Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 22.11.1974 - I ZR 23/74 - Zur Wettbewerbswidrigkeit des Ansprechens am Unfallort (Reparaturauftrag - Werbung am Unfallort I)

BGH v. 22.11.1974: Zur Wettbewerbswidrigkeit des Ansprechens am Unfallort (Reparaturauftrag - Werbung am Unfallort I)


Der BGH (Urteil vom 22.11.1974 - I ZR 23/74) hat entschieden:
Es verstößt gegen gute Wettbewerbssitten, Verkehrsunfallbeteiligte am Unfallort mit dem Ziel anzusprechen, sie zum Abschluss eines Reparaturauftrags zu veranlassen.


Siehe auch Reparaturwerkstatt und Unfallhelfer


Tatbestand:

Die Beklagte betreibt eine Autoreparaturwerkstatt, vermittelt Mietwagen und finanziert den zur Reparatur von Unfallfahrzeugen erforderlichen Geldbetrag. Im Mai 1972 ereignete sich in Köln ein Verkehrsunfall, bei dem auch die Insassen der beiden beteiligten Kraftfahrzeuge verletzt wurden. Der Kläger, ein Verein, der satzungsgemäß gewerbliche Interessen fördert, hat behauptet, der bei der Beklagten angestellte Zeuge H habe den einen Unfallbeteiligten, den Zeugen K, an der Unfallstelle angesprochen, ihm eine Geschäftskarte der Beklagten überreicht, die nach der Art ihrer Aufmachung auf die Aufnahme von Daten am Unfallort zugeschnitten gewesen sei und von denen H mehrere bei sich gehabt habe. Er habe dem Zeugen K auch erklärt, seine Firma, die Beklagte, werde alles übernehmen, sie werde dem Zeugen einen Rechtsanwalt besorgen und einen Mietwagen zur Verfügung stellen, der Zeuge brauche nur in das Büro der Beklagten zu kommen und zu unterschreiben. H habe für die Zuführung von Kunden seitens der Beklagten in früheren Fällen Provision erhalten und offenbar wegen einer Provision auch die K übergebene Karte mit seinem Namen versehen. Der Zeuge K habe im Zeitpunkt dieses Gespräches aufgrund der bei dem Unfall erlittenen Verletzungen und der Sorge um die schwer verletzte Beifahrerin unter der Wirkung eines Schocks gestanden und das Angebot des Zeugen H angenommen.

Der Kläger ist der Ansicht, der im Auftrag der Beklagten handelnde Zeuge H habe dadurch wettbewerbswidrig gehandelt.

Der Kläger hat beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, es bei Vermeidung von Geld- oder Haftstrafe, letztere zu vollziehen an ihrem Geschäftsführer Wilfried S, zu unterlassen, im geschäftlichen Verkehr zu Zwecken des Wettbewerbs Verkehrsunfallgeschädigte ungebeten an der Unfallstelle anzusprechen oder ansprechen zu lassen und/oder ihnen – sofern eine Ausnahmeerlaubnis gem. § 46 Abs. 1 Nr. 9 StVO nicht erteilt ist – Visitenkarten auszuhändigen oder aushändigen zu lassen mit dem Ziel, die Unfallgeschädigten zu veranlassen, den Unfallschaden in der Karosseriewerkstatt des Beklagten beheben zu lassen.
Die Beklagte hat jede Wettbewerbswidrigkeit geleugnet und behauptet, H habe nicht zu geschäftlichen Zwecken gehandelt. K und H hätten sich längere Zeit so gut gekannt, dass sie sich duzten, und H habe K aus diesem Grunde Ratschläge und Vorschläge zukommen lassen. Der Zeuge H sei auch nur zufällig an der Unfallstelle vorbeigekommen. Er habe sich nach Arbeitsschluss mit dem Zeugen V auf dem Wege zur Wohnung seiner Verlobten, die in der Nähe der Unfallstelle liege, befunden. Dabei habe er den Unfall gesehen, angehalten, erste Hilfe geleistet und durch Telefonat mit dem Geschäftsführer der Beklagten die Verständigung der Polizei veranlasst. Der Geschäftsführer seinerseits habe daraufhin die Polizei unterrichtet, ein Abschleppfahrzeug beordert und sei zur Unfallstelle gefahren; von dort habe er einen anderen Unfallverletzten in das Krankenhaus gebracht. Der Zeuge K sei an der Unfallstelle nicht zu irgendwelchen Aufträgen überredet worden. Vielmehr habe dieser sich später entschlossen, das Fahrzeug verschrotten zu lassen, und habe dann die Beklagte gebeten, alle hierzu erforderlichen Maßnahmen in die Wege zu leiten.

