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OLG Rostock Urteil vom 10.12.2010 - 5 U 27/10 - Zur Schadensteilung bei Unfall zwischen landwirtschaftlichem Gespann und Kradfahrer

OLG Rostock v. 10.12.2010: Zur Schadensteilung bei Unfall zwischen landwirtschaftlichem Gespann und Kradfahrer


Das OLG Rostock (Urteil vom 10.12.2010 - 5 U 27/10) hat entschieden:
Der Führer eines landwirtschaftlichen Gespanns, der von einem Grundstück auf eine öffentliche Straße einbiegt, in die er ca. 90 m weit einsehen kann, muss sich - um den Beweis der Unabwendbarkeit gem. § 17 Abs. 3 StVG zu führen - eines sog. Einweisers bedienen. Einem "Idealfahrer" muss in einer solchen Verkehrssituation bewußt sein, dass sich auf der vorfahrtsberechtigten Kreisstraße Fahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit nähern können, denen er mit Sicherheit die Vorfahrt nehmen würde. Der bevorrechtigte Motorradfahrer haftet jedoch zur Hälfte mit, wenn er in einer landwirtschaftliche geprägten Gegend nicht mit angepasster Geschwindigkeit auf Sicht fährt.


Siehe auch Unfälle mit Kradbeteiligung - Motorradunfälle und Grundstücksausfahrt


Gründe:

I.

Die Klägerin fordert von den Beklagten als Gesamtschuldner Schadensersatz aus übergegangenem Recht ihres Versicherten ... aufgrund eines Verkehrsunfalles vom 30.07.2003. Die Beklagten haben erstinstanzlich die Höhe der Klageforderung mit Nichtwissen bestritten. Zu den Einzelheiten des erstinstanzlichen Sach- und Streitstandes nimmt der Senat Bezug auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils, mit dem die Einzelrichterin die Klage abgewiesen hat mit der Begründung, den Beklagten zu 1) treffe keine Verschulden an dem Unfall, insbesondere habe er nicht gegen § 10 StVO verstoßen und sich keines Einweisers bedienen müssen.

Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie ihre erstinstanzlich geltend gemachten Ansprüche weiter verfolgt. Zur Begründung trägt sie vor: Alle drei Sachverständige seien zu der Auffassung gelangt, dass in Anbetracht der örtlichen Gegebenheiten und der eingeschränkten Sichtverhältnisse der Unfall durch Postierung eines Einweisers hätte vermieden werden können. Außerdem seien die Sichtverhältnisse für den Beklagten zu 1) an der Unfallstelle durch am Straßenrand befindliche Bäume eingeschränkt gewesen. Es sei nicht nachvollziehbar, wenn das Landgericht ausführe, der Beklagte zu 1) habe nicht gegen § 10 StVO verstoßen, da er sich keines Einweisers hätte bedienen müssen. Bei Berücksichtigung der unzweifelhaft bestehenden erheblich eingeschränkten Sichtverhältnisse hätte das Landgericht zu einer anderen Auffassung gelangen müssen. Der Beweis des ersten Anscheins spreche für ein Verschulden des Ein- bzw. Ausfahrenden, hier des Beklagten zu 1). Von dem Einfahrenden werde ein Höchstmaß an Sorgfalt gefordert. Der Beklagte zu 1) hätte damit rechnen müssen, dass sich ein Verkehrsteilnehmer mit einer für die örtlichen Gegebenheiten unangepassten hohen Geschwindigkeit näherte.

Der Versicherte der Klägerin habe nicht damit rechnen müssen, dass in einer landwirtschaftlich genutzten Region, gerade in den Sommermonaten, auf die Hauptstraße einbiegende landwirtschaftliche Fahrzeuge entgegen kämen. Dem Versicherten sei keine unangemessene hohe, schon gar nicht eine überhöhte Geschwindigkeit zur Last zu legen.

