Eine eindeutige Festlegung, wie die „nicht wesentlich höhere Geschwindigkeit“ im Sinne des § 5 Abs. 2 S. 2 StVO zu bemessen ist, kann der bisherigen höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung ebenso wenig entnommen werden wie der dazu veröffentlichten wissenschaftlichen Literatur. Den in Begründung und Ergebnis überzeugenden Ausführungen des OLG Hamm (NZV 2009, 302) schließt sich der Senat insoweit an, als eine Differenzgeschwindigkeit von 10 km/h in dem für Überholvorgänge zwischen Lkw üblichen Bereich von um die 80 km/h noch als grundsätzlich zulässig zu beurteilen ist.
Gründe:
Der Bußgeldrichter des Amtsgerichts Ludwigshafen am Rhein hat den Betroffenen am 8. Juni 2009 wegen fahrlässigem Überholen mit nicht wesentlich höherer Geschwindigkeit als derjenigen des Überholten (§§ 5 Abs. 2 S. 2, 49 Abs. 1 Nr. 5 StVO; § 24 StVG) zu einer Geldbuße von 40 € verurteilt. Hiergegen richtet sich der Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde. Es wird geltend gemacht, der Amtsrichter habe den Begriff der nicht wesentlich höheren Geschwindigkeit unzutreffend ausgelegt und zudem die zugunsten des Betroffenen anzusetzenden Messtoleranzen nicht richtig berücksichtigt. Der Einzelrichter des Senats hat durch Beschluss vom 13. November 2009 gemäß §§ 79 Abs. 1, 80 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2, 80a Abs. 3 OWiG die Rechtsbeschwerde zugelassen und das weitere Verfahren dem Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen. Zur Begründung ist in dem Beschluss u.a. ausgeführt:„Die angefochtene Entscheidung gibt Anlass zur Rechtsfortbildung hinsichtlich der Frage, wann im Sinne des § 5 Abs. 2 S. 2 StVO ein verbotenes Überholen mit nicht wesentlich höherer Geschwindigkeit als derjenigen des Überholten vorliegt; dies insbesondere bezogen auf die hier festgestellten weiteren Umstände: Überholmanöver zwischen zwei Lkw auf der Autobahn im Geschwindigkeitsbereich von ca. 80 bis 90 km/h, wobei ein nachfolgender Pkw behindert worden sei.“Die somit zugelassene Rechtsbeschwerde ist auch hinsichtlich der sonstigen Formalien nicht zu beanstanden. Die Ausführungen in der Beschwerdebegründung ergeben die Erhebung der allgemeinen Sachrüge (§ 79 Abs. 3 OWiG; § 344 Abs. 2 StPO). Das Rechtsmittel führt in der Sache zu einem vorläufigen Erfolg.
Nach den in erster Instanz getroffenen Feststellungen befuhr der Betroffene am 18. Juni 2008 gegen 11:09 Uhr mit dem Lkw, amtliches Kennzeichen HOM-... die Bundesautobahn 61. Zwischen dem Autobahnkreuz Mutterstadt und der Anschlussstelle Schifferstadt überholte er einen anderen Lkw, wobei – nach der nicht ganz eindeutigen Darstellung in den Urteilsgründen – der Überholte eine Geschwindigkeit von rund 80 km/h einhielt und der Betroffene eine solche von rund 91 km/h. Hinter dem Lkw des Betroffenen befuhr ein Pkw ebenfalls die linke Überholspur der Autobahn, wobei er während des lang andauernden Überholvorgangs konkret behindert war. Dies alles hätte der Betroffene erkennen können und müssen.
Diese Feststellungen ergeben nicht den vom Urteil zugrunde gelegten Verstoß gegen § 5 Abs. 2 S. 2 StVO. Eine eindeutige Festlegung, wie die „nicht wesentlich höhere Geschwindigkeit“ im Sinne dieser Vorschrift zu bemessen ist, kann der bisherigen höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung ebenso wenig entnommen werden wie der dazu veröffentlichten wissenschaftlichen Literatur (vgl. insoweit etwa Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht 40. Aufl. § 5 StVO Rn. 32; Jagow/Burmann/Heß, Straßenverkehrsrecht 20. Aufl. § 5 StVO Rn. 22; Albrecht NZV 2002, 153, 155 f.).
