Das Verkehrslexikon

A     B     C     D     E     F     G     H     I     K     L     M     N     O     P     Q     R     S     T     U     V     W     Z    

EuGH Urteil vom 01.10.2009 - C-103/08 - Die Begrenzung von Jahresvignetten für Behinderte auf die eigenen Staatsangehörigen ist zulässig

EuGH v. 01.10.2009: Die Begrenzung von Jahresvignetten für Behinderte auf die eigenen Staatsangehörigen ist zulässig


Der Europäische Gerichtshof (Urteil vom 01.10.2009 - C-103/08) hat entschieden:
Art. 12 EG ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen nicht entgegensteht, die die kostenlose Zurverfügungstellung einer Jahresvignette für Straßen Behinderten vorbehält, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in dem betroffenen Mitgliedstaat haben, und dabei diejenigen einschließt, die sich aus beruflichen oder persönlichen Gründen regelmäßig in diesen Staat begeben.


Siehe auch Behinderte Verkehrsteilnehmer und Behindertenparkplätze - Parkerleicherungen für Behinderte


URTEIL DES GERICHTSHOFS (Erste Kammer)

1. Oktober 2009

„Freizügigkeit – Unionsbürgerschaft – Art. 12 EG – Zurverfügungstellung einer kostenlosen Jahresstraßenvignette an Behinderte – Vorschriften, die die Zurverfügungstellung einer solchen Vignette auf Behinderte beschränken, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben“

In der Rechtssache C-103/08

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Vorarlberg (Österreich) mit Entscheidung vom 29. Februar 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 6. März 2008, in dem Verfahren

Arthur Gottwald

gegen Bezirkshauptmannschaft Bregenz

erlässt

DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter M. Ilešic, A. Tizzano (Berichterstatter), A. Borg Barthet und E. Levits,

Generalanwalt: J. Mazák,

Kanzler: C. Strömholm, Verwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 12. März 2009,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

von Herrn Gottwald, vertreten durch Rechtsanwälte H. Frick und T. Dietrich,

der österreichischen Regierung, vertreten durch E. Riedl und G. Eberhard als Bevollmächtigte,

der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch N. Yerrell, G. Braun und D. Maidani als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 30. April 2009

folgendes

Urteil


Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 12 EG.

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Gottwald und der Bezirkshauptmannschaft Bregenz über eine von der Bezirkshauptmannschaft wegen Nichtentrichtung der Autobahnmaut verhängte Geldstrafe.

Rechtlicher Rahmen

Nationales Recht

§ 10 Abs. 1 des österreichischen Bundesstraßen-Mautgesetzes 2002 (BGBl I 2002/109) in der auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Fassung (im Folgenden: BStMG 2002) sieht vor:
„Die Benützung von Mautstrecken mit einspurigen Kraftfahrzeugen und mit mehrspurigen Kraftfahrzeugen, deren höchstes zulässiges Gesamtgewicht nicht mehr als 3,5 Tonnen beträgt, unterliegt der zeitabhängigen Maut.“
§ 11 Abs. 1 BStMG 2002 bestimmt:
„Die zeitabhängige Maut ist vor der Benützung von Mautstrecken durch Anbringen einer Mautvignette am Fahrzeug zu entrichten.“
§ 13 Abs. 2 BStMG 2002, der das Verfahren für die kostenlose Zurverfügungstellung einer Jahresvignette an Personen regelt, die einen Behindertenpass besitzen, lautet:
„Das Bundesamt für Soziales und Behindertenwesen hat auf Antrag behinderten Menschen, die im Inland ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben und auf die zumindest ein mehrspuriges Kraftfahrzeug mit einem höchsten zulässigen Gesamtgewicht von nicht mehr als 3,5 Tonnen zugelassen wurde, soweit sie im Besitz eines Behindertenpasses gemäß § 40 Bundesbehindertengesetz … sind, in dem eine dauernde starke Gehbehinderung, die Unzumutbarkeit der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel wegen dauernder Gesundheitsschädigung oder die Blindheit eingetragen sind, eine Jahresvignette für ein Kraftfahrzeug der genannten Kategorie kostenlos zur Verfügung zu stellen. …“
§ 20 Abs. 1 BStMG 2002 sieht vor:
„Kraftfahrzeuglenker, die Mautstrecken benützen, ohne die … zeitabhängige Maut ordnungsgemäß entrichtet zu haben, begehen eine Verwaltungsübertretung und sind mit Geldstrafe von 400 € bis zu 4.000 € zu bestrafen.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefrage

Herr Gottwald ist ein deutscher Staatsbürger mit Wohnsitz in Hamburg (Deutschland), bei dem eine vollständige Querschnittslähmung mit Verlust aller Funktionen unterhalb des vierten Brustwirbels vorliegt. Deshalb wurde ihm in Deutschland ein Behindertenausweis ausgestellt.

Am 26. August 2006 lenkte Herr Gottwald sein Fahrzeug auf dem mautpflichtigen österreichischen Autobahnnetz, um an seinen Urlaubsort in Österreich zu gelangen. Bei einer Straßenkontrolle wurde festgestellt, dass er nicht vorher die zeitabhängige Maut durch den Kauf einer an seinem Fahrzeug anzubringenden Vignette entrichtet hatte.

Die Bezirkshauptmannschaft Bregenz verhängte daher gegen ihn mit Straferkenntnis vom 4. Dezember 2006 eine Geldstrafe von 200 Euro. Hiergegen erhob Herr Gottwald Berufung beim Unabhängigen Verwaltungssenat des Landes Vorarlberg.

Im Rahmen dieser Berufung machte Herr Gottwald u.a. geltend, weil er vollständig querschnittsgelähmt sei und ihm deshalb in Deutschland ein Behindertenausweis ausgestellt worden sei, habe er in Österreich nach § 13 Abs. 2 BStMG 2002 gleichermaßen wie die behinderten Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hätten, einen Anspruch auf Zurverfügungstellung einer kostenlosen Vignette.

Der Unabhängige Verwaltungssenat des Landes Vorarlberg hat Zweifel an der Vereinbarkeit der Voraussetzungen für die Zurverfügungstellung der betreffenden Vignette und hat deshalb beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:
Ist Art. 12 EG so auszulegen, dass er der Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift entgegensteht, die vorsieht, dass die kostenlose Zurverfügungstellung einer Jahresvignette für ein Kraftfahrzeug zur Benutzung mautpflichtiger Bundesstraßen auf jene Menschen mit einer näher bestimmten Behinderung beschränkt wird, die im Inland ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben?

Zur Vorlagefrage

Mit seiner Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 12 EG dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, die die kostenlose Zurverfügungstellung einer Jahresstraßenvignette Behinderten vorbehält, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in dem betroffenen Mitgliedstaat haben.

Zur Zulässigkeit

Die österreichische Regierung bestreitet die Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens mit der Begründung, dass es rein theoretisch und für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits unerheblich sei, da Herr Gottwald niemals einen Antrag auf Zurverfügungstellung der fraglichen kostenlosen Vignette in Österreich gestellt habe.

Es bestehe kein Zusammenhang zwischen der Vorlagefrage und dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens, da dieses keine Entscheidung betreffe, mit der die Zurverfügungstellung der erwähnten kostenlosen Vignette gemäß § 13 Abs. 2 BStMG 2002 abgelehnt worden wäre, sondern ausschließlich die Anfechtung der gestützt auf § 20 Abs. 1 in Verbindung mit den §§ 10 Abs. 1 und 11 Abs. 1 BStMG 2002 gegen ihn verhängten Geldstrafe durch Herrn Gottwald.

Dem kann jedoch nicht gefolgt werden.

Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass es nach ständiger Rechtsprechung im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen dem Gerichtshof und den nationalen Gerichten nach Art. 234 EG allein Sache des mit dem Rechtsstreit befassten nationalen Gerichts ist, in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende gerichtliche Entscheidung fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der bei ihm anhängigen Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung zum Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen. Sofern die vorgelegten Fragen die Auslegung des Gemeinschaftsrechts betreffen, ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, darüber zu befinden (vgl.u.a. Urteile vom 13. März 2001, PreussenElektra, C-379/98, Slg. 2001, I-2099, Randnr. 38, vom 22. Mai 2003, Korhonen u.a., C-18/01, Slg. 2003, I-5321, Randnr. 19, sowie vom 19. April 2007, Asemfo, C-295/05, Slg. 2007, I-2999, Randnr. 30).

Folglich kann die Vermutung der Erheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen nur in Ausnahmefällen ausgeräumt werden, und zwar dann, wenn die erbetene Auslegung der in diesen Fragen erwähnten Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsverfahrens steht (vgl.u.a. Urteile vom 15. Dezember 1995, Bosman, C-415/93, Slg. 1995, I-4921, Randnr. 61, sowie vom 1. April 2008, Gouvernement de la Communauté française und Gouvernement wallon, C-212/06, Slg. 2008, I-1683, Randnr. 29).

Obwohl Herr Gottwald keinen Antrag auf Zurverfügungstellung einer kostenlosen Vignette gemäß § 13 Abs. 2 BStMG 2002 gestellt hat, lässt sich hier jedoch nicht ausschließen, dass die Antwort des Gerichtshofs eine tatsächliche Auswirkung auf die Entscheidung im Ausgangsverfahren haben kann.

Den Angaben der österreichischen Regierung in der mündlichen Verhandlung ist nämlich zu entnehmen, dass das vorlegende Gericht befugt wäre, die Geldstrafe herabzusetzen, wenn es feststellen sollte, dass der Berufungswerber im Ausgangsverfahren aufgrund des in Art. 12 EG verankerten Verbots der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit einen Anspruch auf Zurverfügungstellung einer kostenlosen Vignette gehabt hätte.

Eine mögliche Entscheidung des Gerichtshofs dahin, dass Art. 12 EG einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen entgegensteht, könnte daher u.a. einen mildernden Umstand darstellen, der es dem nationalen Gericht erlauben würde, die gegen Herrn Gottwald verhängte Strafe herabzusetzen.

Die erbetene Auslegung ist somit für die vom vorlegenden Gericht zu treffende Entscheidung nicht offensichtlich unerheblich.

Folglich ist das Vorabentscheidungsersuchen für zulässig zu erklären.


Zur Beantwortung der Frage

Zunächst ist daran zu erinnern, dass nach ständiger Rechtsprechung der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu sein, der es denjenigen unter ihnen, die sich in der gleichen Situation befinden, erlaubt, unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit und unbeschadet der insoweit ausdrücklich vorgesehenen Ausnahmen die gleiche rechtliche Behandlung zu genießen (Urteile vom 15. März 2005, Bidar, C-209/03, Slg. 2005, I-2119, Randnr. 31, und vom 12. Juli 2005, Schempp, C-403/03, Slg. 2005, I-6421, Randnr. 15 und die dort angeführte Rechtsprechung).

Insbesondere kann sich, wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, jeder Unionsbürger in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fallen, auf Artikel 12 EG berufen, der jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verbietet (Urteile vom 12. Mai 1998, Martinez Sala, C-85/96, Slg. 1998, I-2691, Randnr. 62, und Schempp, Randnr. 17).

Zu diesen Situationen gehören auch diejenigen, die die Ausübung der durch Art. 18 EG verliehenen Freiheit betreffen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu bewegen und aufzuhalten (Urteile vom 2. Oktober 2003, Garcia Avello, C-148/02, Slg. 2003, I-11613, Randnr. 24, Bidar, Randnr. 33, und vom 18. November 2008, Förster, C-158/07, Slg. I-0000, Randnr. 37).

Daher kann sich ein Angehöriger eines Mitgliedstaats wie Herr Gottwald, wenn er seine Freiheit ausübt, sich im Gemeinschaftsgebiet zu bewegen und aufzuhalten, um seinen Urlaub in einem anderen Mitgliedstaat zu verbringen, auf das in Art. 12 EG verankerte Recht berufen, nicht aus Gründen seiner Staatsangehörigkeit diskriminiert zu werden.

Ferner verbieten nach der Rechtsprechung die Vorschriften über die Gleichbehandlung von Inländern und Ausländern nicht nur offene Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verdeckten Formen der Diskriminierung, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen (vgl.u.a. Urteile vom 23. Januar 1997, Pastoors und Trans-Cap, C-29/95, Slg. 1997, I-285, Randnr. 16, vom 19. März 2002, Kommission/Italien, C-224/00, Slg. 2002, I-2965, Randnr. 15, sowie vom 30. Juni 2005, Tod's und Tod's France, C-28/04, Slg. 2005, I-5781, Randnr. 19).

Dies trifft insbesondere auf eine Maßnahme zu, die eine Unterscheidung anhand des Kriteriums des Wohnsitzes oder des Aufenthaltsorts trifft, denn sie kann sich hauptsächlich zum Nachteil der Angehörigen anderer Mitgliedstaaten auswirken, da die Personen ohne inländischen Wohnsitz oder Aufenthaltsort meist Ausländer sind (vgl. in diesem Sinne u.a. Urteile vom 29. April 1999, Ciola, C-224/97, Slg. 1999, I-2517, Randnr. 14, und vom 16. Januar 2003, Kommission/Italien, C-388/01, Slg. 2003, I-721, Randnr. 14).

Hier stützt sich die im Ausgangsverfahren streitige Maßnahme auf ein Kriterium eben dieser Art, da sie die Zurverfügungstellung der kostenlosen Jahresvignette Behinderten vorbehält, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich haben.

Eine derartige diskriminierende Behandlung lässt sich nach dem Gemeinschaftsrecht nur rechtfertigen, wenn sie auf objektiven Erwägungen beruht, die von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängig sind und in einem angemessenen Verhältnis zu dem mit dem nationalen Recht legitimerweise verfolgten Zweck stehen (vgl. u.a. Urteile vom 11. Juli 2002, D'Hoop, C-224/98, Slg. 2002, I-6191, Randnr. 36, Garcia Avello, Randnr. 31, und Bidar, Randnr. 54).

Zu der Voraussetzung, dass objektive Erwägungen des Allgemeininteresses vorliegen müssen, macht die österreichische Regierung geltend, dass mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Maßnahme die Mobilität und die soziale Integration von Menschen gefördert werden sollten, denen wegen einer Behinderung die Benützung öffentlicher Verkehrsmittel nicht zumutbar sei und die daher auf die Benützung des privaten Kraftfahrzeugs angewiesen seien. Wie die Gültigkeit der Vignette für ein Jahr zeige, richte sich die betreffende Maßnahme demnach an Personen, die das Straßennetz vergleichsweise häufig benützten. Das Erfordernis des Wohnsitzes oder des gewöhnlichen Aufenthalts sei somit Ausdruck eines gewissen Grades an Integration der Empfänger der kostenlosen Vignette in die österreichische Gesellschaft.

Hierzu ist festzustellen, dass sowohl die Förderung der Mobilität und der Integration von Behinderten als auch der Wille, das Bestehen einer gewissen Verbindung zwischen der Gesellschaft des betroffenen Mitgliedstaats und dem Empfänger einer Leistung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden sicherzustellen, zwar objektive Erwägungen des Allgemeininteresses darzustellen vermögen, die es rechtfertigen können, dass die Freizügigkeit der Unionsbürger möglicherweise durch die Voraussetzungen für die Gewährung der Leistung berührt wird (vgl. entsprechend Urteile D´Hoop, Randnr. 38, vom 26. Oktober 2006, Tas-Hagen und Tas, C-192/05, Slg. 2006, I-10451, Randnr. 35, sowie vom 22. Mai 2008, Nerkowska, C-499/06, Slg. 2008, I-3993, Randnr. 37).

