Das Verkehrslexikon

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OLG München Urteil vom 29.10.2010 - 10 U 2996/10 - Zum Mitverschulden eines Kradfahrers durch zu hohe Geschwindigkeit bei einem Linksabbiegerunfall

OLG München v. 29.10.2010: Zum fehlenden Mitverschulden eines Kradfahrers durch eine geringfügig zu hohe Geschwindigkeit bei einem Linksabbiegerunfall


Das OLG München (Urteil vom 29.10.2010 - 10 U 2996/10) hat entschieden:
  1. Für die Unabwendbarkeit im Rahmen des § 17 III StVG ist der in Anspruch genommene Halter beweisbelastet. Die Unabwendbarkeit muss sich nach h.M. auf das Unfallereignis selbst und die eingetretenen Schadensfolge beziehen. Dabei können nur solche Umstände der Beurteilung zugrunde gelegt werden, die zur Überzeugung des Gerichts feststehen; eine Unaufklärbarkeit von Umständen geht zu Lasten des Halters. Im Rahmen der Abwägung nach § 17 I und II StVG gilt der Grundsatz, dass jeder Halter die Umstände beweisen muss, die zu Ungunsten des anderen Halters berücksichtigt werden sollen. Dies führt bei Unaufklärbarkeit des Unfallgeschehens hinsichtlich derselben Tatsache bei § 17 II StVG und § 17 III StVG zu wechselnden Beweislastentscheidungen. Falsch wäre es, aus dem Umstand, dass sich eine Partei nicht entlasten kann, das Gegenteil als bewiesen anzusehen.

  2. Ein geringfügiges Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 1 km/h oder 2 % begründet keine Mithaftung eines Motorradfahrers und ist bei einem Kradunfall darüber hinaus dann nicht nachweisbar unfallursächlich, wenn der Unfall bei Einhaltung von 50 km/h zwar bei optimaler Bremsung mit einem Verzögerungswert von 8 m/sek.² vermeidbar war, diese aber von einem Normalkradfahrer, der kein Bremsprofi ist, nicht ohne weiteres zu erzielen ist.

  3. Es ist in der Unfallforschung anerkannt, dass es gerade in lebensbedrohlichen Situationen den meisten Motorradfahrern nicht gelingt, die Vorderradbremse kontrolliert zu betätigen. Nach ständiger Rechtsprechung begründet das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers dann kein Verschulden, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgemäße unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert.


Siehe auch Krad-/Motorradunfälle und Krad/Motorrad allgemein


Gründe:

A.

Die Parteien streiten um die Verschuldensanteile des Klägers und der Beklagten zu 1) aus einem Verkehrsunfall. Der Kläger begehrt Feststellung der Ersatzpflicht der Beklagten zu 100 %, die Beklagten wenden u.a. ein Mitverschulden des Klägers ein und erkannten ihre Haftung vorprozessual zu 50 % an. Der Kläger fuhr am 01.09.2006 gegen 08.45 Uhr mit seinem Motorrad Honda CBR 600 F, welches nicht mit einer ABS-Bremsanlage ausgestattet war, auf der G.straße in B. in westlicher Richtung. In der Gegenrichtung (Richtung Berchtesgaden) fuhr die Beklagte zu 1) mit ihrem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Pkw Seat, amtl. Kennzeichen …64, um auf Höhe des Anwesens Nr. 29 nach links in einen der dort direkt an die Straße angrenzenden freien Parkplätze vor dem Gebäude der örtlichen Sparkasse auf dem dortigen Grundstück einzubiegen. Der Zeuge St. wollte mit seinem Pkw Nissan, amtl. Kennzeichen …37 rückwärts aus einem der Parkplätze ausfahren, er befand sich bereits im Fahrzeug. Die Beklagte zu 1), die den herannahenden Kläger nicht wahrgenommen hatte, fuhr über die Fahrbahnmitte, der Kläger bremste und kam mit seinem Motorrad zu Sturz. Während das Motorrad auf der Fahrbahn weiter und gegen den Pkw des Zeugen St. rutschte, prallte der Kläger auf seiner Fahrbahnseite mit der Front des Pkw Seat zusammen, wodurch er u.a. eine Fraktur des 12. Brustwirbels und eine Querschnittslähmung erlitt.

