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OVG Lüneburg Beschluss vom 08.09.2006 - 12 ME 139/06 - Bei Verdacht auf Alkoholismus nach Erteilung einer EU-Fahrerlaubnis ist eine MPU anzuordnen

OVG Lüneburg v. 08.09.2006: Bei Verdacht auf Alkoholismus nach Erteilung einer EU-Fahrerlaubnis ist eine MPU anzuordnen




   Zwar ist die aufschiebende Wirkung gegen die sofortige Vollziehbarkeit einer Nutzungsuntersagung wieder herzustellen, wenn die Behörde ihre Verfügung getroffen hat, bevor ein "neuer" Vorfall nach Erteilung einer polnischen Fahrerlaubnis den Verdacht auf Alkoholmissbrauch ohne Verkehrsteilnahme begründet; jedoch kann in einem solchen Fall die Beibringung eines positiven Fahreignungsgutachtens (MPU) angeordnet werden.

Siehe auch
Stichwörter zum Thema EU-Führerschein
und
Die Nutzungsuntersagung bzw. Nichtanerkennung einer ausländischen EU-Fahrerlaubnis im Inland

Zum Sachverhalt:


Der Antragsteller begehrt die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die Aberkennung des Rechts, von seiner polnischen Fahrerlaubnis der Klasse B in Deutschland Gebrauch zu machen.

Der Antragsteller ist deutscher Staatsangehöriger. Er ist seit dem 15. November 1986 durchgehend in B. gemeldet. Außerdem unterhält er jedenfalls zeitweise einen Zweitwohnsitz in Polen.

Mit rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts Langen vom 8. März 2003 wurde der Antragsteller u. a. wegen vorsätzlicher Trunkenheit im Verkehr in zwei Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 75 Tagessätzen verurteilt. Er hatte am 3. August 2003 bei einer Blutalkoholkonzentration (BAK) von 2,52 ‰ sowie am 23. August 2003 bei einer BAK von 1,99 ‰ ein Kraftfahrzeug im Straßenverkehr geführt. Das Amtsgericht B. entzog dem Antragsteller die Fahrerlaubnis, zog seinen Führerschein ein und ordnete eine Sperre für die Wiedererteilung von einem Jahr ab Rechtskraft des Urteils an.




Ende Mai 2005 fragte die Fahrerlaubnisbehörde in C. /Polen beim Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) in Flensburg an, ob Bedenken gegen die Erteilung einer Fahrerlaubnis an den Antragsteller bestünden. Daraufhin wies das KBA am 24. Juni 2005 auf die bestehende Eintragung im Verkehrszentralregister sowie darauf hin, dass der Antragsteller sich vor einer Neuerteilung der Fahrerlaubnis in Deutschland einer medizinisch-psychologischen Untersuchung würde unterziehen müssen. Bereits am 6. Juni 2005 erteilte die Fahrerlaubnisbehörde in C. dem Antragsteller eine Fahrerlaubnis der Klasse B.

Unter dem 6. Januar 2006 teilte der Antragsgegner dem Antragsteller mit, dass er auf Grund der Entziehung der deutschen Fahrerlaubnis wegen der von dem Antragsteller begangenen Trunkenheitsdelikte Zweifel an dessen Fahreignung hege. Er forderte ihn auf, ein medizinisch-psychologisches Gutachten zu der Frage beizubringen, ob zu erwarten stehe, dass er künftig ein Fahrzeug unter Alkoholeinfluss führen werde und/oder ob infolge eines unkontrollierten Alkoholkonsums Beeinträchtigungen vorlägen, welche das sichere Führen von Kraftfahrzeugen in Frage stellten. Da der Antragsteller das Gutachten nicht vorlegte, entzog der Antragsgegner ihm mit Bescheid vom 8. Februar 2006 die Fahrerlaubnis mit der Wirkung der Aberkennung des Rechts, von dieser im Inland Gebrauch zu machen, forderte ihn zum Zweck der Eintragung des Aberkennungsvermerks zur Vorlage seines polnischen Führerscheins auf und ordnete die sofortige Vollziehung der Verfügung an. Gegen diesen Bescheid hat der Antragsteller Klage erhoben (1 A 586/06), über die noch nicht entschieden worden ist, und zugleich die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes beantragt.