Den Zweck der Regelung hat die Rechtsprechung von jeher darin gesehen, eine Behinderung oder gar Gefährdung des übrigen Verkehrs durch ungewöhnlich lang dauernde Überholvorgänge zu verhindern; ein Überholen soll daher nur dann zulässig sein, wenn es unter Berücksichtigung des Geschwindigkeitsunterschiedes zügig durchgeführt werden kann (BayObLG VRS 15, 302 und DAR 1961, 204; OLG Bremen VRS 28, 50, 53). Als maßgebliche Werte in Betracht gezogen wurden dabei sowohl der absolute Geschwindigkeitsdifferenz, der sich auf die für den Überholvorgang erforderliche Zeit auswirkt, wie auch der relative Unterschied, der die Länge des während des Überholvorgangs zurückgelegten Weges bestimmt (BayObLG VRS 15, 302). Für einen Verstoß wurde es jedenfalls als ausreichend angesehen, wenn die absolute Geschwindigkeitsdifferenz als zu gering anzusehen ist und der Überholvorgang daher zu viel Zeit in Anspruch nimmt (BayObLG DAR 1961, 204).
Innerorts wurde dabei eine Differenz von 50 zu 40 km/h (BGH VersR 1968, 1040, 1041; BGH VM 1966, 73, 74; BayObLG VRS 15, 302, 303; OLG Köln VRS 87/1994, 19, 21) bzw. – auf vierspuriger Straße – sogar von 50 zu 45 km/h (OLG Bremen VRS 28, 50, 53) als noch zulässig angesehen; der Verkehrsfluss solle nicht durch ein sonst eintretendes faktisches Überholverbot gestört werden. Auf der Autobahn wurde dagegen ein Geschwindigkeitsunterschied von 10 km/h als zu knapp beurteilt, jedenfalls bei beiderseits eher langsamem Tempo von 80 zu 70 km/h (OLG Frankfurt OLGR 1993, 19 f.). Bei alledem wurde auch ausdrücklich betont, dass es auf die konkrete Verkehrslage im Einzelfall ankomme (OLG Bremen VRS 28, 50, 53; Bay-ObLG DAR 1961, 204, 205).
Für den auch hier gegebenen Fall eines Überholvorganges zwischen Lkw auf der Autobahn (sog. „Elefantenrennen“) hat das OLG Hamm in einer aktuellen Entscheidung (NZV 2009, 302) eine Geschwindigkeitsdifferenz von 10 km/h (80 zu 70 km/h) als noch regelkonform beurteilt. Ausgehend vom Zweck des § 5 Abs. 2 S. 2 StVO, Behinderungen durch überlange Überholvorgänge zu verhindern, dürfe hier aber nicht einseitig des Interesse der am schnellen Fortkommen interessierten Pkw-Fahrer in den Vordergrund gestellt werden; auch gegenüber Lkw auf zweispurigen Autobahnen sei ein faktisches Überholverbot zu vermeiden. Es sei daher eine beiderseits zumutbare und für Verkehrsüberwachungsmaßnahmen praktikable Lösung zu suchen. Eine Ahndung komme dabei nur dann in Betracht, wenn der Verkehrsfluss tatsächlich unangemessen behindert werde, was zu verkehrsarmen Zeiten, insbesondere auf dreispurigen Strecken, ausscheiden könne. Ahndungswürdig sei ein derartiges Überholen aber dann, wenn es eine unangemessene Zeitspanne in Anspruch nehme und der schnellere Pkw-Verkehr nicht nur kurzfristig behindert werde. Als Faustregel für einen noch regelkonformen Überholvorgang sei eine Dauer von höchstens 45 Sekunden anzusetzen, was nach einer vom OLG Hamm angestellten Berechnung (Länge des überholten Fahrzeugs von knapp 25 m; vor und nach dem Überholen vorgeschriebener Sicherheitsabstand von 50 m, § 4 Abs. 3 StVO) einer Geschwindigkeit von 80 km/h für das überholende und 70 km/h für das überholte Fahrzeug entspreche. Auch wenn damit der konkreten Verkehrssituation im Einzelfall nicht immer Rechnung getragen werden könne, seien jedenfalls Überholvorgänge auf zweispurigen Autobahnen, die