Der Kläger trägt vor, der im gegen die Beklagte zu 1) geführten Ermittlungsverfahren 340 JS 40018/06 Staatsanwaltschaft Traunstein tätige Sachverständige Dipl.-Ing. K. sei zu einer zu hohen Kollisionsgeschwindigkeit von 60 km/h bis 68 km/h gelangt, weil er von Verzögerungswerten ausgegangen sei, die nur bei optimaler Bremsung erzielbar seien; der Kläger habe keine Hinterradbremsung durchgeführt.

Die Beklagten tragen vor, die Sichtbehinderung durch Nebel und Sonneneinstrahlung sei nicht so gewesen, dass man einen Motorradfahrer im Gegenverkehr nicht hätte wahrnehmen können. Sie verteidigen das Ergebnis des im Ermittlungsverfahren erholten Gutachtens zur Ausgangsgeschwindigkeit des Klägers (Anl. K 3 zur Klageschrift = Bl. 1/11 d.A.) Der Kläger sei viel zu schnell gefahren; hätte er die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h eingehalten, hätte er eine Kollision sturzfrei vermeiden können. Auch habe nicht der Abbiegevorgang der Beklagten zu 1) die Bremsung des Klägers ausgelöst, sondern das Verhalten des Zeugen St., der rückwärts vom Parkplatz der Sparkasse ausparken wollte und bereits gefahren sei oder jedenfalls den Rückwärtsgang eingelegt habe. Die Beklagte zu 1) habe in der Mitte der Fahrbahn noch auf ihrer Fahrbahnseite angehalten und sei dann losgefahren. Der Sachverständige berücksichtige nicht, dass der Pkw von der Kollisionsstelle bis zum Erreichen der dokumentierten Endstellung noch weitergefahren sei. Berücksichtige man die Rutschverzögerung des Klägers, ergebe sich eine Kollisionsgeschwindigkeit des Klägers mit dem Pkw von nur 17,86 km/h, was die schweren Verletzungen nicht erklären könne. Von einem blockierenden Vorderrad könne angesichts der diagonalen Spuren am Vorderrad nicht ausgegangen werden.

Hinsichtlich des weiteren Parteivortrags und der tatsächlichen Feststellungen erster Instanz wird auf das angefochtene Urteil vom 21.04.2010 (Bl. 109/115 d.A.) Bezug genommen (§ 540 I 1 Nr. 1 ZPO).

Das LG hat nach Anhörung der Parteien, Einvernahme von Zeugen und Erholung eines Sachverständigengutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. Sp. nebst Ergänzung und mündlicher Anhörung die Beklagten verurteilt, dem Kläger den unfallbedingten materiellen und immateriellen Schaden über die vorprozessual anerkannten 50 % hinaus zu 80 % zu erstatten, hat vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 3.563,33 € nebst Zinsen zugesprochen und im Übrigen die Klage abgewiesen.

Hinsichtlich der Erwägungen des Landgerichts wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Gegen dieses dem Kläger am 28.04.2010 zugestellte Urteil hat der Kläger mit einem beim Oberlandesgericht München am 20.05.2010 eingegangenen Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten Berufung eingelegt (Bl. 125 d.A.) und diese mit einem beim Oberlandesgericht München am 16.06.2010 eingegangenen Schriftsatz (Bl. 127/129 d.A.) begründet.

Der Kläger beantragt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils nach dem Antrag erster Instanz zu erkennen und festzustellen, dass die Beklagten samtverbindlich verpflichtet sind, dem Kläger über die anerkannten 50 % und über die Haftungshöchstgrenzen des § 12 StVG hinaus den materiellen und immateriellen Schaden, der dem Kläger auf Grund des Verkehrsunfalls vom 01.09.2006 vor dem Anwesen G.straße 29 in B. entstanden ist und in Zukunft noch entstehen wird, zu 100 % zu ersetzen, die Beklagten darüber hinaus zu verurteilen, an den Kläger samtverbindlich außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von weiteren 1 095,28 € nebst Zinsen hieraus in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 29.10.2008 zu bezahlen und die Anschlussberufung zurückzuweisen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen,

und im Wege einer beim Oberlandesgericht München nach Verlängerung der Frist zur Erwiderung auf das Berufungsvorbringen am 24.08.2010 eingegangenen Anschlussberufung (Bl. 133/140), die Klage abzuweisen.
Die Berufung begehrt – ausgehend von den tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts – eine Alleinhaftung der Beklagten unter dem Gesichtspunkt des Zurücktretens der Betriebsgefahr des Motorrades des Klägers, die Anschlussberufung erhebt Einwände gegen das Ergebnis des Sachverständigen zur Fahrstrecke und Fahrzeit der Beklagten zu 1) sowie zur Bremsverzögerung und Ausgangsgeschwindigkeit des Klägers.

Der Senat hat nach Hinweisen zur Terminierung (Verfügung vom 23.06.2010 = Bl. 130 d.A.) mündlich verhandelt. Eine weitere Beweiserhebung erfolgte nicht. Ergänzend wird auf die vorgenannte Berufungsbegründungsschrift, die Berufungserwiderung vom 24.08.2010 (Bl. 133/140 d.A.), die Replik vom 10.09.2010 (Bl. 142/143 d.A.) sowie die Sitzungsniederschrift vom 17.09.2010 (Bl. 144/146 d.A.) Bezug genommen.


B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg, während die Anschlussberufung zurückzuweisen war.


I.

Der Anspruch des Klägers ergibt sich gegen die Beklagten aus §§ 823 I, II BGB i.V. mit § 9 III 1, V StVO, 7 I, 17 I, II StVG und hinsichtlich der Beklagten zu 2) i.V. mit § 3 Nr. 1 PflVersG a.F. Die Beschränkung auf die Haftungshöchstgrenzen des § 12 StVG betrifft nur die Gefährdungshaftung, vorliegend besteht daneben eine Haftung aus unerlaubter Handlung. Das Landgericht ging nach durchgeführter Beweisaufnahme zu Recht von einem Verstoß der Beklagten zu 1) gegen § 9 III 1, V StVO aus und sah zu Recht ein unfallursächliches Mitverschulden des Klägers als nicht erwiesen an.

Nach § 286 I 1 ZPO hat das Gericht unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer Beweisaufnahme nach freier Überzeugung zu entscheiden, ob eine tatsächliche Behauptung für wahr oder nicht wahr zu erachten ist. Diese Überzeugung des Richters erfordert keine – ohnehin nicht erreichbare (vgl. RGZ 15, 339; Senat NZV 2006, 261; Urt. v. 28.07.2006 – 10 U 1684/06 [Juris], st. Rspr., zuletzt Urt. v. 11.06.2010 – 10 U 2282/10) – absolute oder unumstößliche, gleichsam mathematische Gewissheit und auch keine „an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit“, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, der Zweifeln Schweigen gebietet (grdl. BGHZ 53, 245 [256] = NJW 1970, 946, st. Rspr., insbesondere NJW 1992, 39 [40] und zuletzt VersR 2007, 1429 [1431 unter II 2]; Senat a.a.O.). Das Landgericht hat diese Grundsätze beachtet.

Der Senat ist nach § 529 I Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des Erstgerichts gebunden, wenn nicht konkrete Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung (das sind ein unrichtiges Beweismaß, Verstöße gegen Denk- und Naturgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze, Widersprüche zwischen einer protokollierten Aussage und den Urteilsgründen sowie Mängel der Darstellung des Meinungsbildungsprozesses wie Lückenhaftigkeit oder Widersprüche, vgl. zuletzt BGH VersR 2005, 945 = DAR 2005, 441; Senat in st. Rspr., zuletzt etwa Urt. v. 09.10.2009 – 10 U 2965/09 m.w.N.) vorgetragen werden. Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinn ist jeder objektivierbare rechtliche oder tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen (BGHZ 159, 254 [258]; NJW 2006, 152 [153]; Senat a.a.O.); bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte genügen nicht (BGH a.a.O.; Senat a.a.O.). Ein solcher konkreter Anhaltspunkt für die Unrichtigkeit der erstinstanzlichen Beweiswürdigung ist von der Anschlussberufung nicht aufgezeigt worden.

Im Einzelnen:

1. Die Beklagte zu 1) hat selbst angegeben (Sitzungsniederschrift vom 02.03.2009, S. 2 = Bl. 48 d.A.), dass sie aus dem Stand anfuhr und den Kläger vor der Kollision überhaupt nicht wahrnahm und die Sichtbehinderung durch den tiefen Sonnenstand und den noch vorhandenen Nebel nicht so war, dass man einen Motorradfahrer im Gegenverkehr nicht hätte wahrnehmen können. Die geometrische Sichtweite betrug nach dem im Ermittlungsverfahren erholten Gutachten, auf das sich die Beklagten beziehen, auf Grund der in der Annäherungsrichtung des Klägers befindlichen leichten Kurve 105 m (Bl. 23/24 des Gutachtens K.) und selbst bei der von diesem angenommenen hohen Ausgangsgeschwindigkeit von 68 km/h war der Kläger zum Zeitpunkt des Losfahrens der Beklagten zu 1) nur maximal 70 m entfernt (Gutachten K... S. 24).

a) Das Landgericht gelangte nach Einvernahme der Zeugen St. und I. zu den Sichtbehinderungen durch die tiefstehende Sonne und den sich auflösenden Nebel sowie Inaugenscheinnahme der von der Polizei gefertigten Fotos und insbesondere nach Anhörung der Beklagten zu 1) zu dem Ergebnis, dass der Kläger für die Beklagte zu 1) vor Beginn ihres Abbiegevorganges bei gehöriger Aufmerksamkeit erkennbar gewesen wäre, wovon auch der gerichtliche Sachverständige (Gutachten Dipl.-Ing. Dr. Sp. vom 09.11.2009 S. 60/61), insoweit in Übereinstimmung mit dem im Ermittlungsverfahren tätigen Sachverständigen, ausgeht. Dies lässt Rechtsfehler zum Nachteil der Beklagten nicht erkennen und dagegen wendet sich die Anschlussberufung nicht, insbesondere wird auch kein Verstoß gegen die Beleuchtungspflicht nach § 17 II a StVO behauptet (der Sachverständige K... hat in seinem Gutachten, S. 32 – 34 ausgeführt, dass der Betrieb des Abblendlichts zum Unfallzeitpunkt auf Grund der deutlich verformten Glühwendel objektivierbar sei). Der Sachverständige Dipl.-Ing. Dr. Sp., von dessen hervorragender Sachkunde sich der Senat sowohl auf unfallanalytischem als auch auf biomechanischem Gebiet aus einer Vielzahl erholter Gutachten und mündlichen Anhörungen auch vor dem Senat überzeugt hat, gelangte in seinem Gutachten weiter zu dem Ergebnis, dass sich die Kollision mit dem Kläger auf dessen Fahrbahnseite ereignete, nachdem die Beklagte zu 1), was sie auch selbst angab, über die Mittellinie fuhr. Dagegen wendet sich die Anschlussberufung nicht.

b) Das Landgericht ging weiter zutreffend auch davon aus, dass das Fahrverhalten der Beklagten zu 1) Anlass für den Kläger war, eine Bremsung einzuleiten. Soweit die Beklagten sich darauf berufen, dass nicht die Beklagte zu 1), sondern der Zeuge St. die Reaktion des Klägers auslöste, dringen sie damit nicht durch. Die von der Polizei gefertigten Fotos (Anl. zum Protokoll v. 02.03.2009) zeigen zwar, dass der Pkw des Zeugen nach dem Unfall mit dem Heck geringfügig über die Grundstücksgrenze hinaus in die Fahrbahn hineinragt. Das Landgericht hat dem Zeugen geglaubt, dass er entsprechend seinen Angaben (Protokoll v. 02.03.2009, S. 4 = Bl. 50 d.A.) vor dem Anstoß des Motorrades gegen seinen Pkw diesen noch nicht in Rückwärtsausfahrt bewegt hatte. Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Würdigung des Landgerichts bestehen insoweit nicht. Der Zeuge hat bereits im Ermittlungsverfahren angegeben, dass er sein Fahrzeug vor dem Unfall noch nicht rückwärts bewegt hat und zunächst mit der vollen Fahrzeuglänge auf dem Grundstück der Sparkasse befindlich war. Der gerichtliche Sachverständige (S. 52 des Gutachtens) hat unter Bewertung der Spuren am Hinterrad des Pkw des Zeugen und am Motorrad überzeugend ausgeführt, dass ein Stillstand des Pkw zum Zeitpunkt der Wechselwirkung mit dem Motorrad technisch ohne weiteres möglich ist. Danach löste der Pkw des Zeugen keine Reaktionsaufforderung für den Kläger aus und der gegebenenfalls wegen bereits eingelegtem Rückwärtsgang in Betrieb befindliche Rückfahrscheinwerfer stellt als solcher keine Reaktionsaufforderung dar; auch war der Pkw (Fahrzeuglängsachse) war im 90°-Winkel zur Annäherungsrichtung des Klägers abgestellt.