Diesen Antrag hat das Verwaltungsgericht mit Beschluss vom 21. März 2006 abgelehnt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Antragsgegner sei für die Maßnahme zuständig, da der Antragsteller durchgehend in L. gemeldet sei, also dort einen Wohnsitz unterhalte. In der Sache sei die Anordnung des Antragsgegners nicht zu beanstanden. Die wiederholten Trunkenheitsfahrten des Antragstellers deuteten auf eine Ungeeignetheit des Antragstellers zum Führen von Kraftfahrzeugen. Der Antragsgegner sei deshalb berechtigt, von dem Antragsteller zur Klärung der Frage der Eignung die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zu verlangen. Da der Antragsteller dieses Gutachten nicht vorgelegt habe, sei ihm die polnische Fahrerlaubnis mit der Wirkung der Aberkennung des Rechts, von ihr in Deutschland Gebrauch zu machen, zu entziehen. Die europarechtlichen Vorschriften zur gegenseitigen Anerkennung von Fahrerlaubnissen in den einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union stünden dem nicht entgegen.

Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Antragstellers, mit der er u. a. geltend macht, dass den polnischen Behörden bei der Ausstellung des Führerscheins die Entziehung der Fahrerlaubnis in Deutschland bekannt gewesen sei, dass ein auf seinen Antrag in Polen erstelltes neues psychologisches Gutachten nicht zu Zweifeln an seiner Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen gekommen sei und dass die Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts jedenfalls dem Beschluss des Gerichtshofes der Europäischen Gemeinschaft (EuGH) vom 06. April 2006 (C-227/05 ) widerspreche. Der Antragsgegner verweist dagegen darauf, dass der Antragsteller am 25. April 2006 stark betrunken und Selbstmordabsichten äußernd auf einer Parkbank aufgefunden worden sei, was die Zweifel an der Fahreignung bestätige.





Aus den Entscheidungsgründen:


"... Die Beschwerde des Antragstellers ist begründet. Der Antragsteller hat nach seinem Beschwerdevorbringen – das Oberverwaltungsgericht prüft gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO nur die dargelegten Gründe – Anspruch auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gemäß § 80 Abs. 5 VwGO (Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der Klage).

Soweit der Antragsteller allerdings geltend macht, dass er in Polen auch wohnhaft gemeldet (gewesen) sei, kann er damit die Zuständigkeit des Antragsgegners nicht mit Erfolg in Zweifel ziehen. Er war und ist in B. wohnhaft gemeldet. Aus der von ihm vorgelegten polnischen Meldebestätigung ergibt sich nur, dass er in den Jahren 2005 und 2006 für Zeiträume zwischen einem und drei Monaten in Polen gemeldet war. Seinen Hauptwohnsitz in Deutschland im Zuständigkeitsbereich des Antragsgegners hat er ersichtlich nicht aufgegeben.

Im Ergebnis mit Erfolg verweist der Antragsteller aber darauf, dass die von dem Antragsgegner unter dem 06. Januar 2006 erlassene erneute Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens und in der Folge die Entziehung der Fahrerlaubnis gegen die gemeinschaftsrechtliche Führerschein-Richtlinie in der Auslegung verstoße, die diese in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (vgl. insbesondere Urt. v. 19.4.2004 - C-476/91 - , NJW 2004, 1725 = DAR 2004, 333 = NZV 2004, 372, und Beschl. v. 6.4.2006 - C-227/05 - , NJW 2006, 2173 = DVBl. 2006, 375 = ZfSch 2006, 416) gefunden habe.

Auch nach den Maßstäben der zuletzt genannten neueren Entscheidung des EuGH kann nicht in Zweifel stehen, dass die Mitgliedstaaten durch Art. 8 Abs. 2 der Führerschein-Richtlinie ermächtigt werden, ihre nationalen Eignungsüberprüfungs- und Entzugsvorschriften jedenfalls auf diejenigen Fahrzeugführer anzuwenden, die zeitlich nach Erteilung einer EU-Fahrerlaubnis (erneut) im Inland auffällig werden bzw. Bedenken im Hinblick auf ihre Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen begründen (vgl. hierzu die Nachweise im Beschluss des Senats v. 11.10.2005 - 12 ME 288/05 -, DVBl. 2006, 192 = DAR 2005, 704 = VkBl 2005, 785; ebenso Beschl. v. 14.8.2006 - 12 ME 123/06 -, V. n. b.).


