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OLG Nürnberg Urteil vom 17.12.1992 - 8 U 2451/92 - Zum Rettungskostenersatz in der Fahrzeugversicherung bei Ausweichunfall vor kreuzendem Wild
OLG Nürnberg v. 17.12.1992: Zum Rettungskostenersatz in der Fahrzeugversicherung bei Ausweichunfall vor kreuzendem Wild
Das OLG Nürnberg (Urteil vom 17.12.1992 - 8 U 2451/92) hat entschieden:
Begeht der Versicherungsnehmer bei dem Versuch, einem auf der Fahrbahn auftauchenden Haarwild (hier: 2 Hasen) auszuweichen, einen Fehler, ist der Versicherer zur Erstattung des Fahrzeugschadens unter dem Gesichtspunkt der Rettungskosten verpflichtet, wenn das Fehlverhalten des Versicherungsnehmers nicht als grob fahrlässig zu bewerten ist.
Siehe auch Rettungskosten in der Fahrzeugversicherung und Wildschäden
Aus den Entscheidungsgründen:
"... Die Beklagte ist in Höhe des im Berufungsverfahren der Höhe nach nicht mehr streitigen Schadensbetrages von DM 6.900,00 zur Leistung verpflichtet, weil dieser am PKW der Klägerin infolge einer Rettungshandlung des berechtigten Fahrers entstanden ist, um einen Zusammenstoß mit Haarwild zu vermeiden (§§ 62, 63 VVG, § 12 Abs. 1 I d AKB, § 2 Abs. 1 Nr. 1 BJagdG; BGH NJW 1991/1609, VersR 91/459).
1. Auf Grund der glaubhaften Aussage des Zeugen vor dem Erstgericht ist der Senat davon überzeugt, dass am 10.07.1991 vormittags auf der vor der Ortschaft zwei ausgewachsene Hasen von rechts auf die Fahrbahn liefen, als sich der PKW der Klägerin 2 - 3 m vor der dort befindlichen Brücke befand. Die Hasen bewegten sich in Fahrtrichtung nach links. Es herrschte Gegenverkehr. Der Fahrer des PKW lenkte nach rechts, stieß gegen das Brückenpodest und fuhr über dieses hinweg gegen die Leitplanke. Hierbei wurde der PKW der Klägerin erheblich beschädigt.
Der Zeuge ist nach der Beurteilung des Senats glaubwürdig, auch wenn er der Sohn der Klägerin ist. Er hat seine Schreckreaktion nicht verschwiegen oder beschönigt. Seine Aussage steht auch im Einklang mit den vorgelegten Lichtbildern des beschädigten Pkws.
Die Beurteilung des Sachverständigen steht der Aussage des Zeugen nach der Überzeugung des Berufungsgerichts nicht entgegen.
Es mag zwar der Regel entsprechen, dass ein Fahrer eines PKW in erster Linie von der Gefahr weglenkt. Nach der Aussage des Zeugen befanden sich die Hasen im Reaktionszeitpunkt in der Mitte seiner Fahrbahn, es herrschte Gegenverkehr.
Unter diesen Umständen ist die vom Verhaltensmuster abweichende Reaktion des Zeugen von so eingeschränkter Beweiskraft, dass seine Aussage nicht als unglaubhaft gewertet werden kann, weil keine wissenschaftlich begründeten Erkenntnisse vorliegen, dass nicht eine Vielzahl von Verunfallern anders reagiert als die durchschnittliche Masse (vgl. M. Becke, Der BVSK-Kfz-Sachverständige, Jahrbuch 1991/1992, S. 36/37).
2. Das Ausweichmanöver des Zeugen war Rettungshandlung im Sinne von § 62 VVG. Es diente dem Zweck, den Zusammenstoß mit den Hasen und damit den Eintritt des Versicherungsfalles gemäß § 12 Abs. 1d AKB zu vermeiden.
Die bisher umstrittene Frage, ob die Erfüllung der Rettungspflicht durch den Versicherungsnehmer gemäß § 62 VVG zur Voraussetzung hat, dass der Versicherungsfall bereits eingetreten ist, hat durch die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (vgl. VersR 91, 459) eine Klärung erfahren. Danach ist eine Rettungspflicht schon dann anzunehmen, wenn der Versicherungsfall unmittelbar bevorsteht, weil sie schon bei, und nicht erst nach Eintritt des Versicherungsfalls besteht. Dem schließt der Senat sich an.
