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BGH Urteil vom 12.12.2000 - VI ZR 411/99 - Zur Anschnallpflicht bei kurzzeitigem Anhalten
BGH v. 12.12.2000: Zur Anschnallpflicht bei kurzzeitigem verkehrsbedingtem Anhalten und zur Mithaftung bei deren Verletzung
Der BGH (Urteil vom 12.12.2000 - VI ZR 411/99) hat entschieden:
- Einem Kfz-Insassen, der den Sicherheitsgurt nicht anlegt, fällt grundsätzlich ein Mitverschulden (BGB § 254 Abs 1) an seinen infolge der Nichtanlegung des Gurtes erlittenen Unfallverletzungen zur Last (Fortsetzung der st. Rspr. , vgl. BGH, 29. September 1992, VI ZR 286/91, BGHZ 119, 268, 270 mwN).
- Die Gurtanlegepflicht "während der Fahrt" nach StVO § 21a Abs 1 S 1 besteht auch bei kurzzeitigem verkehrsbedingten Anhalten.
Siehe auch Sicherheitsgurt und Anschnallpflicht und Pflichten des Fahrzeugführers und Zustand des Fahrzeugs
Tatbestand:
Der Kläger verlangt von den Beklagten Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 24. Mai 1993, bei dem er als Fahrer eines gepanzerten Kleintransporters seiner Arbeitgeberin, einer Wach- und Schließgesellschaft, verletzt wurde, weil der Beklagte zu 2) mit einem bei der Beklagten zu 1) haftpflichtversicherten Sattelzug auf den verkehrsbedingt haltenden Kleintransporter auffuhr, diesen gegen ein weiteres Fahrzeug und sodann nach rechts gegen einen Baum schob.
Das Landgericht hat die Beklagten unter Berücksichtigung vorgerichtlich gezahlter 2.000 DM antragsgemäß zur Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes in Höhe von 28.000 DM wegen der vom Kläger durch den Unfall erlittenen Schädigung seines Geschmacks- und Geruchssinns verurteilt und ihre Einstandspflicht für die sich zukünftig aus dem Unfallereignis ergebenden materiellen und immateriellen Schäden festgestellt. In der Berufungsinstanz haben die Beklagten erstmals ein Mitverschulden des Klägers an seinen unfallbedingten Verletzungen geltend gemacht, und behauptet, dieser habe bei dem Verkehrsunfall keinen Sicherheitsgurt getragen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung ohne hierüber Feststellungen zu treffen zurückgewiesen und die Revision der Beklagten wegen der von ihm bejahten Frage zugelassen, ob während des verkehrsbedingten Anhaltens die Gurtanlegepflicht entfallen sei.
Mit ihrer Revision verfolgen die Beklagten ihren Klageabweisungsantrag weiter.
Entscheidungsgründe:
I.
Nach Auffassung des Berufungsgerichts fiele dem Kläger auch bei unterstellter Richtigkeit der Behauptung der Beklagten, dieser sei im Unfallzeitpunkt nicht angegurtet gewesen, kein Mitverschulden im Sinne des § 254 Abs. 1 BGB zur Last, weil er in diesem Zeitpunkt zur Anlegung des Sicherheitsgurtes nicht verpflichtet gewesen sei. Zum einen sei die Gurtanlegepflicht entfallen, weil die tatbestandliche Voraussetzung des § 21 a Abs. 1 Satz 1 StVO "während der Fahrt" begrifflich beim Stillstand des Fahrzeuges nicht erfüllt sei. Zum anderen sei der Führer eines Werttransporters auch in entsprechender Anwendung des Rechtsgedankens aus § 21 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVO ebenso wie ein Taxi- oder Mietwagenfahrer bei der Fahrgastbeförderung von der Pflicht zur Anlegung des Sicherheitsgurtes befreit, weil er sich auch bei kurzzeitigen Fahrtunterbrechungen in einer vergleichbaren potentiell gefährlichen Situation befinde.
II.
Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand.
