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BGH Urteil vom 30.09.2005 -V ZR 275/04 - Zur Adressierung des Widerrufs eine Prozessvergleichs
BGH v. 30.09.2005: Zur Adressierung des Widerrufs eine Prozessvergleichs
Der BGH (Urteil vom 30.09.2005 -V ZR 275/04) hat zum Problem der Adressierung eines Prozessvergleichswiderrufs entschieden:
Der Widerruf eines Prozessvergleichs kann wirksam sowohl dem Gericht als auch der anderen Vergleichspartei gegenüber erklärt werden, wenn die Parteien keine hiervon abweichende Vereinbarung getroffen haben; dies gilt jedenfalls für Prozessvergleiche, die seit dem 1. Januar 2002 geschlossen wurden.
Siehe auch Abfindungsvergleich und Prozessvergleich - Abschluss - Widerruf
Zum Sachverhalt: Die Parteien streiten um die prozessbeendigende Wirkung eines vor dem Landgericht im September 2003 geschlossenen Vergleichs, in dem es unter Nr. 4 heißt:
„Den Parteien bleibt vorbehalten, den Vergleich bis zum 23. September 2003 zu widerrufen“.
Mit bei dem Landgericht an diesem Tag eingegangenen Schriftsatz hat das beklagte Land den Widerruf des Vergleichs erklärt. Eine beglaubigte Abschrift dieses Schriftsatzes ist dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin erst nach Ablauf der Widerrufsfrist zugestellt worden. Auf Antrag der Klägerin hat das Landgericht festgestellt, dass der Rechtsstreit durch den gerichtlichen Vergleich beendet worden sei. Das Oberlandesgericht hat demgegenüber die Unwirksamkeit des Prozessvergleichs ausgesprochen. Hiergegen richtet sich die von dem Oberlandesgericht zugelassene Revision, mit der die Klägerin die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils erstrebt. Das beklagte Land beantragt die Zurückweisung des Rechtsmittels.
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Das beklagte Land hat den Vergleich wirksam durch die dem Gericht gegenüber abgegebene Erklärung widerrufen. Dem Berufungsgericht ist darin beizutreten, dass der Widerruf eines Prozessvergleichs sowohl dem Gericht als auch der anderen Vergleichspartei gegenüber wirksam erklärt werden kann, wenn der Vergleich keine abweichende Vereinbarung über den Widerrufsadressaten enthält; dies gilt jedenfalls für Prozessvergleiche, die seit dem 1. Januar 2002 geschlossen wurden.
1. Für die Beantwortung der Frage, wem gegenüber der in einem Prozessvergleich vorbehaltene Widerruf zu erklären ist, kommt es vorrangig auf eine in dem Vergleich getroffene Bestimmung an (BGH, Urt. v. 15. Januar 1980, I ZR 60/78, NJW 1980, 1753, 1754; Urt. v. 22. Juni 2005, VIII ZR 214/04, Umdruck S. 7, zur Veröffentlichung bestimmt; BAG NJW 1998, 2844, 2845; BVerwGE 92, 29, 30). Eine Vereinbarung der Parteien über den Widerrufsadressaten hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Die Revision verweist auf keine Umstände, aus der sich eine ihr günstige Abrede im Sinne einer ausschließlichen Empfangszuständigkeit des Vergleichspartners ergeben könnte.
2. Umstritten ist, wem gegenüber der Widerruf eines Prozessvergleichs zu erklären ist, wenn die Parteien hierüber keine Regelung getroffen haben.
