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OLG Stuttgart Urteil vom 22.06.2010 - 12 U 16/10 - Zur Haftung bei einem Tankstellenunfall zwischen Abbiegendem ohne zweite Rückschau und zu schnellem Kfz-Führer
OLG Stuttgart v. 22.06.2010: Zur Haftung bei einer Kollision zwischen einem auf eine Tankstelle abbiegendem Fahrzeugführer ohne zweite Rückschau und einem zu schnellen Kfz-Führer
Das OLG Stuttgart (Urteil vom 22.06.2010 - 12 U 16/10) hat entschieden:
- Eine Ursächlichkeit eines Verstoßes gegen die jeweils zulässige Höchstgeschwindigkeit liegt vor, wenn, bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation der Unfall vermeidbar gewesen wäre. Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann.
- Zwar kann ein Verkehrsteilnehmer grundsätzlich davon ausgehen, dass ein Linksabbieger seiner Rückschaupflicht nachkommt. Eine Berufung auf den Vertrauensgrundsatz scheidet aber dann aus, wenn der Kfz-Führer seinerseits gegen Verkehrsvorschriften verstoßen hat, indem er nicht die jeweils geltende Höchstgeschwindigkeit eingehalten hat. Es ist auch Sinn und Zweck einer Geschwindigkeitsbeschränkung, die anderen Verkehrsteilnehmer vor einem zu schnellen Herannahen anderer Fahrzeuge zu schützen.
- Kommt es bei einem Abbiegevorgang auf eine Tankstelle zu einem Zusammenstoß, weil der Abbiegende gegen die ihm obliegende doppelte Rückschaupflicht verstoßen hat und der andere Unfallbeteiligte mit seinem Fahrzeug die zugelassene Höchstgeschwindigkeit um 20–30 km/h überschritten hat, so ist eine hälftige Schadensteilung angemessen.
- Die Festlegung des Normaltarifs für die Anmietung eines Unfallersatzfahrzeugs kann auf Basis des Schwacke-Mietpreisspiegels 2009 erfolgen. Hinzu kommt ein Aufschlag für unfallbedingte Mehraufwendungen, auf 20% geschätzt werden kann.
Siehe auch Doppelte Rückschaupflicht des Linksabbiegers und Linksabbiegen
Gründe:
Von der Darstellung des Tatbestands wird gem. §§ 540 Abs.'2, 313 a Abs. 1 Satz 1 ZPO, § 26 Nr. 8 Satz 1 EGZPO abgesehen.
I.
Die zulässige Berufung des Klägers ist nicht begründet. Die zulässige Berufung der Beklagten hat nur in einem geringen Umfang Erfolg.
1. Das Landgericht hat zutreffend entschieden, dass der Kläger einen Anspruch auf Ersatz von 50% des durch den Unfall in B... am ... 2009 entstandenen Schadens aus §§ 7, 17 StVG i.V.m. § 115 WG hat. Nachdem kein Fall des § 7 Abs. 2 StVG vorliegt, richtet sich der Umfang der Haftung der Beklagten nach § 17 StVG. Die danach durchzuführende Abwägung, bei der nur bewiesene und unstreitige Umstände' berücksichtigt wenden können, die erwiesenermaßen ursächlich für den Unfall geworden sind (BGH NZV 2005, 407), ergibt im vorliegenden Fall eine Haftungsverteilung von 50:50.
a) Auf klägerischer Seite liegt ein kausaler schuldhafter Verkehrsverstoß vor. Das Landgericht hat zutreffend aufgrund der Ausführungen des Sachverständigen ... angenommen, dass der Zeuge ... als Fahrer des klägerischen Fahrzeuges Audi A4 beim Abbiegevorgang auf das Gelände der Shell-Tankstelle gegen die doppelte Rückschaupflicht des § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO verstoßen und dadurch den Zusammenstoß der beiden Fahrzeuge verursacht hat Der Kläger greift diese Feststellungen mit der Berufung auch nicht an. Nachdem der Zeuge ... in ein Grundstück einbiegen wollte, liegt zudem auch noch ein Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO vor.
b) Zu Recht hat das Landgericht angenommen, dass auch auf Beklagtenseite die Betriebsgefahr durch ein schuldhaftes Fehlverhalten des Fahrers erhöht wurde.
aa) Der Zeuge ... hat als Fahrer des bei der Beklagten versicherten Fahrzeuges VW Golf gegen § 3 Abs. 3 StVO verstoßen, indem er ausweislich des Gutachtens des Sachverständigen ... die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h um 20 bis 30 km/h Überschritten hat. Anders als die Beklagte meint, war diese Geschwindigkeitsüberschreitung auch für den Unfall ursächlich.
(1) Eine Ursächlichkeit eines Verstoßes gegen § 3 StVO liegt vor, wenn, bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit zum Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Verkehrssituation der Unfall vermeidbar gewesen wäre (BGH DAR 2003, 308, 309). Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann (BGH DAR 2003, 308).
