Das Verkehrslexikon

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LG Bielefeld Urteil vom 24.09.1990 - 22 0 180/90 - Unabwendbarkeit eines Unfalls durch Überfahren einer liegengebliebenen Reifendecke

LG Bielefeld v. 24.09.1990: Unabwendbarkeit eines Unfalls durch Überfahren einer liegengebliebenen Reifendecke


Das LG Bielefeld (Urteil vom 24.09.1990 - 22 0 180/90) hat entschieden:
Das Überfahren einer bei Dunkelheit auf dem linken Fahrstreifen einer dreispurigen Autobahn liegenden Reifendecke ist auch dann unabwendbar, wenn rechts auf dem Randstreifen ein Lkw mit eingeschalteter Warnblinkanlage sowie ein Polizeifahrzeug mit eingeschaltetem Blaulicht stehen; der herankommende Kraftfahrer braucht bei dieser Sachlage seine Geschwindigkeit nicht auf 70 km/h zu ermäßigen.


Siehe auch Reifen und Räder und Reifenverlust - Loslösen von Reifen während der Fahrt - Reifenplatzer


Zum Sachverhalt: Am 5. 12. 1989 befuhr der Zeuge S gegen 20.20 Uhr mit einem bei der Bekl. zu 2) haftpflichtversicherten Lkw-Zug der Bekl. zu 1) die rechte von drei Fahrspuren auf der A 2. Die Fahrbahn war trocken. Bei Km 329 löste sich plötzlich von dem hinteren linken Rad des angekoppelten Anhängers die Lauffläche. Der Zeuge lenkte den Lkw-Zug auf den rechten Randstreifen. Dort hielt er an und schaltete die Warnblinkanlage ein. Ebenfalls auf dem rechten Randstreifen stoppte vor oder hinter dem Lkw-Zug ein Polizeifahrzeug, an dem das Blaulicht eingeschaltet wurde. Ein Warndreieck wurde nicht aufgestellt. Über die abgelöste Reifendecke fuhren in der Zeit, bis der Polizist und der Zeuge S die Reifendecke von der Fahrbahn holten, mindestens fünf Fahrzeuge. Durch das Überfahren wurde die Decke in mehrere Teile zerrissen und über die gesamte Fahrbahn verteilt.

Auch der Kl. überfuhr mit seinem Pkw, einem damals 9½ Jahre alten Jaguar, auf der linken Fahrspur die gesamte Lauffläche oder Teile der Reifendecke. Auf die linke Fahrspur war der KI., der zuvor die rechte Fahrspur benutzt hatte, gewechselt, nachdem er in einer Entfernung von etwa 400 m den auf dem Randstreifen stehenden Lkw wahrgenommen hatte. Seine Geschwindigkeit von etwa 120 km/h hatte der Kl. auch nach dem Ausscheren auf die linke Fahrbahn nicht verringert. Obwohl er sofort gebremst hatte, nachdem er die Decke als dunklen Gegenstand auf der Fahrspur erkannt hatte, konnte er nicht verhindern, dass er die Reifendecke überfuhr. Hierdurch wurde der Pkw des Kl. erheblich beschädigt.

Die Bekl. zu 2) leistete Schadensersatz auf der Grundlage einer Mithaftung des Kl. von 25%. Das LG sprach dem Kl. volle Entschädigung zu.

Aus den Entscheidungsgründen:

"... Dem Kl. steht ein Anspruch gegenüber den Bekl. auf Ersatz seines gesamten unfallbedingten Schadens gem. § 7 StVG, § 3 PflVG zu.

Der Unfall ist für die Bekl. zu 1) kein unabwendbares Ereignis i. S. von § 7 II StVG gewesen. Für den Unfall ist das Ablösen der Lauffläche des hinteren linken Rades an dem Anhänger des Lkw-Zuges der Bekl. zu 1) mitursächlich gewesen. Dieses Ablösen der Reifendecke stellt einen Fehler in der Beschaffenheit des Fahrzeugs des Bekl. zu 1) i. S. von § 7 II StVG dar.

Dagegen war der Unfall für den Kl. unabwendbar. Denn ein Fahrzeugführer anstelle des Kl., der alle Gefahrenmomente beachtete und besonders aufmerksam fuhr, konnte das Überfahren der Lauffläche nicht verhindern. Der Sachverständige R hat in seinem Gutachten überzeugend ausgeführt, dass nur bei einer Geschwindigkeit von bis zu 70 km/h die Möglichkeit bestand, die Reifendecke in der Dunkelheit so rechtzeitig zu sehen, dass vor der Reifendecke angehalten oder ausgewichen werden konnte oder dass zumindest geringere Schäden als tatsächlich entstanden bei dem Überfahren der Lauffläche verursacht worden wären.

Der Kl. hat jedoch nicht gegen die Sorgfaltspflichten, die ein besonders umsichtiger Fahrer an seiner Stelle beachtet hätte, verstoßen, indem er mit einer höheren Geschwindigkeit als 70 km/h auf die Unfallstelle zugefahren ist. Entgegen der Ansicht der Bekl. lagen für den Kl. keine Anhaltspunkte dafür vor, dass auf der linken Fahrspur ein schlecht erkennbares Hindernis liegen könnte und aus diesem Grund eine Reduzierung der Geschwindigkeit auf 70 km/h angezeigt gewesen wäre. Dabei kann die Frage offenbleiben, ob - wie die Bekl. behaupten - zu dem Zeitpunkt, als der Kl. sich der Unfallstelle näherte, auf dem Randstreifen für den Kl. erkennbar ein Polizeiwagen in unmittelbarer Nähe zu dem Lkw mit eingeschaltetem Blaulicht und eingeschalteter Warnblinkanlage gestanden hat. Denn selbst wenn diese Behauptung inhaltlich zutreffend sein sollte, so hätte ein besonders vorsichtiger Fahrzeugführer, der die rechte Fahrspur befahren hätte, seine zuvor gefahrene Geschwindigkeit auf vielleicht unter 100 km/h reduziert. Wenn er jedoch auf der ganz linken der drei Fahrspuren - wie unstreitig der KI. - gefahren wäre, so hätten für ihn keine Anhaltspunkte bestanden, die es hätten als angezeigt erscheinen lassen, seine Geschwindigkeit auf bis zu 70 km/h zu verringern. Eine solche Reduzierung der Fahrgeschwindigkeit hätte vielmehr das Risiko von Auffahrunfällen ohne sachlichen Grund stark erhöht. ..."







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