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Landgericht Saarbrücken Urteil vom 10.07.2009 - 13 S 153/09 - Zur regelmäßigen Alleinhaftung des Rückwärtsfahrenden

LG Saarbrücken v. 10.07.2009: Zur regelmäßigen Alleinhaftung des Rückwärtsfahrenden


Das Landgericht Saarbrücken (Urteil vom 10.07.2009 - 13 S 153/09) hat entschieden:
Stößt ein Fahrzeugführer beim Rückwärtsanfahren vom Straßenrand gegen ein gerade in ein Grundstück einbiegendes Fahrzeug, so spricht der Anscheinsbeweis für sein alleiniges Verschulden. Aus welcher Fahrtrichtung das einbiegende Fahrzeug dabei kam und ob der Unfall für dessen Führer ein unabwendbares Ereignis war oder nicht, spielt für die Haftungsverteilung keine Rolle.


Siehe auch Rückwärtsfahren und Anscheinsbeweis und Rückwärtsfahren


Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt Schadensersatz nach einem Verkehrsunfall am Nachmittag des 4.12.2006 vor der Sparkasse in …. Die Klägerin wollte mit ihrem Fahrzeug nach links zu den Parkplätzen der Sparkasse abbiegen, als es zur Kollision mit dem vom Zweitbeklagten geführten und bei der Erstbeklagten haftpflichtversicherten Fahrzeug kam, das vor der Sparkasse am rechten Fahrbahnrand der Gegenfahrbahn hinter einem anderen Fahrzeug abgestellt war. Der Klägerin entstand hierdurch ein Sachschaden von 2 963,92 EUR, den sie zusammen mit vorgerichtlich angefallenen Anwaltskosten von 169,99 EUR und Verzugszinsen seit dem 16.1.2007 verlangt hat.

Sie hat behauptet, der Zweitbeklagte sei in dem Moment, als sie nach Betätigung des linken Fahrtrichtungsanzeigers bereits fast vollständig abgebogen sei, rückwärts ihrem Fahrzeug in die linke Seite hinein gefahren.

Der Beklagte ist dem mit der Behauptung entgegen getreten, die Klägerin sei im spitzen Winkel gegen die Tür seines noch stehenden Fahrzeuges gefahren, habe ihr Fahrzeug nach dem Anstoß zurück gesetzt und sei anschließend gegen die hintere linke Seitenwand gestoßen.

Das Amtsgericht hat über den Unfallhergang Zeugenbeweis erhoben und ein Unfallrekonstruktionsgutachten des Sachverständigen … eingeholt. Mit der angefochtenen Entscheidung vom 6.3.2009 hat der Erstrichter die Beklagten auf der Grundlage einer Haftungsverteilung von ¾ zu ¼ zu ihren Lasten zur Zahlung von 2 222,94 EUR sowie weiterer 166,99 EUR vorgerichtlicher Anwaltskosten und Verzugszinsen seit dem 16.1.2007 verurteilt. Zur Begründung hat der Erstrichter ausgeführt, es stehe fest, dass der Zweitbeklagte unter Verstoß gegen die besonderen Sorgfaltspflichten des § 9 Abs. 5 StVO rückwärts gefahren sei. Aber auch die Klägerin habe gegen die Vorschriften des § 9 Abs. 1 und Abs. 5 StVO als Abbiegende in ein Grundstück verstoßen, weil sie hätte bemerken müssen, dass sich im Fahrzeug des Zweitbeklagten eine Person befand, so dass sie mit einem Rückwärtsfahren hätte rechnen und sich hierauf einstellen müssen.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie die vollständige Verurteilung der Beklagten anstrebt. Sie rügt die an sie gestellten Sorgfaltsanforderungen als überzogen, zumal der Zweitbeklagte in keiner Weise auf sein beabsichtigtes Fahrmanöver aufmerksam gemacht habe. Selbst wenn ihr aber ein Sorgfaltsverstoß anzulasten sei, trete dieser hinter die gröbliche Pflichtverletzung des Zweitbeklagten zurück.

Die Beklagten verteidigen die angefochtene Entscheidung mit dem ergänzenden Hinweis, dass mangels Fahrtrichtungsanzeige am Klägerfahrzeug für den Zweitbeklagten nicht ersichtlich gewesen sei, dass die Klägerin mit ihrem Fahrzeug auf den Parkplatz der Sparkasse habe einbiegen wollen.


II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig und in der Sache begründet, weil die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung zum Nachteil der Klägerin beruht (§ 513 ZPO).

Der Klägerin steht auf der Grundlage der §§ 7, 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG i.V.m. § 3 Nr. 1 PflVG a.F. der vollständige Ersatz ihrer unfallbedingten Schäden zu, da die Beklagten für die Unfallfolgen alleine einzustehen haben.