(2) Eine solche unklare Verkehrssituation war - wie das Landgericht zutreffend angenommen hat - bereits durch den Einfahrvorgang des klägerischen Fahrzeugs in die auch vom Zeugen ... befahrene Straße entstanden. Nach seinen eigenen Angaben hat der Zeuge ... den Audi A4 des Klägers bereits gesehen, als dieser nach dem Wenden erneut nach links in die Straße eingebogen ist. in dieser Situation hätte er nicht beschleunigen und überholen dürfen, da für ihn nicht absehbar war, ob es sich um einen, bloßen Einfahrvorgang oder - angesichts der kurzen Entfernung zur Tankstelle - um ein Wendemanöver gehandelt hat. Dies gilt umso mehr als beim Fahrzeug des Klägers während des gesamten Vorgangs den Blinker gesetzt war. Der Zeuge ... hat hierzu angegeben, er habe den Blinker noch vor dem Wendevorgang gesetzt und ihn dann zugleich wieder heruntergedrückt, als er nach dem Einbiegen hochgesprungen sei. Diese Aussage ist trotz des erheblichen Interesses des Zeugen am Ausgang des Rechtsstreits glaubwürdig. Dabei ist zu berücksichtigen, dass auch der Beifahrer ... sowie die Zeugen ... und ... ausgesagt haben, dass der Blinker gesetzt war. Zwar konnten diese Zeugen nachvollziehbar keine Angaben zum Zeitpunkt des Setzens des Blinkers machen. Es ist aber durchaus lebensnah, bei einem solchen Vorgang den Blinker nach dem Hochspringen gleich wieder herunterzudrücken. Einer erneuten Vernehmung der Zeugen bedarf es nicht, da der Senat keine abweichende Beurteilung der Glaubwürdigkeit vornimmt, sondern lediglich die Aussage des Zeugen ... stärker gewichtet. Anders als die Beklagte meint, konnte der Zeuge ... nicht annehmen, dass der Blinker nur den Einfahrvorgang anzeigen sollte.
(3) Der Sachverständige ... hat nachvollziehbar ausgeführt, dass der Unfall hätte vermieden werden können, wenn der Fahrer bereits bei Erkennen des Einfahrvorgangs des klägerischen Fahrzeugs in die Fahrbahn mit einer Reaktion beginnt.
bb) Angesichts der unklaren Verkehrslage liegt auf Seiten der Beklagten auch ein Verstoß gegen § 5 Abs. 3 StVO vor.
cc) Die Beklagte kann sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen. Zwar kann ein Verkehrsteilnehmer grundsätzlich davon ausgehen, dass ein Linksabbieger seiner Rückschaupflicht nachkommt. Eine Berufung scheidet aber im vorliegenden Fall aus, weil der Zeuge ... seinerseits gegen Verkehrsvorschriften verstoßen hat (vgl. auch BGH DAR 2003, 308). Es ist auch Sinn und Zweck einer Geschwindigkeitsbeschränkung, den Verkehrsteilnehmer vor einem zu schnellen Herannahen anderer Fahrzeuge zu schützen.
c) Bei der Abwägung stehen sich somit neben der jeweiligen Betriebsgefahr zwei ursächliche schuldhafte Verkehrsverstöße gegenüber. Ein Übergewicht eines Verstoßes kann nicht angenommen werden. Zwar schuldet ein Verkehrsteilnehmer bei einem Abbiegevorgang in ein Grundstück nach § 9 Abs. 5 StVO äußerste Sorgfalt. Andererseits liegt aber auf Beklagtenseite eine erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung vor.
2. Dem Kläger ist insgesamt ein Schaden i.H.v. 5.972,22 Euro entstanden. Bei einer Haftungsquote von 50% ergibt dies einen Anspruch von 2.986,11 Euro.
a) Der Fahrzeugschaden, die Sachverständigenkosten, die Abschleppkosten, die Auslagenpauschale und Meldekosten i.H.v. insgesamt 5.219,82 Euro sind unstreitig.
b) Hinzu kommen Mietwagenkosten in Höhe von 752,40 Euro.
aa) Entgegen der Auffassung des Landgerichts waren nur Mietwagenkosten i.H.v. 792,00 Euro erforderlich.
(1) Der Kläger kann nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB den Ersatz der Mietwagenkosten verlangen, die ein verständiger, wirtschaftlich denkender Mensch in der Lage des Geschädigten für zweckmäßig und notwendig halten darf. Ein Verstoß gegen das Wirtschaftlichkeitsgebot liegt noch nicht vor, wenn ein Kraftfahrzeug zu einem Tarif angemietet wird, der gegenüber einem Normaltarif teurer ist, soweit die Besonderheiten dieses Tarifs mit Rücksicht auf die Unfallsituation aus betriebswirtschaftlicher Sicht ein gegenüber dem Normaltarif höheren Preis rechtfertigen, weil sie auf Leistungen, des Vermieters beruhen, die durch die besondere Unfallsituation veranlasst und infolgedessen zur Schadensbehebung nach § 249 BGB erforderlich sind. Inwieweit dies der Fall ist, hat der Tatrichter nach § 287 ZPO zu schätzen (BGH VersR 2010, 683 Tz. 8).