a) Im Anschluss an das Reichsgericht (RGZ 161, 253, 255) hat der Bundesgerichtshof in älteren Entscheidungen die Auffassung vertreten, der Vorbehalt des Widerrufs gehöre zum sachlich-rechtlichen Teil eines Prozessvergleichs, sodass bei Fehlen einer Vereinbarung über die Empfangszuständigkeit der Widerruf als empfangsbedürftige Willenserklärung nach § 130 BGB wirksam nur dem Vergleichspartner gegenüber erklärt werden könne (BGH, Urt. v. 19. Januar 1955, IV ZR 160/54 LM BGB § 130 BGB Nr. 2 S. 2; Urt. v. 20. Februar 1958, II ZR 257/56, ZZP 71, 454, 455; offen gelassen nunmehr vom VIII. Zivilsenat, vgl. Urt. v. 22. Juni 2005, VIII ZR 214/04, Umdruck S. 7, zur Veröffentlichung bestimmt); jedoch hat er eigens darauf hingewiesen, dass die Annahme einer Empfangszuständigkeit des Gerichts durch stillschweigende Vereinbarung möglich sei (BGH, Urt. v. 20. Februar 1958, aaO). Dieser Hinweis hat in der Praxis vielfach zu der Annahme derartiger stillschweigender Vereinbarungen geführt (etwa OLG Düsseldorf NJW-RR 1987, 255, 256; OLG Köln NJW 1990, 1369; OLG Brandenburg NJW-RR 1996, 123; vgl. auch BGH, Urt. v. 22. Juni 2005, VIII ZR 214/04, Umdruck S. 7 ff.; BAG AP ZPO § 794 Nr. 1; BSGE 24, 4, 6). Die daraus resultierende Rechtsunsicherheit bei der Bestimmung des Widerrufsadressaten hat die Kommentarliteratur zu der Empfehlung bewogen, der Widerruf möge vorsorglich dem Gegner und dem Gericht gegenüber erklärt werden (vgl. etwa Zöller/Stöber, ZPO, 25. Aufl., § 794 Rdn. 10a m.w.N.). Auch fehlt es nicht an Stimmen im Schrifttum, die einer Empfangszuständigkeit sowohl des Gerichts als auch des Gegners den Vorzug einräumen (so etwa Stein/Jonas/Münzberg, ZPO, 22. Aufl., § 794 Rdn. 85 f. m.w.N.; MünchKomm-ZPO/Wolfsteiner, 2. Aufl., § 794 Rdn. 61; Wieczorek/ Schütze/Paulus, ZPO, 3. Aufl., § 794 Rdn. 39).
b) Im Bereich des Verwaltungsprozessrechts hat sich ein Wechsel in der Rechtsprechung vollzogen. Hatte sich das Bundesverwaltungsgericht zunächst ebenfalls der Auffassung des Reichsgerichts angeschlossen (BVerwGE 10, 110, 111), steht es nunmehr auf dem Standpunkt, ein Prozessvergleich könne nur dem Gericht gegenüber wirksam widerrufen werden (BVerwGE 92, 29, 30 ff.). Von einer Vorlage an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes hat das Bundesverwaltungsgericht die Entscheidung stammt aus dem Jahr 1993 mit der Erwägung abgesehen, die Zivilprozessordnung enthalte keine der Neufassung des § 106 VwGO vergleichbare Regelung und damit keine gesetzliche Grundlage für eine Empfangszuständigkeit des Gerichts (BVerwG NJW 1993, 2193, 2194 insoweit in BVerwGE 92, 29 ff. nicht abgedruckt). Mit dem Gesetz zur Reform des Zivilprozesses vom 27. Juli 2001 (BGBl. I S. 1887) ist die Zivilprozessordnung inzwischen nach dem Vorbild des § 106 Satz 2 VwGO durch Einfügung der Regelung des § 278 Abs. 6 ZPO umgestaltet worden (vgl. MünchKomm-ZPO/Prütting, 2. Aufl., Aktualisierungsband, § 278 Rdn. 37). Danach können Prozessvergleiche seit dem 1. Januar 2002 auch dadurch geschlossen werden, dass die Parteien einen gerichtlichen Vergleichsvorschlag durch Schriftsatz annehmen, wobei die Annahme dem Gericht gegenüber zu erklären ist.