Das Landgericht hat nach Vernehmung von Zeugen antragsgemäß erkannt und zur Begründung ausgeführt, der Zeuge H habe dem Zeugen K unaufgefordert seine Hilfe angeboten, obwohl K unter Schockeinwirkung gestanden habe. Durch ein derartiges unaufgefordertes Ansprechen an der Unfallstelle werde der unter Schockeinwirkung stehende Unfallgeschädigte in wettbewerbswidriger Ausnutzung seiner Zwangslage überrumpelt.

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Berufung eingelegt, die das Oberlandesgericht durch das angefochtene Urteil zurückgewiesen hat. Mit der Revision verfolgt die Beklagte ihren Klagabweisungsantrag weiter. Der Kläger hat beantragt, die Revision zurückzuweisen.


Entscheidungsgründe:

I.

Das Berufungsgericht stellt aufgrund der Beweisaufnahme fest, der Zeuge H habe den unfallbeteiligten Zeugen K am Unfallort angesprochen und ihm die Geschäftskarte der Beklagten mit der Bemerkung überreicht, die Beklagte werde alles für ihn regeln, "Rechtsanwalt, Leihwagen, Reparatur". Beide Unfallfahrzeuge seien in die Werkstatt der Beklagten abgeschleppt, der Wagen des Zeugen K wegen Totalschadens verschrottet worden. Ohne Erfolg berufe sich die Beklagte darauf, H habe dabei aus privater Hilfsbereitschaft und nicht im geschäftlichen Verkehr zur Förderung des Wettbewerbs der Beklagten gehandelt. Dass beide sich bereits kannten und duzten, falle gegenüber den Tatsachen nicht entscheidend ins Gewicht, dass H mehrere solcher auf die Bedürfnisse von Unfallbeteiligten zugeschnittenen Geschäftskarten mit sich geführt habe und von der Beklagten für jeden so geworbenen Kunden eine Provision erwarten durfte. Über das Duzen hinausgehende freundschaftliche Beziehungen zwischen den beiden Zeugen habe die Beweisaufnahme nicht ergeben.

Das Ansprechen und/oder Aushändigen von Geschäftskarten an Verkehrsunfallgeschädigte durch Beauftragte von Kraftfahrzeugwerkstätten und gewerblichen Kraftfahrzeugvermietern, so führt das Berufungsgericht in rechtlicher Hinsicht aus, sei als unlauterer Wettbewerb im Sinne des § 1 UWG zu beurteilen. Denn Unfallgeschädigte befänden sich unmittelbar nach dem Unfall durch Schreck-, Schock- oder Verletzungswirkungen in einer Ausnahmesituation, in der das Kritik- und Ablehnungsvermögen eingeschränkt sei. Diese Situation dürfe nicht zur Erlangung von Aufträgen ausgenutzt werden. Auch würde es zur Belästigung des nervlich labilen und oft von anderen Dingen in Anspruch genommenen Geschädigten führen, wenn mehrere Konkurrenten, was bei einer Zulassung solcher Methoden erwartet werden müsse, das Unfallopfer am Unfallort ansprechen oder ihm auch nur ihre Geschäftskarten überreichen würden. Zusätzliche Verkehrsbehinderungen drohten, wenn mehrere solcher Werber ihre Fahrzeuge nahe dem Unfallort abstellten, und die polizeilichen Ermittlungen und die Bergung der Unfallopfer könnten behindert werden. Schließlich würden solche Praktiken zur unzulässigen Abhörung des Polizeifunks führen, um möglichst unmittelbar nach einem Unfall an Ort und Stelle erscheinen zu können, sowie zu der Versuchung, durch wettbewerbswidriges "Anreißen" das Unfallopfer zur Auftragserteilung zu bringen.