c) Gegen die Beklagte zu 1) spricht daher zum Einen der Anschein eines Verstoßes gegen ihre Pflicht, den Gegenverkehr durchfahren zu lassen (BGH NZV 2005, 249; 2007, 294) und dessen Gefährdung im Hinblick auf das beabsichtigte Einbiegen in ein Grundstück auszuschließen und die Beklagten konnten diesen nicht widerlegen. Darüber hinaus ging das Landgericht auf Grund der Angaben der Zeugen und insbesondere der Beklagten zu 1) selbst rechtsfehlerfrei davon aus, dass die Beklagte zu 1) den herannahenden Kläger trotz Erkennbarkeit infolge nicht gehöriger Aufmerksamkeit übersah. Aus ihren Angaben folgt, dass sie auch während des eingeleiteten Abbiegevorganges den gestürzten und auf sie zurutschenden Kläger nicht wahrnahm.

2. Der Unfall war für den Kläger nicht nachweisbar unabwendbar gem. § 17 III StVG. Für die Unabwendbarkeit im Rahmen des § 17 III StVG ist der in Anspruch genommene Halter beweisbelastet (BGH VersR 1973, 83 = DAR 1973, 72 = VerkMitt. 1973, Nr. 49 = NJW 1973, 44 [46] = MDR 1973, 208; DAR 1976, 246; OLG München – 24. ZS – VersR 1976, 1143 [1144]; OLG Köln NZV 1994, 230 = VersR 1994, 573 = r+s 1994, 94 = VRS 87 [1994] 92; DAR 1995, 484; OLG Brandenburg VRS 106 [2004] 99; KG NZV 2004, 579 = VRS 107 [2004] 23 = KGR 2004, 459; OLG Celle OLGR 2007, 854; OLG Schleswig OLGR 2008, 314), vorliegend der Kläger. Die Unabwendbarkeit muss sich nach h.M. auf das Unfallereignis selbst und die eingetretenen Schadensfolge beziehen (BGH NJW 1982, 1149 [1150]; 2000, 3069; VersR 2002, 911; OLG Stuttgart VersR 1980, 341 f.; OLG Hamm r+s 2002, 412). Dabei können nur solche Umstände der Beurteilung zugrunde gelegt werden, die zur Überzeugung des Gerichts feststehen; eine Unaufklärbarkeit von Umständen geht zu Lasten des Halters (BGH VersR 1973, 83 [84] = DAR 1973, 72 = VerkMitt. 1973, Nr. 49 = NJW 1973, 44 [46] = MDR 1973, 208; NJW 1982, 1149 [1150]; OLG Celle OLGR 2007, 854; KG NZV 2004, 579 = VRS 107 [2004] 23 = KGR 2004, 459).Vorliegend war der Unfall nach dem Gutachten des Sachverständigen Dr. Sp. nebst Ergänzung und mündlicher Anhörung für den Kläger nicht beweisbar unvermeidbar, da eine Ausgangsgeschwindigkeit von 51 km/h bis 66 km/h in Betracht kommt und der Unfall bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h im Falle, dass sich der Kläger mit 66 km/h genähert haben sollte, wegen der dann vorhandenen größeren Wegstrecke bis zum Kollisionspunkt auch für einen Normalfahrer vermeidbar war, während bei Annäherung mit 51 km/h im Falle der Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit eine Vermeidbarkeit (nur) bei optimaler Bremsung durch einen „Bremsprofi“ möglich gewesen wäre.

3. Ein unfallursächliches Mitverschulden des Klägers ist nicht bewiesen, da die Beklagten nicht beweisen konnten, dass der Kläger über 51 km/h schnell fuhr und er den Unfall bei einer Ausgangsgeschwindigkeit von 50 km/h hätte vermeiden können.