Im Fall des Antragstellers hat der Antragsgegner seinen Bescheid vom 8. Februar 2006 allerdings nicht darauf gestützt, dass der Antragsteller nach Erteilung der polnischen Fahrerlaubnis im Inland erneut auffällig geworden sei bzw. Bedenken im Hinblick auf seine Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen neu begründet habe. Vielmehr ist er davon ausgegangen, dass aufgrund der zeitlich früher liegenden Trunkenheitsfahrten Zweifel an seiner Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen weiterhin bestünden und deshalb die Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens gerechtfertigt sei. Ergänzend macht der Antragsgegner im Beschwerdeverfahren geltend: Inzwischen liege ein neuer Sachverhalt vor, der Zweifel daran begründe, ob der Antragsteller die früher vorhanden gewesene Alkoholproblematik überwunden habe. Ausweislich des von dem Antragsgegner vorgelegten Polizeiberichts vom 26. April 2006 sei der Antragsteller nämlich am Tag zuvor stark betrunken und Selbstmordabsichten äußernd auf einer Bank an einem Spielplatz aufgefunden worden, wobei er in einer Plastiktasche zwei leere 0,7-Liter-Flaschen Korn mit sich geführt habe. Begründete Zweifel an der Richtigkeit dieser Darstellung bestehen nicht.

Dennoch kann der Vorfall vom 25. April 2006 nicht bei der Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Aufforderung zur Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens bzw. in der Folge der hier angegriffenen Entziehung der Fahrerlaubnis berücksichtigt werden. Denn eine Aufforderung zur Gutachtenbeibringung kann, sollte sie fehlerhaft sein, generell nicht dadurch geheilt werden, dass die Fahrerlaubnisbehörde nachträglich im Gerichtsverfahren darlegt, objektiv hätten seinerzeit - weitere - Umstände vorgelegen, die Anlass zu Zweifeln an der Fahreignung hätten geben können. Vielmehr bleibt es der Behörde unbenommen, eine neue Aufforderung mit der Begründung zu erlassen, dass zwischenzeitlich zu Tage getretenes weiteres Material begründeteren Anlass zur Annahme der Fahrungeeignetheit biete (BVerwG, Urteil vom 05.07.2001 - BVerwG 3 C 13.01 -, NJW 2002, 78, 80). Das gilt erst recht dann, wenn die weiteren oder neuen Zweifel an der Fahreignung sich wie hier erst zeitlich nach der Aufforderung bzw. der Fahrerlaubnisentziehung ergeben haben (BVerwG, Beschl. v. 16.12.1994 - BVerwG 11 B 107/94 -, juris). Für die Entscheidung kommt es hier deshalb nur darauf an, ob der im Zeitpunkt der Aufforderung zur Beibringung des Gutachtens bzw. der Fahrerlaubnisentziehung bekannte Sachverhalt diese Maßnahmen rechtfertigte (vgl. zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Fahrerlaubnisentziehung wegen Alkoholkonsums auch Beschl. d. Senats v. 14.01.2000 - 12 O 136/00 -, V. n. b.). Das ist nicht der Fall.

Nach §§ 3 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 2 Satz 1 und 2 StVG, 46 Abs. 1, Abs. 3, Abs. 5 Satz 2, 11 Abs. 1 Satz 1 und 2, Abs. 8, 13 Nr. 2 c), d) und e) FeV i. V. m. Nr. 8 der Anlage 4 zu dieser Verordnung hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn Erkrankungen oder Mängel (u. a.) nach der Anlage 4 zur Fahrerlaubnis-Verordnung, in deren Nr. 8.1 und 8.3 Alkoholmissbrauch und Alkoholabhängigkeit genannt sind, vorliegen oder erheblich bzw. wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde. Werden Tatsachen bekannt, die Bedenken begründen, dass der Inhaber einer Fahrerlaubnis zum Führen eines Kraftfahrzeuges ungeeignet ist, hat die Fahrerlaubnisbehörde die vorgesehenen Aufklärungsmaßnahmen zu treffen, insbesondere die Beibringung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens anzuordnen, wenn ein Fahrzeug im Straßenverkehr bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,6 ‰ oder mehr geführt wurde, die Fahrerlaubnis aus diesem Grund entzogen war oder sonst zu klären ist, ob ein Alkoholmissbrauch nicht mehr besteht. Weigert sich der Betroffene, einer rechtmäßigen Untersuchungsanordnung Folge zu leisten oder bringt er das zu Recht geforderte Gutachten nicht fristgerecht bei, darf die Fahrerlaubnisbehörde auf seine Nichteignung schließen. Bei Inhabern einer ausländischen Fahrerlaubnis hat eine Entziehung die Wirkung einer Aberkennung des Rechts zur Folge, von dieser Fahrerlaubnis im Inland Gebrauch zu machen. Der Führerschein ist in diesem Fall bei Vollziehbarkeit der behördlichen Maßnahme unverzüglich der Fahrerlaubnisbehörde abzuliefern, die diesen unter Angabe der Gründe über das Kraftfahrt-Bundesamt an die Ausstellungsbehörde zurücksendet. Diese nationalen Vorschriften knüpfen an Art. 8 Abs. 2 der Führerschein-Richtlinie an. Danach kann vorbehaltlich der Einhaltung des straf- und polizeirechtlichen Territorialitätsprinzips der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes auf den Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins seine innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis anwenden und zu diesem Zweck den betreffenden Führerschein erforderlichenfalls umtauschen.




Es ist - wie bereits erwähnt - in Rechtsprechung und Literatur unbestritten, dass die Mitgliedstaaten durch Art. 8 Abs. 2 der Führerschein-Richtlinie ermächtigt werden, ihre nationalen Eignungsüberprüfungs- und. Entzugsvorschriften jedenfalls auf diejenigen Fahrzeugführer anzuwenden, die nach Erteilung einer EU-Fahrerlaubnis (erneut) im Inland auffällig werden und dadurch Bedenken im Hinblick auf ihre Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen begründen (Beschluss des Senats v. 11.10.2005 - 12 ME 288/05 - a. a. O. mit weiteren Nachweisen). Ob eine der Erteilung der EU-Fahrerlaubnis nachfolgende Eignungsüberprüfungs- bzw. Entzugsentscheidung nach mitgliedstaatlichem Recht auch ausschließlich auf solche Sachverhalte gestützt werden kann, die zeitlich vor der – nach Ablauf einer im Inland strafgerichtlich verhängten Sperre für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis erfolgten – Erteilung der EU-Fahrerlaubnis eingetreten sind, ist nunmehr unter Berücksichtigung des Beschlusses des EuGH vom 06. April 2006 (- C-227/05 - , NJW 2006, 2173 = DVBl. 2006, 375 = ZfSch 2006, 416) fraglich.

Der Beschluss des EuGH befasst sich gemäß den Vorlagefragen zum einen mit der Problematik, ob es Artikel 1 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 8 Absätze 2 und 4 der Richtlinie 91/439 einem Mitgliedstaat verwehrt, das Recht zum Führen eines Kraftfahrzeugs aufgrund eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins und damit dessen Gültigkeit in seinem Hoheitsgebiet deshalb nicht anzuerkennen, weil sich sein Inhaber, dem in dem erstgenannten Staat eine vorher erteilte Fahrerlaubnis entzogen worden war, nicht der nach den Rechtsvorschriften dieses Staates für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis nach dem genannten Entzug erforderlichen Fahreignungsprüfung unterzogen hat, wenn die mit diesem Entzug verbundene Sperrfrist für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis abgelaufen war, als der Führerschein in dem anderen Mitgliedstaat ausgestellt wurde. Zum anderen geht es um die Frage, ob es Artikel 1 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 8 Absätze 2 und 4 der Richtlinie 91/439 einem Mitgliedstaat, bei dem die Umschreibung eines in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen gültigen Führerscheins in einen nationalen Führerschein beantragt wird, verwehrt, diese Umschreibung davon abhängig zu machen, dass eine erneute Untersuchung der Fahreignung des Antragstellers vorgenommen wird, die nach dem Recht des erstgenannten Mitgliedstaats zur Ausräumung entsprechender Zweifel aufgrund von Umständen erforderlich ist, die vor dem Erwerb des Führerscheins in dem anderen Mitgliedstaat bestanden.