II.

Die dagegen gerichtete Revision hat keinen Erfolg.

1. Dies gilt zunächst für den Revisionsangriff, der Zeuge H habe nicht im geschäftlichen Verkehr zu Wettbewerbszwecken, sondern aus privater Hilfsbereitschaft gehandelt. Die Revision rügt dazu, das Berufungsgericht habe nicht den beantragten Beweis darüber erhoben, dass eine engere bekanntschaftliche Beziehung zwischen H und K bestanden hätte. Darin liegt jedoch kein Verstoß gegen § 286 ZPO. Denn auch eine "engere" Bekanntschaft schließt ein Handeln im geschäftlichen Verkehr zu Wettbewerbszwecken nicht aus, und es kann nicht als rechtsfehlerhaft angesehen werden, wenn das Berufungsgericht aus dem Bereithalten und Übergeben derartiger vorbereiteter Geschäftskarten und angesichts der Provisionserwartungen des Zeugen H davon ausgegangen ist, dass dieser in erster Linie im geschäftlichen Interesse zur Förderung des Wettbewerbs der Beklagten gehandelt hat. Diese Beurteilung wird auch dadurch gestützt, dass H nicht Polizei oder Krankenwagen, sondern sofort den Geschäftsführer der Beklagten benachrichtigt hat und dies, obwohl dessen Werkstatt sich nach der Feststellung des Berufungsgerichts keineswegs in der Nähe der Unfallstelle befunden hat. Auch steht es der Annahme einer Wettbewerbshandlung nicht entgegen, wie die Revision meint, dass K an der Unfallstelle der Firma C nur den Auftrag zum Abschleppen gegeben hat und von der Beklagten erst später wegen der Verschrottung des Fahrzeugs angesprochen worden ist. Das Ansprechen und Überreichen der Geschäftskarte am Unfallort mit dem Ziel, einen Reparaturauftrag zu erlangen, ist bereits für sich allein als Werbemaßnahme eine Wettbewerbshandlung im Sinne des § 1 UWG, selbst wenn es am Unfallort nicht zum Abschluss eines Vertrages kommt. Denn ein solches Ansprechen kann jedenfalls dazu führen, dass das Fahrzeug in die Werkstatt des Ansprechenden geschafft wird, womit sich dessen Aussichten verbessern, im Falle der Reparatur auch den Auftrag zu erhalten.

2. Hat hiernach das Berufungsgericht ohne Rechtsverstoß festgestellt, dass der Zeuge H K am Unfallort unter Aushändigung einer Geschäftskarte des Beklagten zu Wettbewerbszwecken angesprochen hat, so ist seine rechtliche Würdigung, dieses Verhalten verstoße gegen § 1 UWG, rechtsfehlerfrei. Für den allgemeineren Fall, dass im Rahmen privater Geschäftswerbung vor Ladengeschäften Straßenpassanten mit dem Ziel angesprochen werden, diese zum Betreten des Ladenlokals zu veranlassen und für den ähnlich liegenden Fall, dass so zum Betreten eines Werbewagens aufgefordert wird, ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt worden, dass ein solches Vorgehen schlechthin als wettbewerbswidrig zu beurteilen ist (GRUR 1965, 315, 316 – Werbewagen), weil darin eine untragbare Belästigung für die Angesprochenen liege. Gilt dies schon für das Ansprechen von Straßenpassanten, so muss es um so mehr für das Ansprechen von Unfallbeteiligten gelten. Denn diese befinden sich, wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt hat (ebenso schon OLG Nürnberg, BB 1968, 1448), regelmäßig in einer Ausnahmesituation, in der sie in noch stärkerem Maße des Schutzes vor unerbetenen Bemühungen bedürfen, sie zum Abschluss von Verträgen zu veranlassen. Da Unfallbeteiligte, von schwereren Folgen abgesehen, regelmäßig unter der Einwirkung des Unfallschocks stehen, der leicht zu einer gewissen Labilität führt, können sie derartigen Angeboten häufig nicht mit der gebotenen Übersicht und Kritik begegnen. Eine derartige Werbung ist daher schon aus dem Gesichtspunkt des Schutzes vor Überrumpelung unzulässig. Es würde aber auch zu einer untragbaren Belästigung der Unfallopfer führen, wenn derartigen Praktiken nicht ganz allgemein und ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalles ein Riegel vorgeschoben werden würde. Denn anderenfalls wären sämtliche interessierten Gewerbetreibenden gezwungen, alsbald an jeder Unfallstelle zu erscheinen und jeden Geschädigten anzusprechen, wenn sie nicht von vornherein aus dem Wettbewerb ausgeschlossen sein wollten. Dass diese "Summenwirkung" wettbewerbsrechtlich unbeachtlich sei, wie die Revision meint, weil die Gefahr der Nachahmung nicht die Handlung des ersten Wettbewerbers unlauter machen könne, kann nicht anerkannt werden. Einmal ist, wie dargelegt, schon die erste Ansprache wettbewerbswidrig, zum anderen hat der Bundesgerichtshof anerkannt, dass auch die Auswirkungen einer Wettbewerbshandlung auf das Verhalten der Mitbewerber im Rahmen des § 1 UWG zu berücksichtigen ist (vgl. BGHZ 43, 278 – Kleenex). Soweit das Berufungsgericht noch auf Behinderung des Verkehrs und der polizeilichen Ermittlungen usw. hinweist, bedarf es keiner Entscheidung, ob solche Gesichtspunkte, wie die Revision meint, im Rahmen des Wettbewerbsrechts unbeachtet bleiben müssen, weil die Sittenwidrigkeit dieser Werbemethode bereits durch die vorstehenden Erwägungen hinreichend begründet ist.