Allerdings muss auch die in Randnr. 30 des vorliegenden Urteils genannte Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit gewahrt sein. Aus der Rechtsprechung ergibt sich, dass eine Maßnahme dann verhältnismäßig ist, wenn sie zur Erreichung des verfolgten Zieles geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was zu dessen Erreichung notwendig ist (vgl. u.a. Urteil Tas-Hagen und Tas, Randnr. 35 sowie die dort angeführte Rechtsprechung).

Was im Einzelnen den Grad der Verbundenheit des Empfängers einer Leistung mit der Gesellschaft des betroffenen Mitgliedstaats angeht, hat der Gerichtshof bereits zu Leistungen, die wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nicht gemeinschaftsrechtlich geregelt sind, entschieden, dass die Mitgliedstaaten ein weites Ermessen in Bezug auf die Festlegung der Kriterien zur Beurteilung einer solchen Verbundenheit haben (vgl. in diesem Sinne Urteil Tas-Hagen und Tas, Randnr. 36).

Daher hat die Rechtsprechung unter bestimmten Voraussetzungen nationale Regelungen für zulässig erachtet, nach denen für den Nachweis eines gewissen Integrationsgrads verlangt werden kann, dass der Empfänger der fraglichen Leistung für eine gewisse Zeit in dem betroffenen Mitgliedstaat gewohnt oder sich dort aufgehalten hat (vgl. in diesem Sinne Urteile Bidar, Randnr. 59, und Förster, Randnr. 50).

In Bezug auf eine Maßnahme wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende, die Behinderten regelmäßige Fahrten innerhalb Österreichs erleichtern soll, um sie in die inländische Gesellschaft zu integrieren, erscheinen der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthalt deshalb als geeignete Kriterien für den Nachweis, dass eine Verbindung dieser Personen mit der Gesellschaft des betroffenen Mitgliedstaats besteht, aufgrund deren sie, wie der Generalanwalt in Nr. 71 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, u.a. von anderen Kategorien von Nutzern unterschieden werden können, die das österreichische Straßennetz nur punktuell und zeitweise benützen.

Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass im vorliegenden Fall die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung die Zurverfügungstellung der kostenlosen Straßenvignette nicht zusätzlich davon abhängig macht, dass der Betroffene seinen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich für einen bestimmten Mindestzeitraum begründet hat.

Die in den vorstehenden Randnummern dargelegten Erwägungen zu der Frage, ob die Voraussetzungen in Bezug auf den Wohnsitz und den gewöhnlichen Aufenthalt in einem angemessenen Verhältnis zu den Zwecken stehen, die mit der im Ausgangsverfahren streitigen nationalen Regelung verfolgt werden, gelten umso mehr, als – wie die österreichische Regierung in der mündlichen Verhandlung erläutert hat, ohne dass die anderen Beteiligten, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, dem widersprochen hätten – die betreffenden Voraussetzungen weit ausgelegt werden, so dass auch andere verbindende Faktoren eine für die Zurverfügungstellung der kostenlosen Vignette ausreichende Verbundenheit mit der österreichischen Gesellschaft begründen können.

Insbesondere soll, wie die österreichische Regierung während der mündlichen Verhandlung klargestellt hat, ein Behinderter, der zwar weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich begründet hat, sich aber aus beruflichen oder persönlichen Gründen regelmäßig dorthin begibt, ebenfalls Anspruch auf kostenlose Zurverfügungstellung der Straßenvignette haben.

Daher ist festzustellen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung der mit ihr verfolgten Ziele notwendig ist.

Folglich ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 12 EG dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen nicht entgegensteht, die die kostenlose Zurverfügungstellung einer Jahresstraßenvignette Behinderten vorbehält, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in dem betroffenen Mitgliedstaat haben, und dabei diejenigen einschließt, die sich aus beruflichen oder persönlichen Gründen regelmäßig in diesen Staat begeben.


Kosten

Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.


Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 12 EG ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren streitigen nicht entgegensteht, die die kostenlose Zurverfügungstellung einer Jahresvignette für Straßen Behinderten vorbehält, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in dem betroffenen Mitgliedstaat haben, und dabei diejenigen einschließt, die sich aus beruflichen oder persönlichen Gründen regelmäßig in diesen Staat begeben.