Zu der ersten Frage führt der EuGH aus (Rdnr. 29 des Beschlusses):
„Daraus folgt, dass sich die Mitgliedstaaten nicht auf die ihnen mit Artikel 8 Absatz 2 der Richtlinie 91/439 eingeräumte Befugnis, auf Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins ihre innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis anzuwenden, sowie die Befugnis nach Absatz 4 desselben Artikels, die Anerkennung der Gültigkeit eines solchen Führerscheins einer Person zu verweigern, auf die in ihrem Hoheitsgebiet eine der in Absatz 2 dieses Artikels genannten Maßnahmen angewandt wurde, berufen können, um die Gültigkeit eines in einem anderen Mitgliedstaat nach Ablauf der Sperrfrist erworbenen Führerscheins nicht anzuerkennen. Die Mitgliedstaaten können vom Inhaber eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins nicht verlangen, dass er die Bedingungen erfüllt, die ihr nationales Recht für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis nach ihrem Entzug aufstellt.“
In seinen weiteren Erwägungen hebt der EuGH „im Übrigen“ (Rdnr. 30 des Beschlusses) Besonderheiten im Sachverhalt des Ausgangsverfahrens hervor – Wohnsitz in dem Mitgliedstaat der EU, der die Fahrerlaubnis ausgestellt hat; ferner Überprüfung der Fahreignung durch medizinische Untersuchungen bzgl. Drogen- und Arzneimittelkonsum – (Rdnrn. 30 u. 31 des Beschlusses) und fasst zusammen (Rdnr 32 des Beschlusses):
„Aufgrund aller vorstehenden Erwägungen ist auf die erste Frage zu antworten, dass es Artikel 1 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 8 Absätze 2 und 4 der Richtlinie 91/439 einem Mitgliedstaat verwehrt, das Recht zum Führen eines Kraftfahrzeugs aufgrund eines in einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins und damit dessen Gültigkeit in seinem Hoheitsgebiet deshalb nicht anzuerkennen, weil sich sein Inhaber, dem in dem erstgenannten Staat eine vorher erteilte Fahrerlaubnis entzogen worden war, nicht der nach den Rechtsvorschriften dieses Staates für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis nach dem genannten Entzug erforderlichen Fahreignungsprüfung unterzogen hat, wenn die mit diesem Entzug verbundene Sperrfrist für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis abgelaufen war, als der Führerschein in dem anderen Mitgliedstaat ausgestellt wurde.“
Ähnlich heißt es zur zweiten Frage (Beschluss Rdnr. 39):

   „Somit ist auf die zweite Frage zu antworten, dass es Artikel 1 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 8 Absätze 2 und 4 der Richtlinie 91/439 einem Mitgliedstaat, bei dem die Umschreibung eines in einem anderen Mitgliedstaat erworbenen gültigen Führerscheins in einen nationalen Führerschein beantragt wird, unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens verwehrt, diese Umschreibung davon abhängig zu machen, dass eine erneute Untersuchung der Fahreignung des Antragstellers vorgenommen wird, die nach dem Recht des erstgenannten Mitgliedstaats zur Ausräumung entsprechender Zweifel aufgrund von Umständen erforderlich ist, die vor dem Erwerb des Führerscheins in dem anderen Mitgliedstaat bestanden.“

Dies deutet zunächst darauf hin, dass nach Auffassung des EuGH Umstände, die zeitlich vor der Ausstellung der Fahrerlaubnis in dem anderen Mitgliedsstaat liegen – im Fall des Antragstellers hier die Trunkenheitsfahrten im August 2003 –, nicht mehr zum Anlass für erneute Maßnahmen zur Überprüfung der Fahreignung oder Beschränkungen des Rechts zur Nutzung der Fahrerlaubnis genommen werden können.




Allerdings hat der EuGH auch Besonderheiten im Fall des dortigen Klägers angesprochen (insbesondere Rdnrn. 30 und 31 des Beschlusses) und seine Entscheidung „aufgrund aller vorstehenden Erwägungen“ (Rdnr 32 des Beschlusses) getroffen, was dafür sprechen könnte, dass der Ausschluss der Heranziehung vor der Fahrerlaubniserteilung liegender Sachverhalte nur für mit dem dortigen Ausgangsfall vergleichbar besonders gelagerte Fallkonstellationen gelten soll (so z. B. VG Freiburg, B. v. 01.06.2006 - 1 K 752/06 -, V. n. b. ; VG Chemnitz, Beschl. v. 07.06.2006 - 2 K 1377/05 -, V. n. b.). Die Einleitung der Ausführungen zu den Besonderheiten im Fall des dortigen Klägers mit den Worten „im Übrigen“ (Rdnr. 30 des Beschlusses) kann indessen auch bedeuten, dass diese Ausführungen im Anschluss an die grundsätzliche Feststellung in Rdnr. 29 des Beschlusses nur ergänzenden Charakter haben, aber nicht die Entscheidung tragen sollen.

Die Vereinbarkeit der Auffassung des VG Freiburg (a. a. O.), dass sich „die Beschränkung der Eignungsüberprüfung durch die nationale Behörde, wie sie der EuGH vertritt, sinnvollerweise nur auf Fälle und Entzugsgründe beziehen [kann], die bereits vor der Neuerteilung der ausländischen Fahrerlaubnis abgeschlossen sind, nicht aber auf solche, die wie ein Alkoholproblem darüber hinaus fortwirken“, mit den Ausführungen des EuGH ist fraglich. Die weitere Erwägung des VG Freiburg, dass die von dem EuGH in seinem Beschluss zugrundegelegte Basis einer Harmonisierung der materiellen nationalen Vorschriften bislang ebenso fehle wie ein einheitliches europäisches Straßenverkehrsregister, ist zwar richtig. Es ist aber auch nicht anzunehmen, dass der EuGH das übersehen hätte. Der EuGH geht vielmehr von einer in sich geschlossenen europarechtlichen Vorgabe für die gegenseitige Anerkennung von Führerscheinen in den Mitgliedstaaten der EU aus und entscheidet auf dieser Grundlage gerade auch im Hinblick auf die unzureichende Harmonisierung der nationalen Vorschriften (Rdnr. 28 des EuGH-Beschlusses).

Die angesprochenen auch nach der Entscheidung des EuGH vom 06. April 2006 fortbestehenden Fragen können im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nicht einer Klärung zugeführt werden. Der Senat trifft deshalb eine Ermessensentscheidung nach § 80 Abs. 5 VwGO unter Abwägung der Interessen des Antragstellers einerseits und der öffentlichen Interessen andererseits. Diese Abwägung fällt aus folgenden Erwägungen hier zu Gunsten des Antragstellers aus:

Die von dem Amtsgericht in seinem Urteil vom 08. März 2003 verhängte Sperrzeit für die Neuerteilung einer Fahrerlaubnis war bei Ausstellung der Fahrerlaubnis durch die polnische Führerscheinstelle abgelaufen.

Es drängt sich nicht auf, dass der Antragsteller die in Deutschland geltenden Bestimmungen (wie der Antragsteller in dem dem Beschluss des VG Chemnitz a. a. O. zugrunde liegenden Fall) umgehen wollte. Er war zwar weiterhin in Deutschland gemeldet, hielt sich aber offenbar über längere Zeiträume tatsächlich zur Arbeit in Polen auf und war dort auch zeitabschnittsweise gemeldet. Es drängt sich deshalb auch nicht der Eindruck auf, der Antragsteller hätte sich nur zum Führerscheinerwerb in Polen aufgehalten.




Die polnische Fahrerlaubnisbehörde hat zwar eine Anfrage an das Kraftfahrtbundesamt gerichtet, aber den Führerschein vor Eingang einer Antwort ausgestellt, also faktisch auf die Antwort verzichtet. Eine eventuelle Unkenntnis der Fahrerlaubnisbehörde von der vorausgegangenen Entziehung der Fahrerlaubnis kann deshalb nicht zu Lasten des Antragstellers gehen. Dem Vortrag des Antragstellers, er habe selbst eine entsprechende Angabe bei der Fahrerlaubnisbehörde gemacht, braucht deshalb nicht nachgegangen zu werden.

