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BGH Beschluss vom 29.08.1974 - 4 StR 171/74 - Aus der Haltereigenschaft darf nicht ohne weiteres auf die Fahrzeugführereigenschaft geschlossen werden
BGH v. 29.08.1974: Aus der Haltereigenschaft darf nicht ohne weiteres auf die Fahrzeugführereigenschaft geschlossen werde
Der BGH (Beschlusses vom 29.08.1974 - 4 StR 171/74) hat entschieden:
- Die Haltereigenschaft des Betroffenen, der die Einlassung zur Sache verweigert, kann für sich allein, auch wenn es sich um ein privat genutztes Fahrzeug handelt, nicht als ausreichendes Beweisanzeichen dafür gewertet werden, dass er das Fahrzeug zur Tatzeit einer mit ihm begangenen Verkehrsordnungswidrigkeit geführt habe.
- Aus der Zeit und dem Tatort der Ordnungswidrigkeit, dem Beruf, den Familienverhältnissen und Lebensumständen des Fahrzeughalters können sich jedoch in vielen Fällen Anhaltspunkte ergeben, die als Beweisanzeichen für oder auch gegen die Täterschaft des Halters verwertbar sind.
Siehe auch Fahrzeughalter und Fahrzeugführer
Aus den Gründen:
... Die Frage ist überhaupt nur bei sogenannten Privatfahrzeugen strittig. Darüber, dass ohne Rücksicht auf die Art des Fahrzeugs und seine Verwendung aus der Haltereigenschaft (genauer: aus der Eigenschaft als Inhaber der amtlichen Zulassung) allein nicht ohne weiteres gefolgert werden kann, der „Halter habe das Fahrzeug - zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort geführt, herrscht kein Streit. Auch das OLG will hier nur die Rechtsansicht des AG missbilligen, dass ein solcher Schluss jedenfalls bei privat genutzten Fahrzeugen zulässig sei, weil diese erfahrungsgemäß ausschließlich oder fast ausschließlich von ihren Haltern benutzt zu werden pflegten. Unter einem Privatfahrzeug versteht dabei das AG, seinen Urteilsgründen zufolge, in Fahrzeug, das dem Halter „zu privaten, nicht geschäftlichen wecken dient”. Ob diese Begriffsbestimmung in jedem Falle eine brauchbare Abgrenzung ermöglicht, kann auf sich beruhen; man denke z. B. an einen Personenkraftwagen, den ein freiberuflich Tätiger teils zu privaten, teils zu beruflichen Fahrrouten benutzt. Es kann ferner dahingestellt bleiben, auf welche Weise festgestellt werden kann, ob es sich um eine „Privatfahrzeug” oder ein für geschäftliche Zwecke genutztes Fahrzeug handelt, wenn der Halter, etwa ein Kaufmann, nicht zur Sache aussagt. Auf all das kommt es hier jedoch nicht an, da der Rechtsansicht des OLG zuzustimmen ist, dass der Schluss des AG auch bei sogenannten Privatfahrzeugen nicht zulässig ist.
In der obergerichtlichen Rechtsprechung wird die Vorlegungsfrage nicht einheitlich beantwortet. Überwiegend wird sie vereint, so vom BayObLG (bei Rüth in DAR 1973, 197, 215), vom 2. Strafsenat des OLG Hamm (VRS 43, 364 und 46, 293), vom KG (VRS 45, 287 unter Aufgabe der in VRS 42, 217 vertretenen gegenteiligen Ansicht), vom OLG Gelle (VRS 46; 140 sowie in der vorliegenden Sache); dieselbe Auffassung vertritt er z in DAR 1974, 197. Bejaht wird die Frage, soweit ersichtlich, nur vom 3. und vom 5. Strafsenat des OLG Hamm (NJW 973, 159 und JMBI. NRW 1973, 233; vgl. ferner DAR 1972, 190).
Der Senat stimmt der Rechtsansicht des vorlegenden OLG zu. Daraus allein, dass der Betroffene der Halter eines privat genutzten Fahrzeugs ist, darf beim Fehlen jedes weiteren Beweisanzeichens nicht gefolgert werden, dass er das Fahrzeug einer bestimmten Fahrt tatsächlich selbst geführt hat.
An sich ist dieser Schluss zwar weder denkgesetz- noch erfahrungswidrig; er ist also möglich. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung gilt auch für den mittelbaren Beweis. Der Richter ist dabei nicht an Beweisregeln gebunden. Tatsächliche Schlüsse, die er aus Beweisanzeichen zieht, müssen möglich,
brauchen aber nicht zwingend zu sein. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass sich der Richter dann, wenn eine Tatsache oder 'n Tatsachenkomplex mehrere verschiedene Deutungen zulässt, für eine von ihnen entscheiden darf, ohne die übrigen in seine Überlegungen einzubeziehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen: Er braucht zwar nicht jede theoretisch denkbare, den Umständen nach jedoch fernliegende Möglichkeit der Fallgestaltung zu berücksichtigen. Er erfüllt aber nicht seine Aufgabe, die Beweise nicht nur denkgesetzlich richtig und widerspruchsfrei, sondern auch erschöpfend zu würdigen, wenn er von mehreren naheliegenden tatsächlichen Möglichkeiten nur eine in Betracht zieht und die anderen außer acht lässt.