1. Da der Unfall nicht durch höhere Gewalt verursacht wurde (§ 7 Abs. 2 StVG), ist für den Umfang der Haftung nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG eine Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile der Fahrer der beteiligten Fahrzeuge unter Berücksichtigung der von beiden Fahrzeugen ausgehenden Betriebsgefahr geboten, sofern sich das Geschehen nicht für einen der Unfallbeteiligten als unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG darstellte. Unabwendbar in diesem Sinne ist ein Ereignis nur dann, wenn es auch durch äußerste Sorgfalt – gemessen an den Anforderungen eines Idealfahrers – nicht abgewendet werden kann (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 39. Auflage, § 17 StVG Rdn. 22 m.w.N.).

2. Den Anforderungen an einen Idealfahrer hat der Zweitbeklagte nicht genügt.

a) Wie das Amtsgericht im Hinblick auf die Unfallrekonstruktion des Sachverständigen … zurecht und in der Berufungsinstanz von den Beklagten auch nicht mehr in Zweifel gezogen festgestellt hat, ist er ohne hinreichende Beachtung des rückwärtigen Verkehrsraumes rückwärts gegen das hinter ihm vorbei fahrende Klägerfahrzeug gestoßen und hat damit gegen die besonderen Sorgfaltsanforderungen, wie sie in § 9 Abs. 5 StVO festgeschrieben sind, verstoßen.

b) Überdies war der Zweitbeklagte im Begriff, vom Fahrbahnrand anzufahren und hatte damit auch die besonderen Sorgfaltspflichten nach § 10 StVO zu beachten. Dessen Schutzbereich umfasst den gesamten fließenden Verkehr, gleichgültig, ob er von rechts oder links kommt, ob er nachfolgt oder entgegen kommt (vgl. Geigel/Zieres, Der Haftpflichtprozess, 25. Auflage, Kapitel 27, Rdn. 310) oder aber ob er in ein Grundstück einfährt (vgl. Hentschel/König, Straßenverkehrsrecht, 39. Auflage, § 10 Rdn. 8). Im Unfallzeitpunkt gehörte mithin auch die Klägerin dem fließenden Verkehr an, da sie den Abbiegevorgang auf den Parkplatz der Sparkasse noch nicht beendet hatte, als der Zweitbeklagte rückwärts vom Fahrbahnrand anfuhr. Der Zweitbeklagte hatte damit – zumal beim Rückwärtsfahren – auch gegenüber der Klägerin ein Höchstmaß an Sorgfalt einzuhalten (vgl. Geigel/Zieres aaO., Rdn. 311). Hierzu gehört es, dass er sich durch Rückschau darüber vergewissert, ob er durch sein Anfahren nicht andere Verkehrsteilnehmer gefährdet oder unzumutbar behindert (Geigel/Zieres aaO., Rdn. 318). Dafür, dass er diese Sorgfalt nicht hat walten lassen, spricht bereits der Beweis des ersten Anscheins (vgl. Geigel/Zieres aaO., Rdn. 311), zu dessen Entkräftung die Beklagten nichts maßgebliches vorgetragen haben. Hierzu genügt insbesondere ihr Einwand nicht, die Klägerin habe den linken Fahrtrichtungsanzeiger nicht gesetzt. Da die Klägerin bereits nahezu vollständig abgebogen war, als der Zweitbeklagte sein Fahrzeug zurücksetzte, war der Abbiegevorgang für ihn auch dann zu erkennen, wenn er ohne Fahrtrichtungsanzeige eingeleitet worden wäre.

3. Ob hingegen die Klägerin den strengen Sorgfaltsanforderungen an eine Idealfahrerin gerecht geworden ist, bedarf letztlich keiner Entscheidung. Entgegen der Ansicht des Amtsgerichts ist ihr gegenüber dem Zweitbeklagten jedenfalls kein Verstoß gegen die besonderen Sorgfaltsanforderungen des § 9 Abs. 1 und Abs. 5 StVG anzulasten, so dass sie selbst dann nicht für die Unfallfolgen anteilig einzustehen hätte, wenn das Geschehen für sie nicht unabwendbar gewesen wäre.

a) Die besonderen Sorgfaltsanforderungen, die der nach links Abbiegende gemäß § 9 Abs. 1 und Abs. 4 StVO zu erfüllen hat, dienen allein dem Schutz des fließenden Längsverkehrs, der – gleichgültig ob entgegenkommend oder gleichgerichtet – Vorrang vor dem Abbiegenden hat (vgl. Hentschel/König, Straßenverkehrsrecht, 39. Auflage, § 9 StVO Rdn. 16 und 39). Zum fließenden Verkehr gehörte der Zweitbeklagte indessen noch nicht, da er erst im Begriff war, sein Fahrzeug, das er aufgrund eines nicht verkehrsbedingten Haltens am Fahrbahnrand abgestellt hatte, wieder in den Fahrverkehr einzugliedern.

