilung des Führerscheins in Tschechien am 9. November 2005. Die Forderung widersprach der oben dargestellten unbedingten gegenseitigen Verpflichtung zur Anerkennung von durch Mitgliedstaaten der EU ausgestellten Führerscheinen. Somit durfte aus der nicht erfolgten Vorlage des Gutachtens nicht auf die fehlende Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen geschlossen werden (§ 11 Abs. 8 FeV). Entsprechend entfällt die Verpflichtung zur Vorlage des Führerscheins bei der Behörde. Die kraft ausdrücklicher Regelung in Art. 21 a des Bayerischen Verwaltungszustellungs-und Vollstreckungsgesetzes (VwZVG) von Gesetzes wegen sofort vollziehbare Zwangsgeldandrohung ist ebenfalls rechtswidrig. ..."

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