Es kann zwar davon ausgegangen werden, dass sogenannte Privatfahrzeuge überwiegend von ihren Haltern selbst gefahren werden. Genauere Untersuchungen liegen allerdings hierüber, soweit bekannt, nicht vor. Nicht selten werden aber Privatfahrzeuge auch von anderen Personen als von ihren Haltern geführt, z.B. von Familienangehörigen oder Angestellten oder von Freunden oder Bekannten des Halters. Diese Möglichkeit liegt jedenfalls nicht so fern, dass sie der Richter bei r Bildung seiner Überzeugung völlig außer acht lassen dürfte. Wie groß im Einzelfall die Wahrscheinlichkeit ist, dass Halter das Fahrzeug nicht selbst geführt hat, hängt von zahlreichen Umständen ab, die im einzelnen hier nicht erschöpfend angeführt werden können. Je nach der Art des Fahrzeugs und seiner Verwendungsmöglichkeiten sowie den Bedürfnissen und den Lebensumständen des Fahrzeughalters liegt eine gelegentliche Fremdbenutzung seines Fahrzeugs mehr oder weniger nahe. Die Haltereigenschaft allein jedenfalls ist beim Fehlen irgendwelcher sonstiger Anhaltspunkte kein ausreichendes Indiz für die Täterschaft einer Verkehrsordnungswidrigkeit.
Der Nachweis der Täterschaft des Halters kann auch nicht mit der Erwägung geführt werden, dass Anhaltspunkte für die Benutzung des Fahrzeugs durch eine andere Person nicht „ersichtlich” oder „hervorgetreten” seien. Eine solche Formulierung erweckt den Verdacht, dass der Richter die Tragweite des Grundsatzes „im Zweifel für den Angeklagten verkannt und gemeint hat, nur solchen tatsächlichen, den Betroffenen entlastenden Möglichkeiten nachgehen zu müssen, die offen zutage liegen. Die in § 78 OWiG vorgesehenen Erleichterungen bedeuten nicht, dass in Bußgeldsachen geringere Anforderungen an den Schuldnachweis zu stellen wären als im Strafverfahren. Die Pflicht zur erschöpfenden Sachaufklärung (§ 244 Abs. 2 StPO) lässt § 78 OWiG ausdrücklich unberührt.
Daraus, dass der Halter die Einlassung zur Sache verweigert oder sich darauf beschränkt, seine Täterschaft zu bestreiten, dürfen keine ihm nachteilige Schlüsse gezogen werden (BGHSt. 20, 281 VRS 30, 66; BGHSt. 20, 298; OLG Hamm in MDR 1973, 870; VRS 46, 143; OLG Celle in VRS 46, 140). Das gilt uneingeschränkt auch für den Kraftfahrzeughalter. Daher lässt sich der für seine Verurteilung wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit erforderliche Schuldnachweis in der Regel nur aufgrund weiterer Ermittlungen führen, wenn der Halter keine Aussagen zur Sache macht (vgl. OLG Hamm in VRS 43, 364, 365). Das bedeutet indessen nicht, dass in jedem Fall umfangreiche Beweise erhoben werden müssten. Die Aussageverweigerung des beschuldigten Fahrzeughalters zwingt nicht dazu, allen denkbaren, aber ganz unwahrscheinlichen oder gar abwegigen Fallgestaltungen nachzugehen. So kann z.B. im allgemeinen die Möglichkeit, dass der Fahrzeughalter seinen Wagen einem zu ihm nicht in näherer Beziehung stehenden Dritten überlassen hat, außer Betracht bleiben, wenn nicht besondere Umstände auf sie hindeuten. Wertvolle Spezialfahrzeuge werden die Halter im allgemeinen ungern Dritten überlassen (vgl. OLG Hamm JMBI. NRW 1973, 233). Ein Arzt wird Wert darauf legen, dass er seinen Wagen ständig für eilige Krankenbesuche zur Verfügung hat.
Wichtige Anhaltspunkte können sich aus Zeit und Ort der Ordnungswidrigkeit ergeben (vgl. OLG Hamm in VRS 46, 143: das Fahrzeug wurde zu später Nachtstunde auf einer Fahrt von einer Gaststätte, in der sich der Halter mehrere Stunden aufgehalten hatte, zu seiner Wohnung beobachtet), ferner aus dem Beruf des Halters (vgl. OLG Hamm in VRS 46, 293, 295: wenn er sich zur Tatzeit üblicherweise mit seinem Wagen auf dem Wege zur Arbeitsstelle oder nach der Arbeit auf dem Heimweg befindet) sowie aus seinen Familienverhältnissen (ob das Fahrzeug üblicherweise von mehreren Familienangehörigen benutzt wird, was durch Nachfrage in der Nachbarschaft ermittelt werden kann). Auch schriftliche oder mündliche Erklärungen, die der Betroffene in einem früheren Verfahrensstadium abgegeben hat, können je nach Lage des Falles gegen ihn verwertet werden, z. B. wenn sie widersprüchlich oder mit sonstigen Feststellungen unvereinbar sind. Der Senat ist der Meinung, dass sich in der Mehrzahl der in Betracht kommenden Fälle genügende Beweisanzeichen für oder auch gegen die Täterschaft des die Aussage verweigernden Fahrzeughalters finden lassen.