(2) Im konkreten Fall schätzt der Senat den Normaltarif für die Anmietung eines wertgleichen Mietwagens auf 660,- Euro für zwei Wochen. Dabei geht der Senat mit Blick auf das hohe Alter des verunfallten Fahrzeuges (Audi A4) von der Anmietung eines Fahrzeuges der Klasse 4 (entspricht einem Seat Leon) aus. Die Schätzung kann im vorliegenden Fall nicht auf der Grundlage des Schwacke-Mietpreisspiegels 2009 erfolgen.
Der darin vorgesehene Mittelwert für die Anmietung eines Fahrzeuges der Klasse 4 in Bietigheim-Bissingen für eine Woche von 601,40 Euro zuzüglich 154,-- Euro für Vollkaskoversicherung (= 1,510,80 Euro für zwei Wochen) liegt erheblich über den von der Beklagten vorgelegten Angeboten. Hieraus folgt, dass der Ansatz in dem Mietpreisspiegel zu hoch ist (vgl. auch BGH VersR 2010, 683 Tz. 22). Demgegenüber ist die Liste des Fraunhofer-Instituts eine geeignetere Schätzungsgrundlage, da der dort ermittelte Wert von 261,89 Euro pro Woche einschließlich der Vollkaskoversicherung (= 523,78 Euro für zwei Wochen) den von den Beklagten vorgelegten Angeboten näher kommt und daher eher der Marktsituation entspricht. So kostet nach den von der Beklagten vorgelegten Angeboten die 14-tägige Miete für einen Ford Focus 493,99 Euro (bei späterer Bezahlung 633,98 Euro), für einen Seat Leon 503,99 Euro und für einen VW Polo 530,00 Euro. Da aber bereits die von der Beklagten vorgelegten Angebote den Listenwert des Fraunhofer-Instituts zum Teil überschreiten und der Geschädigte nicht zu einer Marktforschung verpflichtet ist, ist der Listenwert um 25% auf rund 660,00 Euro zu erhöhen. Dass ein solcher Normaltarif für den Kläger nicht zugänglich war, hat dieser nicht hinreichend dargelegt (zur Darlegungslast BGH NJW 2009, 58).
(3) Hinzu kommt ein Aufschlag für unfallbedingte Mehraufwendungen, den der Senat auf 20% schätzt, mithin 132,- Euro. Eine derartige Pauschalierung ist zulässig (BGH NJW 2006, 360; vgl. auch BGH VersR 2010, 683 Tz. 8; zum konkreten Wert von 20% auch Palandt/Grüneberg, BGB, 69. Aufl., § 249 Rn. 33 m.w.N.). Anders als die Beklagte meint, ist im Rahmen des § 287 ZPO jedenfalls im vorliegenden Fall eine Aufklärung der konkreten Besonderheiten, die eine' Erhöhung des Tarifs rechtfertigen-können, nicht erforderlich (undeutlich insoweit allerdings BGH VersR 2010, 683). Dabei ist im vorliegenden Fall zu berücksichtigen, dass mit Blick auf die Haftungsquote von 50% keine erheblichen Beträge im Raum stehen. Eine Beweisaufnahme Über eine einzelne unfallbedingte Mehraufwendungen würde zu erheblich höheren Kosten für die Beteiligten führen. Es ist aber gerade Sinn und Zweck des § 287 Abs. 2 ZPO, einen unverhältnismäßigen Aufwand bei der Bemessung der Schadenshöhe zu vermeiden (Zöller/Greger, ZPO, 27. Aufl., § 287 Rn. 1).
(4) Kosten für Winterreifen sind nicht zu berücksichtigen, da eine solche Ausstattung in den Wintermonaten üblich ist und sich somit auf den Normalpreis nicht auswirken.
bb) Von dem Betrag von 792,00 Euro sind Kosten in Höhe von 5% für ersparte Eigenaufwendungen (vgl. Palandt/Grüneberg, a.a.O., § 249 Rn. 36) abzuziehen, so dass der Kläger 752,40 Euro ersetzt verlangen kann.
3. Zinsen können nach § §§ 286, 288 BGB ab dem 01.07.2009 gefordert werden.
4. Der Anspruch auf Erstattung der außergerichtlichen Kosten ist in Höhe von 316,18 Euro berechtigt.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO, § 26 Nr. 8 Satz 1 EGZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 543 Abs. 2 ZPO nicht vorliegen. Die Frage der Erstattungsfähigkeit von Mietwagenkosten ist durch eine Vielzahl von höchstrichterlichen Entscheidungen ausreichend geklärt.