Die Beklagte behauptet allerdings insoweit, dass der Zeuge zu Unrecht den bevorstehenden Eintritt des Versicherungsfalls angenommen habe. Sie ist nämlich der Auffassung, dass der Zusammenstoß zwischen den Hasen und dem PKW an letzterem keinen erheblichen Schaden verursacht hätte. Es ist jedoch nicht erforderlich, das zum Beweis der Richtigkeit dieser Behauptung von der Beklagten beantragte Gutachten eines Sachverständigen zu erholen. Vielmehr kann davon ausgegangen werden, dass der PKW geringer beschädigt geblieben wäre, wenn der Zeuge die Hasen einfach überfahren hätte. Dann hat der Zeuge allerdings falsch reagiert und dadurch die unverhältnismäßig hohen Kosten des Unfalls verursacht. Dennoch ist auch in diesem Fall die Beklagte zum Ersatz der Rettungskosten verpflichtet, weil das Fehlverhalten nicht als grob fahrlässig zu bewerten ist.
Es ist nämlich nicht gerechtfertigt, den Versicherungsnehmer, der beim Rettungsversuch einen Fehler begeht, einem strengeren Haftungsmaßstab zu unterstellen als dem nach §§ 61, 62 VVG (vgl. BGH VersR 1977, 709, 711; Prölls/Martin, VVG, 25. Aufl., Anm. 2a zu § 63 VVG). Das bedeutet, dass die Versicherung leistungspflichtig ist, weil das Fehlverhalten des Versicherungsnehmers, bzw. des hier für ihn handelnden Zeugen, unterhalb des Vorwurfs der groben Fahrlässigkeit bleibt. Das ist hier der Fall.
Grobe Fahrlässigkeit liegt vor, wenn die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt worden ist (vgl. BGHZ 89, 161), wenn nämlich schon einfachste, ganz naheliegende Überlegungen nicht angestellt werden und nicht beachtet wird, was im gegebenen Fall jedem einleuchten musste (vgl. BGH VersR 1983, 1011).
Ein Verstoß von diesem Gewicht kann dem Zeugen nicht angelastet werden. Dabei sind jedoch nicht die Grundsätze des sogenannten Augenblicksverschuldens anzuwenden, weil dieses sich auf ein einmaliges Fehlverhalten bei einer durch häufiges Wiederholen zur Routine gewordenen Handlung bezieht. Im Gegensatz dazu wurde hier dem Zeugen eine Reaktion auf eine nicht eingeübte, plötzlich eintretende Situation abverlangt. Deren Besonderheit bestand darin, dass die Hindernisse auf der Fahrbahn unvermutet auftauchten und innerhalb eines Augenblicks zu entscheiden war, ob durch Ausweichen oder Überfahren der Hindernisse der geringere Schaden entstehen würde. Zu bedenken ist dabei, dass es als das natürliche und nächstliegende Verhalten erscheint, einer sich rasch nähernden Gefahr auszuweichen und sie durch Vermeidung der direkten Auseinandersetzung mit ihr hinter sich zu bringen. Nicht zweifelhaft ist hier, dass der Zeuge den drohenden Anprall der Hasen an sein Fahrzeug als Gefahr eingeschätzt hat. Dass er in der kurzen ihm für die Entscheidung verfügbaren Zeitspanne zur falschen Handlungsalternative gegriffen hat, ist zwar vorwerfbar, rechtfertigt aber nicht das Urteil, hier sei das Nächstliegende unbeachtet geblieben. Die Auffassungen von Knappmann (VersR 1989, 113), des LG Bonn in r + s 1992/264 und des OLG Köln in r + s 1992/295 teilt der Senat jedenfalls bei 2 Hasen nicht.
Die Reaktion auf das plötzliche Auftauchen von zwei Hasen ist nachvollziehbar und verständlich, folglich nicht grob verkehrswidrig und damit grob fahrlässig. Die Schwelle zwischen einfacher und grober Fahrlässigkeit ist nicht zu niedrig anzusetzen. Außerdem ist zu beachten, dass die Entscheidung für die eine oder andere Möglichkeit der Reaktion unter dem Zeitdruck von sofortigem Handlungsbedarf zu treffen war.
Die vom Zeugen bekundete Schreckreaktion steht einer Rettungshandlung in vorliegendem Fall nicht entgegen (a.A. LG Wiesbaden VersR 1992/998), da das Vorbeilenken an zwei Hasen mit ihrer zusammen nicht unerheblichen Aufprallfläche und der doppelten kinetischen Energie als eine vom Unterbewusstsein ausgelöste und gesteuerte Instinkthandlung zu bewerten ist, die den Anspruch aus den §§ 62, 63 VVG auslöst, weil sie dazu bestimmt war, den Zusammenstoß mit den Hasen und einen Schaden zu vermeiden. ..."