1. Das Berufungsgericht geht zwar mit der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats zutreffend davon aus, dass einem Kfz-Insassen, der den Sicherheitsgurt nicht anlegt, grundsätzlich ein Mitverschulden (§ 254 Abs. 1 BGB) an seinen infolge der Nichtanlegung des Gurtes erlittenen Unfallverletzungen zur Last fällt (BGHZ 74, 25 ff., 30; 83, 71, 73; 119, 268, 270; Senatsurteile vom 10. April 1979 - VI ZR 146/78 - VersR 1979, 532; vom 10. März 1981 - VI ZR 236/79 - VersR 1981, 548, 549 und vom 9. November 1982 - VI ZR 151/81 - VersR 1983, 153). Rechtsfehlerfrei nimmt es auch an, dass der Schädiger dem Unfallopfer ein Nichtanschnallen nicht als Mitverschulden vorhalten kann, wenn im konkreten Fall eine Gurtanlegepflicht nach § 21 a Abs. 1 Satz 1 StVO nicht bestand oder eine Ausnahme im Sinne des § 21 a Abs. 1 Satz 2 StVO vorlag (vgl. BGHZ 119, 268, 272). Die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht im vorliegenden Fall eine Gurtanlegepflicht des Klägers im Unfallzeitpunkt verneint hat, halten jedoch revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
2. Der Beurteilung des Berufungsgerichts, der Kläger sei nicht zum Anlegen des Sicherheitsgurtes nach § 21 a Abs. 1 Satz 1 StVO verpflichtet gewesen, weil das von ihm geführte Fahrzeug im Unfallzeitpunkt gestanden habe, kann aus Rechtsgründen nicht gefolgt werden.
Allerdings wird die Formulierung "während der Fahrt" in dieser Vorschrift in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich verstanden. Die vom Berufungsgericht favorisierte Meinung versteht hierunter unter Hinweis auf die vermeintliche Eindeutigkeit des Wortes "Fahrt" nur den Zustand der Bewegung des Fahrzeuges, der beim - auch nur kurzzeitigen - Anhalten nicht gegeben sei (vgl. OLG Celle ZfS 1981, 326; DAR 1986, 28; OLG Düsseldorf VRS 72, 211; Hentschel NJW 1986, 1307, 1311; Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl., StVO § 21 a Rdn. 3). Nach der Gegenansicht ist der Begriff der "Fahrt" weiter zu verstehen und umfasst auch kurzzeitige verkehrsbedingte Fahrtunterbrechungen (vgl. KG VRS 70, 299; OLG Düsseldorf VRS 72, 75; LG Hannover NJW-RR 1989, 1510; Janiszewski NStZ 1987, 270, 274).
Der Senat schließt sich der letztgenannten Auffassung an. Der Begriff der "Fahrt" ist nach allgemeinem Sprachgebrauch nicht eindeutig. Hierunter ist, wie u.a. die Verwendung dieses Begriffes in der für die Führung von Fahrtenbüchern maßgeblichen Vorschrift des § 31 a StVZO zeigt, nicht nur der bloße Zustand des Fahrens zu verstehen, den die StVO in der Regel mit dem entsprechenden Tätigkeitswort "fahren" oder seinen Abwandlungen umschreibt (vgl. §§ 2 ff.), sondern auch der Gesamtvorgang der Benutzung des Kraftfahrzeuges als Beförderungsmittel im Straßenverkehr, um von einem Ort zum anderen zu gelangen (vgl. KG VRS 70, 299, 300). Dieser einheitliche Vorgang wird nicht dadurch beendet, dass das Fahrzeug vor dem Rotlicht einer Ampelanlage, einem Stopschild oder durch sonstige verkehrsbedingte Umstände vorübergehend angehalten wird.
Einer solchen Auslegung des Begriffes "Fahrt" im Sinne des § 21 a Abs. 1 Satz 1 StVO gebührt bereits deshalb der Vorzug, weil es mit dem Sinn und Zweck der Vorschrift, durch die Einführung einer Anschnallpflicht die Zahl der Verkehrstoten und (Schwer-)Verletzten zu senken, schlechterdings unvereinbar wäre, gefahrenträchtige Situationen verkehrsbedingten Anhaltens hiervon auszunehmen.
Etwas anderes lässt sich auch nicht aus § 21 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 StVO herleiten, wonach auch Fahrten mit Schrittgeschwindigkeit von der Anschnallpflicht ausgenommen sind (a.A. wohl Hentschel NJW 1986, 1307, 1312). Dass in dieser Ausnahmevorschrift ebenfalls von "Fahrten" und nicht vom "Fahren" und von Beispielsfällen wie Rückwärtsfahren und Fahren auf Parkplätzen die Rede ist, spricht dafür, unter "Fahrten mit Schrittgeschwindigkeit" nur solche Verkehrsvorgänge zu verstehen, die von vornherein nur auf das Fahren mit Schrittgeschwindigkeit angelegt und außerdem weniger gefahrenträchtig sind, weil sie sich abseits des fließenden Verkehrs oder im Übergangsbereich zwischen fließendem und ruhenden Verkehr abspielen (so zutreffend KG VRS 70, 299, 300). Deshalb kommt es letztlich auch nicht darauf an, ob der Kläger - wie die Revision im Rahmen einer Verfahrensrüge geltend macht - im Unfallzeitpunkt bereits hinter dem vor ihm haltenden Fahrzeug völlig zum Stillstand gekommen war oder noch mit Schrittgeschwindigkeit auf dieses zufuhr.
3. Soweit das Berufungsgericht eine Gurtanlegepflicht für den Fahrer eines Werttransporters "in entsprechender Anwendung des Rechtsgedankens" aus § 21 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 StVO verneint, kann dem aus Rechtsgründen ebenfalls nicht beigetreten werden.
Gegen eine Analogie spricht bereits, dass die in §§ 21 a Abs. 1 Satz 2 und 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5 StVO geregelten Fälle Ausnahmen darstellen, an die strenge Anforderungen zu stellen sind (vgl. Senat BGHZ 83, 71, 73 ff.; 119, 268, 272). Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass in der Nichtberücksichtigung anderer Berufsgruppen als Taxi- oder Mietwagenfahrern eine planwidrige Gesetzeslücke vorliegt, die einer Ausfüllung durch die Rechtsprechung zugänglich wäre.
Im übrigen fehlt es an einer Vergleichbarkeit der Fälle. Nach der amtlichen Begründung (VBl. 75, 675 ff., insoweit auszugsweise abgedruckt bei Jagusch/Hentschel, aaO, Rdn. 1) hielt der Gesetzgeber die Befreiung der Taxi- und Mietwagenfahrer von der Gurtanlegepflicht bei der Fahrgastbeförderung für geboten, weil feststand, dass schon wiederholt Angehörige dieser Berufsgruppe einem Anschlag auf ihr Leben nur deshalb entgehen konnten, weil sie sich aus der geöffneten Tür ihres Fahrzeuges fallen ließen. Die Revision macht mit Recht geltend, dass der Fahrer eines Werttransporters im Gegensatz zu Taxi- oder Mietwagenfahrern keinen entsprechenden Gefahren aus dem Innern des Fahrzeuges ausgesetzt ist. Ob der Fahrer eines Werttransporters Gefahren für Leib oder Leben, die ihm bei einem verkehrsbedingten Anhalten von außerhalb seines gepanzerten Fahrzeuges drohen, ebenfalls besser ohne angelegten Sicherheitsgurt begegnen könnte, bedarf keiner Entscheidung, zumal entsprechende Gefahren wegen der im Taxi oder Mietwagen befindlichen Geldbeträge den Gesetzgeber ebenfalls nicht bewogen haben, deren Fahrer bei Leerfahrten von der Gurtanlegepflicht zu befreien.
4. Das Berufungsgericht wird mithin Feststellungen zu der Behauptung der Beklagten nachzuholen haben, der Kläger habe im Unfallzeitpunkt den Sicherheitsgurt nicht angelegt gehabt und deshalb seine unfallbedingten Verletzungen mitverschuldet.