Im Rahmen der Abwägung nach § 17 I und II StVG gilt der Grundsatz, dass jeder Halter die Umstände beweisen muss, die zu Ungunsten des anderen Halters berücksichtigt werden sollen (BGH NJW 1996, 1405 [1406]; VersR 2007, 681 = NZV 2007, 294 = SP 2007, 240 = VRS 112 (2007) 445 = r+s 2007, 211 = zfs 2007, 439 = VerkMitt. 2007, 82 (83) = MDR 2007, 884 = NJW-RR 2007, 1077; OLG Frankfurt a.M. 1995, 400 [401]; Senat , Urt. v. 24.11.2006 – 10 U 2555/06 [Juris]; v. 01.12.2006 – 10 U 4707/06 [Juris]; DAR 2007, 465 f.). Dies führt bei Unaufklärbarkeit des Unfallgeschehens hinsichtlich derselben Tatsache bei § 17 II StVG und § 17 III StVG zu wechselnden Beweislastentscheidungen (Senat , Urt. v. 24.11.2006 – 10 U 2555/06 [Juris]; v. 01.12.2006 – 10 U 4707/06 [Juris]; DAR 2007, 465 f.). Falsch wäre es, aus dem Umstand, dass sich eine Partei nicht entlasten kann, das Gegenteil als bewiesen anzusehen (Senat a.a.O.).

a) Eine höhere Ausgangsgeschwindigkeit als 51 km/h (rechnerisch gelangte der Sachverständige zu 50,89 km/h, vgl. Anl. 1 zum Gutachten) kann in die Abwägung nicht eingestellt werden. Die Einwendungen der Anschlussberufung gegen das gerichtliche Sachverständigengutachten überzeugen nicht. Es handelt sich überwiegend um Einwendungen, die, wenn auch teilweise „in anderem Gewande“ bereits in erster Instanz erhoben wurden (Schriftsatz vom 26.01.2010 = Bl. 96/97 d.A.), die Gegenstand des Ergänzungsgutachtens vom 01.03.2010 (Bl. 100 d.A.) und der mündlichen Anhörung (Sitzungsniederschrift vom 22.03.2010 – Bl. 101/104 d.A.) waren und die letztlich von nicht bewiesenen Anknüpfungstatsachen ausgehen.

(1) Soweit die Anschlussberufung meint, der Sachverständige habe nicht berücksichtigt, dass der Pkw von der Kollisionsstelle bis zur dokumentierten Endstellung noch weiterfuhr, ist dies unzutreffend. Der Sachverständige Dr. Sp. bestätigte auf S. 50 seines Ausgangsgutachtens die Erwägungen des Sachverständigen K... – der seinerseits die Auslaufstrecke des Pkw berücksichtigte – zur Wegstrecke von 4 m – 4,5 m von der Anfahrposition bis zum Kollisionsort (Gutachten K.S. 24). Der gerichtliche Sachverständige führte weiter aus, dass die Verfrachtung des Klägers durch den Pkw Seat von gut 3 m bei Annahme einer geringeren Kollisionsgeschwindigkeit als 10 km/h nicht erklärbar sei und für den Anfahrvorgang aus dem Stillstand im Hinblick auf das Fahrtziel (Parken unmittelbar hinter der noch zu überquerenden Fahrbahn) eine moderate Anfahrbeschleunigung zu Grunde zu legen ist und die Zeitdauer bis zur Kollision durchaus 3 Sek. betragen haben kann. Entscheidend ist insoweit, dass keineswegs bewiesen ist, dass die Beklagte zu 1) von der Fahrbahnmitte aus anfuhr. Das Landgericht hatte insoweit berechtigte Zweifel an der Behauptung der Beklagten, die Beklagte zu 1) sei von der Fahrbahnmitte aus angefahren, zumal die deutliche Schrägstellung in Verbindung mit dem sichtbaren Lenkeinschlag nach den Ausführungen des Sachverständigen im Hinblick auf den beabsichtigten Einparkvorgang rechts neben einem geparkten Fahrzeug (Bildanlage 4/6 zum Ausgangsgutachten) eher auf ein Anfahren aus dem rechten Bereich der Fahrbahnhälfte der Beklagten zu 1) hindeutet (Ergänzungsgutachten S. 25/26 d.A.). Es ist daher gerade nicht bewiesen, dass die Beklagte zu 1) vom Anfahren bis zur Kollision nur eine Wegstrecke von 2 m in einer Zeit von 2 Sek. zurückgelegt hätte.