Der zu dem Beschluss des EuGH vom 06. April 2006 herausgegebene Erlass des Niedersächsischen Ministeriums für Wirtschaft und Verkehr (MW) vom 12. Juli 2006 (43.2-30017 22) sieht unter Ziff. 3 in Fällen, in denen nach Ablauf einer Sperrfrist ein Führerschein im EU-Ausland erworben wurde, keine Maßnahmen gegen den Fahrerlaubnisinhaber vor, es sei denn, es bestehen Anhaltspunkte für die Fahreignung des Betroffenen ausschließende Umstände, die nach der Erteilung der EU-Fahrerlaubnis eingetreten sind. Da im vorliegenden Verfahren auf den Zeitpunkt der Anforderung des Eignungsgutachtens bzw. des Erlasses des angefochtenen Bescheides abzustellen ist, greift die genannte Einschränkung hier nicht ein.

Auf der anderen Seite ist das öffentliche Interesse an der Sicherheit des Straßenverkehrs zu berücksichtigen. Die Teilnahme alkoholisierter Fahrer am Straßenverkehr gefährdet Leben und Gesundheit anderer Verkehrsteilnehmer. Sieht man den neuen Vorfall vom 25. April 2006 in Zusammenhang mit den früheren Trunkenheitsfahrten des Antragstellers, erscheint ein Fortbestehen der Probleme des Antragstellers im Umgang mit Alkohol als wahrscheinlich. Das erfordert aber nicht, die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der Entziehung der Fahrerlaubnis durch den Antragsgegner aufrecht zu erhalten.



Zwar rechtfertigt der Vorfall vom 25. April 2006 nicht unmittelbar die (erneute) Entziehung der Fahrerlaubnis ohne vorherige Anforderung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 StVG i. V. m. § 46 Abs. 1 Satz 1 FeV hat die Fahrerlaubnisbehörde die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn sich deren Inhaber als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Dies gilt gemäß § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV insbesondere, wenn Erkrankungen oder Mängel nach den Anlagen 4, 5 oder 6 vorliegen, oder erheblich oder wiederholt gegen verkehrsrechtliche Vorschriften oder Strafgesetze verstoßen wurde und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist. In Nr. 8 der Anlage 4 zur FeV wird bezüglich Alkohol ausgeführt, dass die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen bei Alkoholmissbrauch (Nr. 8.1) und bei Alkoholabhängigkeit (Nr. 8.3) grundsätzlich nicht besteht. Alkoholmissbrauch liegt vor, wenn das Führen von Kraftfahrzeugen und ein die Fahrsicherheit beeinträchtigender Alkoholkonsum nicht hinreichend sicher getrennt werden können. Da die Trunkenheit des Antragstellers außerhalb der Teilnahme am Straßenverkehr bei den hier gegebenen Umständen weder einen Alkoholmissbrauch im vorgenannten Sinn noch eine Abhängigkeit unmittelbar belegt, scheidet eine Fahrerlaubnisentziehung ohne vorherige (neue) Begutachtung seiner Fahreignung aus.

Der Antragsgegner ist aber nach derzeitiger Einschätzung berechtigt, aufgrund des Vorfalls vom 25. April 2006 in einem neuen Verwaltungsverfahren den Antragsteller alsbald erneut zur Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens aufzufordern und ggf. bei negativem Ergebnis des Gutachtens oder bei Nichtvorlage des Gutachtens die Fahrerlaubnis neu zu entziehen. Der Antragsgegner hätte das bereits einleiten können, hat davon aber trotz wiederholter Hinweise des Senats auf die sich aus der Entscheidung des EuGH vom 06. April 2006 ergebenden Folgen abgesehen. Die damit verursachte Verzögerung der Überprüfung der Fahreignung des Antragstellers begründet ein Überwiegen der öffentlichen Belange gegenüber den Interessen des Antragstellers nicht. ..."

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