bei einer Dauer von mehr als 45 Sekunden bzw. einer Differenzgeschwindigkeit von unter 10 km/h zu einer deutlichen Behinderung anderer Verkehrsteilnehmer führten, bußgeldrechtlich zu ahnden. Diesen in Begründung und Ergebnis überzeugenden Ausführungen schließt sich der Senat jedenfalls insoweit an, als eine Differenzgeschwindigkeit von 10 km/h in dem für Überholvorgänge zwischen Lkw üblichen Bereich von um die 80 km/h noch als grundsätzlich zulässig zu beurteilen ist. Ein Verstoß ist danach in vorliegendem Fall nicht hinreichend festgestellt, obwohl durch den fraglichen Vorgang ein nachfolgender Pkw konkret aufgehalten wurde. Dass der Betroffene zu dem anderen Fahrzeug, das mit rund 80 km/h gefahren ist, eine Geschwindigkeitsdifferenz von weniger als 10 km/h eingehalten habe, lässt sich dem angefochtenen Urteil aber nicht entnehmen. Unter Berücksichtigung beiderseitiger Toleranzabschläge wird vielmehr von einem Unterschied in Höhe von 11,08 km/h ausgegangen. Da Feststellungen zur Länge des überholten Fahrzeugs nicht getroffen sind, kann auch die vom OLG Hamm angestellte Zeitberechnung nicht auf vorliegenden Fall übertragen werden. Eine erneute Hauptverhandlung kann aber schon deshalb wiederum zur Verurteilung des Betroffenen führen, weil sich das Amtsgericht bisher keine abschließende Meinung hinsichtlich der vorzunehmenden Berechnung der Messtoleranzen gebildet hat. Die vom Erstrichter geäußerte Vermutung, wonach angesichts des Einsatzes der identischen Messanlage etwaige Messungenauigkeiten für Überholten und Überholenden gleichermaßen gelten müssten, hält auch der Senat für plausibel; die gemessene Geschwindigkeitsdifferenz wäre danach nicht durch Heraufrechnen auf Seiten des Überholenden und Herabsetzung auf Seiten des Überholten zu erhöhen. Dies bedarf aber noch weiterer Aufklärung, möglicherweise auch durch Sachverständigengutachten. Die Sache ist dabei nicht nach § 79 Abs. 3 OWiG; § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof vorzulegen. Von einer Entscheidung des Bundesgerichtshofes oder eines anderen Oberlandesgerichts, die – wie erforderlich – in einem Revisions- oder Rechtsbeschwerdeverfahren ergangen ist (vgl. BGHSt 9, 272, 274; OLG Stuttgart DAR 1995, 32; Meyer-Goßner, StPO 52. Aufl. § 121 GVG Rn. 6) weicht der Senat nicht ab. Die Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 18. Januar 1961 (BayObLG DAR 1961, 204), durch die eine Geschwindigkeitsdifferenz von 10 km/h bei Überholen von Lkw auf der Autobahn beanstandet worden ist, beruht jedenfalls auf einem atypisch gelagerten Sachverhalt, der auch heutigen Verkehrsverhältnissen nicht mehr entsprechen dürfte (Steigungsstrecke; beiderseits extrem langsame Geschwindigkeit von 10 bzw. 20 km/h). Das o.a. Urteil des OLG Frankfurt (OLGR 1993, 19) ist in einem zivilrechtlichen Berufungsverfahren ergangen. Das Verfahren ist nach alledem unter weitgehender Aufhebung der angefochtenen Entscheidung zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens (vgl. KK-OWiG, 3. Aufl. § 79 Rn. 165), an das Amtsgericht zurückzuverweisen; es besteht dabei kein Anlass, einen anderen Amtsrichter mit der Sache zu befassen. Bestehen bleiben können allerdings die ersichtlich rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zur Fahrereigenschaft des Betroffenen (§ 79 Abs. 3, Abs. 6 OWiG; §§ 353, 354 Abs. 2 StPO).