(2) Soweit die Beklagten ihre Angriffe gegen das Gutachten auf Berechnungen zur Rutschverzögerung des menschlichen Körpers auf der Fahrbahn und Erwägungen zur Kollisionsgeschwindigkeit zwischen Kläger und Pkw und den entstandenen Verletzungen beim Kläger und entstandenen Schäden am Pkw stützen, vermögen sie ebenfalls nicht zu überzeugen. Der Sachverständige hat bereits in seinem Ergänzungsgutachten zu den nämlichen Einwendungen ausführlich Stellung genommen und insbesondere ausgeführt, dass die Berechnung der Beklagten nicht berücksichtigt, dass der rutschende Kläger energetisch zusätzlich zu seiner eigenen Geschwindigkeit durch ein fahrendes Fahrzeug belastet, teilweise gegen seine Einlaufrichtung in die Endstellung verfrachtet wurde und die von den Beklagten angesetzten Verzögerungswerte zum einen veraltet und zum anderen weitaus toleranzbehafteter sind, weshalb wegen der Ungenauigkeit einer derartigen biomechanischen Berechnung eine Änderung der von ihm ermittelten Ausgangsgeschwindigkeit des Motorrads nicht veranlasst ist, zumal der Ort des Spurzeichnungsbeginns des umstürzenden Motorrads auf der Fahrbahn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mit dem Ort des Auftreffens des Klägers auf die Fahrbahn identisch ist und die Belastbarkeit des menschlichen Körpers eben individuell verschieden ist, wobei die entstandenen Verletzungen und Schäden durchaus auch bei einer Ausgangsgeschwindigkeit des Motorrades von 51 km/h entstehen können (insbesondere Ergänzungsgutachten S. 18/24).

(3) Schließlich überzeugen auch die Erwägungen der Anschlussberufung nicht, soweit sie sich gegen die Annahme des Sachverständigen richten, bei der etwa 5 m langen Reifenabriebspur handle es sich um eine Blockierspur, wobei der Kläger das Vorderrad spontan bzw. panikartig überbremste. Zwar ist der Ausgangspunkt der Anschlussberufung zutreffend, dass die Bremsspur leicht nach rechts verläuft (Fotoanlage 9 zum Gutachten). Auch ist es richtig, dass ein blockierendes Vorderrad keine Seitenführungskräfte übertragen kann und die stabilisierenden Kreiselkräfte wegfallen, weshalb das Motorrad umstürzt und weiter trifft es zu, dass am Vorderreifen des Motorrades diagonale Spuren sichtbar sind, die im Zusammenhang mit dem Wegrutschen des Motorrades entstanden sind, wobei sich das Rad auch noch geringfügig gedreht hat. Daraus kann die Anschlussberufung aber nichts Entscheidendes zu ihren Gunsten herleiten. Der Sachverständige hat ausführlich dargelegt, dass er bei einer panikartigen Bremsung eine Bremsschwellzeit von 0,2 Sek. zu Grunde gelegt hat (vgl. auch Anlage 1 zum Gutachten). Auch bei einer Blockierbremsung erfolgt der Stillstand des Rades ja nicht „ad hoc“, sondern das Rad dreht sich zunächst unter gleichzeitiger Spurzeichnung noch etwas, bevor es zum Abrutschen kommt und die Einleitung eines Ausweichvorganges nach rechts noch vor Erreichen der Blockiergrenze ist in Betracht zu ziehen. Im Ergänzungsgutachten hat der Sachverständige sich detailliert mit den diesbezüglichen Einwendungen auseinandergesetzt (S. 6 – 13 des Ergänzungsgutachtens, nachdem insoweit bereits im Ausgangsgutachten S. 45 – 49 eine ausführliche Darstellung erfolgte) und insbesondere ausgeführt, dass gerade die kurze Spurzeichnung und das Fehlen eines breiten mittigen Abschleifens des Reifengummis, der Abrieb hauptsächlich auf der linken Reifenflanke und die intermittierende Spur deutliche Anzeichen dafür sind, dass kein optimal eingebremstes System vorlag, sondern ein reflexartiges Überbremsen des Vorderrades möglich und wahrscheinlich ist, weshalb nur die von ihm angesetzten geringeren Verzögerungswerte gegenüber einer maximal technisch möglichen Verzögerung zu Grunde gelegt werden können. Die Erwägungen zur Achslastverteilung berücksichtigen insbesondere nicht, dass nicht bewiesen ist, dass der Vorgang der Verzögerung bis zum Sturz vorliegend 1 Sekunde andauerte und sind ungeachtet dessen insgesamt nicht geeignet, ernsthafte Zweifel an der Richtigkeit der Ausführungen des Sachverständigen zu begründen, dass vorliegend jedenfalls der von ihm angesetzte Verzögerungswert von 6 m/sek.², ausgehend von einem panikartig überbremsten Vorderrad, in Betracht zu ziehen ist. Es ist in der Unfallforschung anerkannt, dass es gerade in lebensbedrohlichen Situationen den meisten Motorradfahrern nicht gelingt, die Vorderradbremse kontrolliert zu betätigen mit der Folge eines Sturzes innerhalb von etwa 0,5 Sek. nach kurzer Bremsstrecke (vgl. Schneider, Unfallrekonstruktion. Fahrdynamik von Motorrädern – Teil 2, VRR 12/2007, S. 463). Ein höherer, technisch möglicher Verzögerungswert und damit eine höhere Ausgangsgeschwindigkeit des Klägers als 51 km/h ist daher nicht mit der für § 286 ZPO erforderlichen Sicherheit bewiesen.