3. Vor diesem Hintergrund entscheidet der Senat dahin, dass der Widerruf, jedenfalls nach neuem Recht, wirksam sowohl dem Gericht als auch dem Vergleichspartner gegenüber erklärt werden kann, sofern die Parteien keine hiervon abweichende Vereinbarung getroffen haben. Das folgt nicht nur aus der Rechtsnatur des Prozessvergleichs, sondern zudem aus systematischen und teleologischen Erwägungen.
a) Der Prozessvergleich ist ein Vertrag, der eine Doppelnatur aufweist (BGHZ 16, 388, 390; 28, 171, 172; 41, 310, 311; 79, 71, 74; 80, 389, 392; 128, 320; 323; 142, 84, 88; BGH, Urt. v. 15. Januar 1980, I ZR 60/78, NJW 1980, 1753, 1754; Urt. v. 22. Juni 2005, VIII ZR 214/04, Umdruck S. 7, zur Veröffentlichung bestimmt). Er ist Prozesshandlung, weil er den Rechtsstreit beendet, und privatrechtliches Rechtsgeschäft, weil er sachlich-rechtlich die Ansprüche und Verbindlichkeiten der Parteien regelt (vgl. BGH, Urt. v. 15. Januar 1980, I ZR 60/78, aaO; Urt. v. 16. November 1979, I ZR 3/78, NJW 1980, 1752, 1753). Jedoch stehen Prozesshandlung und Rechtsgeschäft nicht getrennt nebeneinander.
Vielmehr bildet der Prozessvergleich eine Einheit, die eine gegenseitige Abhängigkeit der prozessualen Wirkungen und der materiellrechtlichen Regelungen bewirkt (vgl. BGHZ 79, 71, 74 f.). Daher ist ein Prozessvergleich nur wirksam, wenn sowohl die materiellrechtlichen Voraussetzungen für einen Vergleich als auch die prozessualen Anforderungen erfüllt sind, die an eine wirksame Prozesshandlung zu stellen sind. Fehlt es auch nur an einer dieser Voraussetzungen, liegt ein wirksamer Prozessvergleich nicht vor; die prozessbeendigende Wirkung tritt nicht ein.
Auf dieser Grundlage erweist es sich zunächst als zutreffend, wenn der Vergleichspartner bezogen auf die materiellrechtliche Komponente des Prozessvergleichs als Adressat der Widerrufserklärung angesehen wird (§ 130 BGB).
Nur ist damit nichts gegen eine Empfangszuständigkeit auch des Gerichts unter dem Blickwinkel des Widerrufs der bei Abschluss des Vergleichs ebenfalls abgegebenen auf die Beendigung des Prozesses gerichteten Prozesshandlung gewonnen. So wenig § 130 BGB von prozessrechtlichen Erwägungen überlagert wird, so wenig vermag die genannte Vorschrift des bürgerlichen Rechts die nach Prozessrecht bestehende Zuständigkeit des Gerichts zur Entgegennahme von Prozesshandlungen - einschließlich ihres Widerrufs - zu verdrängen (vgl. auch MünchKomm-ZPO/Wolfsteiner, 2. Aufl., § 794 ZPO Rdn. 61). Es widerspricht der Zuordnung des Prozessvergleichs zum materiellen und prozessualen Recht, bei der Bestimmung des Widerrufsadressaten die bei einem unter Widerrufsvorbehalt geschlossenen Vergleich gegebene Widerruflichkeit der Prozesshandlung auszublenden und nur das materielle Recht in den Blick zu nehmen (ähnlich Stein/ Jonas/Münzberg, aaO, Rdn. 86). Für den fristgerechten Widerruf eines gerichtlichen Vergleichs folgt daraus, dass die dem Gericht gegenüber widerrufene Prozesshandlung als solche ist eine an das Gericht gerichtete Widerrufserklärung ohne weiteres zu verstehen den Eintritt der prozessbeendigenden Wirkung des Vergleichs ebenso hindert wie der dem Vergleichspartner nach § 130 BGB erklärte Widerruf. Dies gilt jedenfalls, seit mit dem Gesetz zur Reform des Zivilprozesses (aaO) die Möglichkeit des Abschlusses eines Prozessvergleiches bei Abwesenheit der Parteien eingeführt worden ist. Nach § 278 Abs. 6 Satz 1 ZPO kann ein Vergleich nunmehr auch dadurch geschlossen werden, dass die Parteien einen Vergleichsvorschlag des Gerichts durch Schriftsatz dem Gericht gegenüber annehmen. Dann aber entspricht es nicht nur der Rechtsnatur des Prozessvergleichs, sondern zudem der Systematik des Gesetzes, dass der Widerruf auch dem Gericht gegenüber erklärt werden kann. Zwar wird für einen Widerrufsvorbehalt in einem gerichtlichen Vergleichsvorschlag nur selten Anlass bestehen.
Das ändert aber nichts daran, dass die Neuregelung einen wesentlichen Anhalt für die Auslegung bietet.
bb) Gründe der Rechtssicherheit untermauern die vom Senat zugrunde gelegte Lösung. Die Frage, ob und mit welchem Inhalt eine stillschweigende Abrede über den Widerrufsadressaten anzunehmen ist, ist selbst für Rechtskundige nicht immer einfach und schon gar nicht zweifelsfrei zu beantworten. Angesichts der daraus resultierenden Unsicherheiten mag es anwaltlicher Vorsicht entsprechen, den Widerruf vorsorglich sowohl dem Gericht als auch dem Gegner zu erklären.
Den Parteien insbesondere den nicht durch einen Anwalt vertretenen ein solches Vorgehen ansinnen zu wollen, überspannte jedoch die Anforderungen an dasjenige, was von einer auf Wahrung ihrer prozessualen Belange bedachten Partei zumutbarer Weise erwartet werden kann. Bei der Bestimmung des Widerrufsadressaten ist daher darauf Bedacht zu nehmen, dass auch eine nicht anwaltlich vertretene Partei ohne komplizierte rechtliche Überlegungen den Widerruf erreichen kann (so BAG AP ZPO § 794 Nr. 1). Auch das spricht dafür, eine Empfangszuständigkeit für Widerrufserklärungen sowohl bei Gericht als auch bei der anderen Vergleichspartei zu bejahen. Schutzwürdige Belange des Widerrufsgegners werden dadurch nicht berührt. Dieser hat es in der Hand, auf die Vereinbarung einer bestimmten Empfangszuständigkeit zu drängen, wenn eine solche für ihn von besonderer Bedeutung ist. Sieht er hiervon ab, erweckt er in aller Regel den Eindruck der Gleichgültigkeit zu dieser Frage (Stein/Jonas/ Münzberg, aaO, Rdn. 86).
4. Die Voraussetzungen für eine Vorlage an den Großen Senat nach § 132 Abs. 3 u. 4 GVG oder an den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach § 2 Abs. 1 RsprEinhG liegen schon deshalb nicht vor, weil die eine ausschließliche Empfangszuständigkeit des Gegners bejahenden Entscheidungen (oben II.2.a.) sämtlich vor Umgestaltung der zivilprozessualen Vorschriften über den Prozessvergleich ergangen sind. Die maßgebende Rechtslage hat sich mit der Einfügung von § 278 Abs. 6 ZPO wesentlich geändert. Das schließt eine Verpflichtung zur Vorlage aus (vgl. BVerwG NJW 1993, 2193, 2194). Soweit der Senat entgegen der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts nicht von einer ausschließlichen Empfangszuständigkeit des Gerichts ausgeht, scheitert eine Vorlageverpflichtung am Fehlen einer entscheidungserheblichen Divergenz (vgl. GmS-OGB, BGHZ 88, 353, 356 f.; Senat, BGHZ 158, 295, 310). ..."