Nach den Ausführungen des Sachverständigen ... stehe fest, dass das Gespann noch nicht vollumfänglich auf die K ... aufgefahren gewesen sei. Wo sich der Traktor zum Zeitpunkt der Erkennbarkeit des Krades befunden habe und ob es dem Versicherten bei erster Wahrnehmbarkeit deshalb nicht noch möglich gewesen wäre, links an dem Traktor vorbeizufahren, erschließe sich aus den gutachterlichen Ausführungen nicht. Insoweit regt die Klägerin an, den Sachverständigen ergänzend zu befragen.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Landgerichts Neubrandenburg, 4 O 33/07, vom 03.12.2009 aufzuheben und wie folgt zu erkennen:

  1. Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an die Klägerin 23.922,02 € nebst 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz der EZB seit dem 18.05.2004 zu zahlen,

  2. es wird festgestellt, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, der Klägerin sämtliche Aufwendungen zu erstatten, die ihr für den bei ihr versicherten ..., geboren am 20.10.1995, anlässlich des Unfallereignisses vom 30.07.2003 auf der K ..., Abschnitt ..., Kilometer ..., in der Nähe der Brücke A ..., zwischen ... und ... zukünftig entstehen.

Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
In der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat der Prozessbevollmächtigte der Beklagten darauf hingewiesen, dass die Schadenshöhe nicht substanziiert vorgetragen und überdies bestritten sei. Der Senat hat die Klägerin gem. § 139 ZPO darauf hingewiesen, dass bisher zur Höhe des Schadens nicht hinreichend substanziiert vorgetragen worden sei und dieses von der Beklagten bestritten sei. Einen Schriftsatznachlass hat der Prozessbevollmächtigte der Klägerin daraufhin nicht beantragt.

Der Senat hat die Strafakten der Staatsanwaltschaft Neubrandenburg (...) beigezogen und zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht.


II.

Die zulässige Berufung der Klägerin hat nur bezüglich des Feststellungsantrages teilweise Erfolg, im Übrigen musste der Senat das Rechtsmittel zurückweisen.

1. Der Feststellungsantrag ist zulässig und zum Teil begründet.

a) Der Feststellungsantrag ist gem. § 256 Abs. 1 ZPO zulässig. Das Feststellungsinteresse besteht stets zum Zwecke der der Hemmung der Verjährung, denn die unbezifferte Feststellungsklage hemmt die Verjährung wegen des ganzen Anspruches. Es reicht bei Verletzung eines absoluten Rechtsgutes aus, wenn künftige Schadensfolgen (wenn auch nur entfernt) möglich ihre Art und ihr Umfang sogar ihr Eintritt aber noch ungewiss sind. Auf die Wahrscheinlichkeit weiterer Schäden kommt es hier nicht an (Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl., Rdn. 9 zu § 256). So liegt es hier, denn es steht zu befürchten, dass die Klägerin für ihren Versicherten weitere Aufwendungen zu erbringen hat.

b) Der Antrag hat zum Teil Erfolg. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Landgericht einen aus § 10 StVO folgenden Verschuldensvorwurf verneint. Der Klägerin steht gegenüber den Beklagten dem Grunde nach aus Gefährdungshaftung ein Schadensersatzanspruch gem. den §§ 7 Abs. 1, 18 StVG, 115 VVG in Höhe einer Quote von 50 % zu. Der Unfall ereignete sich unstreitig bei dem Betriebe des Kraftfahrzeuges der Beklagten zu 2). Die Ersatzpflicht ist nicht gem. § 7 Abs. 2 StVG ausgeschlossen, denn der Unfall ist nicht durch höhere Gewalt verursacht worden.

Demgemäß kommt hier eine Ausgleichspflicht beider Parteien gem. §§ 17, 18 StVG in Betracht. Diese Ausgleichspflicht würde nur ausscheiden, wenn der Unfall durch ein unabwendbares Ereignis verursacht worden ist, das weder auf einem Fehler in der Beschaffenheit des Fahrzeuges noch auf ein Versagen seiner Vorrichtungen beruht. Als unabwendbar gilt ein Ereignis nur dann, wenn sowohl der Halter als auch der Führer des Fahrzeuges jede nach den Umständen des Falles gebotene Sorgfalt beobachtet haben (§ 17 Abs. 3 StVG).

Die Beklagten konnten nicht beweisen, dass für sie ein unabwendbares Ereignis vorliegt, d. h., dass der Beklagte zu 1) das Verhalten eines sog. Idealfahrers an den Tag gelegt hat (vgl. dazu Hentschel/König/Dauer, StVG, 40. Aufl., Rdn. 22 zu § 17). Dazu gehört sachgemäßes geistesgegenwärtiges Handeln über den gewöhnlichen und persönlichen Maßstab hinaus, jedoch nicht das Verhalten eines gedachten Superfahrers, sondern gemessen an durchschnittlichen Verkehrsanforderungen das Verhalten eines Idealfahrers. Zur äußersten Sorgfalt gehört die Berücksichtigung aller möglichen Gefahrenmomente. Diese Anforderungen erfüllte der Beklagte zu 1) bei seinem Auffahren auf die vorfahrtsberechtigte Kreisstraße nicht. Zunächst ist in Betracht zu ziehen, dass er gem. § 10 StVO den Vorrang des fließenden Fahrbahnverkehrs zu beachten hatte. Die Gefährdung des fließenden Verkehrs durch den Ein- oder Anfahrenden muss ausgeschlossen sein (Hentschel/König/Dauer, Rdn. 10 zu § 10 StVO). Alle drei Sachverständige haben festgestellt, dass der Unfall sich nicht ereignet hätte, wenn der Beklagte zu 1) sich eines Einweisers bedient hätte. Dessen muss sich der aus einem Grundstück Einfahrende bedienen, wenn im Hinblick auf die örtlichen Verhältnisse selbst vorsichtiges Hineintasten in die Fahrbahn ohne Gefährdung des fließenden Verkehrs nicht möglich wäre. Dies ist nicht stets dann der Fall, wenn er die Fahrbahn nicht genügend überblicken kann, sondern nur in Ausnahmefällen z. B. bei mangelnden Sichtmöglichkeiten. Einweisen lassen muss sich in der Regel, wer mit einem schwerfälligen oder langen Fahrzeug längere Zeit zum Einfahren braucht oder wer bei Nebel oder Dunkelheit mit einem langen Fahrzeug oder Zug einfährt (vgl. dazu im Einzelnen: Hentschel/König/Dauer, Rdn. 13 zu § 10). Der BGH hat mit Urteil vom 25.01.1994 entschieden, dass der Fahrer eines schwerfälligen landwirtschaftlichen Gefährts, der außerorts nach links in eine bevorrechtigte Straße einfahren will, die bis zu einer 80 m entfernten Kurve einsehbar ist, bei normalen Lichtverhältnissen am Tag keinen Einweiser zur Hilfe nehmen muss (BGH VersR 1994, 492). Die Rechtsprechung bejaht die Pflicht, sich eines Einweisers zu bedienen danach bei außergewöhnlichen Gefahrensituationen, wenn der Einbiegevorgang wegen der Länge und Schwerfälligkeit des Fahrzeuges längere Zeit in Anspruch nimmt und die Wahrnehmbarkeit wegen erheblich eingeschränkter Sichtverhältnisse z.B. bei Dunkelheit, Nebel oder an besonders unübersichtliche Stelle besonders erschwert ist (BGH a.a.O., S. 493). Eine Unübersichtlichkeit bestand hier nicht deswegen, weil am Straßenrand Bäume standen, die die Sicht des Beklagten zu 1) einschränkten. Dies hat der Senat durch Einsicht in die Ermittlungsakte festgestellt, in der sich die von der Polizei am Unfalltag gefertigten Lichtbilder befinden. Dem Beklagten zu 1) war die Sicht nicht durch Büsche am linken Straßenrand versperrt, vielmehr konnte er die Strasse ungehindert über eine Strecke von ca. 89 m überblicken. Letztlich stellen alle Gutachter fest, dass der Verkehrsunfall für den Beklagten zu 1) unvermeidbar war, da er mit seinem landwirtschaftlichen Gespann das Einbiegemanöver schon vor dem Erkennbarwerden des herannahenden Motorrades begonnen hatte und deswegen keine Möglichkeit mehr zur Vermeidung des Unfalles hatte. Selbst wenn er sein Einbiegemanöver zügig durchführte, versperrte er mit seinem landwirtschaftlichen Gespann die Fahrbahn in dem Zeitraum vom Sichtbarwerden des Motorrades bis zur Kollision praktisch vollständig. Insoweit hätte auch ein Abbruch des Einbiegemanövers nicht zur Vermeidung des Unfalles geführt. Die Gutachter überlassen es jedoch der rechtlichen Wertung des Gerichtes, ob der Beklagte zu 1) in Anbetracht der örtlichen Gegebenheiten unter eingeschränkten Sichtverhältnissen sich eines Einweisers hätte bedienen müssen, der sich beispielsweise ein ganzes Stück weiter in Richtung ... hätte aufstellen müssen, um die K ... auch um die dortige Kurve herum und weiter einsehen und ggf. den Beklagten zu 1) sowie herannahenden Verkehr warnen zu können.

Der in § 17 Abs. 3 StVG vorausgesetzte Idealfahrer hätte sich jedoch eines Einweisers bedient. Dem Idealfahrer musste bewusst sein, dass sich auf der vorfahrtsberechtigten Kreisstraße Fahrzeuge mit hoher Geschwindigkeit bis 100 km/h nähern konnten und er einem solchen Fahrzeug mit Sicherheit die Vorfahrt hätte nehmen würde. Nach den Feststellungen des Dekra-Gutachtens vom 10.12.2003 hätte der Beklagte zu 1), um den Auffahrvorgang abschließen zu können, den im gegenständlichen Verkehrsunfall mit mindestens 88 km/h herannahenden Kradfahrer in einer Entfernung von mindestens 282 m erkennen müssen. So weit konnte der Beklagte zu 1) die Fahrbahn nicht überblicken, sondern nur ca. 89 m. Dem Idealfahrer wäre außerdem bewusst gewesen, dass er die Vorfahrt des Verkehrs auf der Kreisstraße jedenfalls zu beachten und gem. § 10 StVO eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer auszuschließen hatte.

Auch die Klägerin kann nicht nachweisen, dass ihr Versicherter sich wie ein Idealfahrer verhalten hat und der Unfall für ihn unabwendbar war. Dies stellt der Sachverständige ... fest indem er ausführt, Herr ... hätte den Unfall bei Einhaltung des Gebotes des Fahrens auf Sicht vermeiden können (Bl. 11, 12 des Gutachtens). Letztlich obliege es auch hier der rechtlichen Wertung, ob Herr ... mit einem aus einer Feldzufahrt einbiegenden landwirtschaftlichen Gespann hätte rechnen müssen und zu welchem Fahrverhalten er angesichts der örtlichen Gegebenheiten verpflichtet war. Der Senat kann nur eine Geschwindigkeit von 85 km/h des Versicherten zugrundelegen. Der mutmaßliche Idealfahrer wäre vielleicht langsamer gefahren und hätte so den Unfall vermieden.

Im Ergebnis ist daher eine Quotierung des Schadens gem. § 17 Abs. 1 StVG vorzunehmen. Dabei sind hier nur die Betriebsgefahren der beteiligten Fahrzeuge zu berücksichtigen. Ein Verschulden kann keinem der Beteiligten zur Last gelegt werden. Motorräder weisen, weil sie unstabil sind, eine beträchtliche Betriebsgefahr auf (Hentschel/König/Dauer, Rdn. 7 zu § 17 StVG). Der in den Verkehr Einfahrende muss sich so verhalten, dass eine Gefährdung anderer ausgeschlossen ist. Dem Beklagten zu 1) kann zwar kein Verstoß gegen § 10 StVO nachgewiesen werden. Trotzdem muss in die Bewertung einbezogen werden, dass er in den Verkehr eingefahren ist und der Versicherte der Klägerin grundsätzlich Vorfahrt hatte. Deswegen legt der Senat hier eine Quote von 50 : 50 zugrunde.

2. Im Übrigen hat das Rechtsmittel keinen Erfolg. Der Zahlungsantrag ist unbegründet, da die Klägerin zur Höhe des Anspruches nicht substanziiert vorgetragen hat. Sie legte zur Begründung lediglich ein Schreiben vom 07.05.2004 vor, aus dem zwar die einzelnen Aufwendungen, die für den Versicherten erbracht sein sollen, hervorgehen. Die Beklagten haben jedoch zulässigerweise die Höhe der Aufwendungen mit Nichtwissen bestritten. Es wäre daher Sache der Klägerin gewesen, substanziiert im einzelnen unter Beweisantritt dazu vorzutragen und die Einzelforderungen näher darzulegen (Zöller/Greger, ZPO, 28. Aufl., Rn. 8a zu § 138). Der Senat hat den gem. § 139 ZPO erforderlichen Hinweis erteilt, da die Schadenshöhe bei der Entscheidung des Landgerichts keine Rolle spielte. Einen Antrag auf Einräumung eines Schriftsatznachlasses hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat nicht gestellt. Die nicht nachgelassenen Schriftsätze der Klägerin vom 23.11.2010 gaben keinen Anlass zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung.


III.

Die Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711 S. 1 S. ZPO. Zur Zulassung der Revision bestand kein Anlass.