b) Das geringfügige Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit um 1 km/h oder 2 % begründet vorliegend im Hinblick auf den schweren Verkehrsverstoß der Beklagten zu 1), die die Gefährdung anderer auszuschließen hatte, keine Mithaftung (BGH VersR 1967, 802) und war darüber hinaus nicht nachweisbar unfallursächlich, da nach den überzeugenden und in Übereinstimmung mit dem Stand der Unfallanalytik (vgl. etwa Steffan, Unfallmechanik im Verkehrswesen, Graz 2007, S. 106) stehenden Ausführungen des Sachverständigen der Unfall bei Einhaltung von 50 km/h zwar bei optimaler Bremsung mit einem Verzögerungswert von 8 m/sek.² vermeidbar war, die aber von einem Normalfahrer nicht ohne weiteres zu erzielen ist. Eine Vermeidbarkeit besteht nach den Ausführungen des Sachverständigen nur für einen „Bremsprofi“ (Anl. 3 zu Gutachten).

c) Aus der Überbremsung des Vorderrades können die Beklagten ebenfalls nichts zu Ihren Gunsten herleiten. Nach ständiger Rechtsprechung begründet das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers dann kein Verschulden, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgemäße unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (RGZ 92, 38; BGH LM Nr. 2 zu § 286 [A] ZPO; VRS 5 [1952] 87; 34 [1967] 434 [435]; 35 [1968] 177; VersR 1953, 337; 1958, 165; 1971, 909 [910]; 1976, 734 = DAR 1976, 184 [185] = NJW 1976, 1504 = MDR 1976, 749; VersR 1982, 443; 2009, 234 [unter II 2a]; KG VersR 1978, 744; 1995, 38; OLG Karlsruhe VersR 1987, 692; OLG Koblenz, Urt. v. 27.10.2003 – 12 U 714/02; OLG Düsseldorf NZV 2006, 415 [416]; NZV 2007, 614 = NJOZ 2007, 5944 [5950] = DAR 2007, 704; Senat , Urt. v. 18.01.2008 – 10 U 4156/07 [Juris = NJW-Spezial 2008, 201 – red. Leitsatz, Kurzwiedergabe]).Es kommt in solchen Fällen dann nur eine Haftung aus Betriebsgefahr gem. § 7 I StVG in Betracht (BGH VersR 1976, 734 = DAR 1976, 184 [186] = NJW 1976, 1504 = MDR 1976, 749; OLG Koblenz a.a.O.).Ist der Verursachungsanteil einer Partei weit überwiegend, tritt die Betriebsgefahr der anderen Partei völlig zurück. Dies ist insbesondere in Fällen schwerer Verkehrsverstöße, wie vorliegend beim Abbiegen in ein Grundstück (§ 9 V StVO) gegeben. Da die Beklagte zu 1) den Kläger ihren eigenen Angaben nach vor der Kollision überhaupt nicht wahrnahm, obwohl er erkennbar war, ist der Senat anders als das Landgericht vorliegend der Auffassung, dass auch eine Mithaftung des Klägers aus Betriebsgefahr zurücktritt.

4. Die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten errechnen sich, ausgehend von einer 1,3 Verfahrensgebühr aus einem Streitwert von 495.000,00 € mit 4.658,61 €.


II.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 I, 97 I, 100 II, IV ZPO


III.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.


IV.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, daß die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.