b) Auch musste die Klägerin gegenüber dem Zweitbeklagten nicht den strengen Sorgfaltsmaßstäben des § 9 Abs. 5 StVG genügen. Als Einfahrende in ein privates Grundstück hatte sie sich zwar so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen war. Dieses Maß an äußerster Sorgfalt gilt aber gleichsam nur gegenüber dem fließenden Verkehr (Zieres aaO., Rdn. 293; Hentschel/König aaO., Rdn. 44), dem der Zweitbeklagte gerade noch nicht angehörte.

c) Die Klägerin hatte hiernach gegenüber dem Zweitbeklagten nur dem allgemeinen Gebot der Vorsicht und gegenseitigen Rücksichtnahme i.S.d. der straßenverkehrsrechtlichen Grundregel des § 1 StVO zu genügen. Ein Verstoß dagegen ist ihr indes nicht nachzuweisen. Es steht zum einen nicht fest, dass sie ohne linke Fahrtrichtungsanzeige abgebogen ist, was im Hinblick auf die klar erkennbare Abbiegeabsicht auf das Verkehrsverhalten des Zweitbeklagten ohnedies keinen Einfluss haben konnte. Zum anderen durfte sie auf dessen verkehrsgerechtes Verhalten vertrauen und musste nicht mit dem verkehrswidrigen plötzlichen rückwärts Anfahren des Zweitbeklagten rechnen. Denn ein Gebot, jedes mögliche verkehrswidrige Verhalten vorsorglich in Rechnung zu stellen, würde den fließenden Verkehr lahmlegen (Hentschel/König, aaO, § 1 Rdn. 20). Erst wenn es sich um Fahrfehler handelt, die erfahrungsgemäß oft oder den Umständen nach gerade in der konkreten Verkehrssituation vorkommen, ist der Vertrauensgrundsatz eingeschränkt (Hentschel/König, aaO.). Eine solche Ausnahmesituation liegt dem Streitfall aber nicht zugrunde. Auch der Umstand, dass hier ein am Fahrbahnrand abgestelltes Fahrzeug mit einem Insassen auf dem Fahrersitz besetzt war, rechtfertigt keine andere Betrachtung. Anders als etwa auf Parkplätzen, auf denen das Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme im Besonderen (vgl. Urteil der Kammer vom 29.5.2009, 13 S 181/09 ) und der Vertrauensgrundsatz nur in eingeschränktem Maße gilt, weil verstärkt mit einem Fehlverhalten von Fahrzeuginsassen gerechnet werden muss, hätte für die Annahme eines verkehrswidrigen Verhaltens des Zweitbeklagten gegenüber dem – hier vorliegenden – fließenden Verkehr weitere Anzeichen hinzukommen müssen, etwa das Betätigen des Fahrtrichtungsanzeigers oder das langsame Anrollen. Dafür ist im Streitfall nichts ersichtlich.

4. Da der Klägerin mithin ein Verschulden an dem Unfall nicht anzulasten ist, haben die Beklagten in der Abwägung nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG für die Unfallfolgen alleine einzustehen. Eine etwaig bei der Klägerin verbleibende Betriebsgefahr für ihr Fahrzeug tritt vollständig hinter den Haftungsanteil der Beklagten zurück, der durch den zweifachen Verstoß des Zweitbeklagten gegen die im Straßenverkehr einzuhaltende äußerste Sorgfalt gemäß § 9 Abs. 5 StVO und § 10 StVO das Unfallgeschehen maßgeblich geprägt worden ist.

5. Der Höhe nach steht der nach der erstinstanzlichen Verurteilung noch verbleibende Sachschaden der Klägerin mit 740,98 EUR außer Streit. Zum erstattungsfähigen Schaden der Klägerin gehören zudem die restlichen vorgerichtlichen Anwaltskosten, die sich, bemessen an einem Gegenstandswert in Höhe des erstattungsfähigen Gesamtschadens von 2 963,92 EUR, gemäß §§ 2 Abs. 2, 13 Abs. 1 RVG i.V.m. Nr. 2300, 7002 und 7008 VVRVG insgesamt auf 316,18 EUR belaufen und über die erstinstanzliche Verurteilung hinaus damit noch in Höhe von 149,19 EUR zu ersetzen sind.

6. Die Zinsentscheidung beruht auf Verzugsgesichtspunkten (§§ 286 Abs. 1 und Abs. 2, 288 BGB).


III.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 100 Abs. 4 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).