In der Literatur sind allerdings Bedenken dagegen erhoben worden, auch das unaufgeforderte Anbieten von Abschleppdiensten an der Unfallstelle als unlauter zu verbieten, wie dies das Oberlandesgericht Nürnberg (aaO) getan hatte (vgl. Schibel in BB 1968, 1449; ebenso Baumbach/Hefermehl, 11. Aufl. § 1 Anm. 128). Ob von dem oben genannten Grundsatz insoweit eine Ausnahme zu machen ist, bedarf hier jedoch keiner Entscheidung, weil diese Frage nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist. Denn das angefochtene Urteil verbietet unerbetene Ansprache nur, soweit sie mit dem Ziel erfolgt, die Geschädigten zu veranlassen, den Unfallschaden in der Karosseriewerkstatt der Beklagten beheben zu lassen. Überlegungen, die dahin gehen, dass das Abschleppen im mutmaßlichen Interesse des Geschädigten liege, dieser daher durch eine unerbetene Ansprache nicht unbedingt belästigt werden müsse und dass das Abschleppen auch dem allgemeinen Verkehrsinteresse entspreche, lassen sich jedenfalls auf den hier zu entscheidenden Fall der Suche nach Reparaturaufträgen nicht übertragen. Denn es besteht kein Bedürfnis, über Reparaturaufträge schon an der Unfallstelle zu entscheiden.

Die Unlauterkeit des ungebetenen Ansprechens wird schließlich nicht dadurch behoben, dass der Reparaturvertrag nicht sofort an Ort und Stelle, sondern erst im Büro des Werbenden geschlossen werden soll. Insoweit wäre zwar der Reparaturvertrag nicht unmittelbar durch Überrumpelung zustande gekommen, der Gesichtspunkt der Belästigung in einer ohnehin schwierigen Situation würde dadurch aber nicht ausgeräumt. Auch würde dadurch der Zwang für die Konkurrenten zum gleichförmigen Verhalten sowie die daraus entspringenden zusätzlichen Belästigungen für die Unfallbeteiligten nicht entfallen. Denn regelmäßig wird derjenige, der an Ort und Stelle die Zusage zum Abschleppen in seine Werkstatt erreicht hat, später auch den Reparaturauftrag erhalten, weil der Geschädigte sonst mit zusätzlichen Abschleppkosten, evtl. auch mit sonstigen Unannehmlichkeiten rechnen müsste.

3. Ohne Rechtsfehler hat das Berufungsgericht angenommen, dass die Beklagte für das Verhalten des Zeugen H einstehen muss (§ 13 Abs. 3 UWG) und dass Wiederholungsgefahr besteht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO.