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OLG München Urteil vom 07.06.2013 - 10 U 1931/12 - Zur Haftungskürzung wegen Mitverschuldens bei Nichtanlegen des Sicherheitsgurts

OLG München (Urteil vom 07.06.2013: Zur Haftungskürzung wegen Mitverschuldens bei Nichtanlegen des Sicherheitsgurts


Das OLG München (Urteil vom 07.06.2013 - 10 U 1931/12) hat entschieden:
Den Insassen eines Pkw´s, der während der Fahrt den Sicherheitsgurt nicht angelegt hat, trifft im Falle einer Verletzung infolge eines Verkehrsunfalls nur dann eine anspruchsmindernde Mithaftung, wenn im Einzelfall festgestellt ist, dass nach der Art des Unfalls die erlittenen Verletzungen tatsächlich verhindert worden oder zumindest weniger schwerwiegend gewesen wären, wenn der Verletzte zum Zeitpunkt des Unfalls angeschnallt gewesen wäre (Anschluss BGH, 28. Februar 2012, VI ZR 10/11, NZV 2012, 478).


Siehe auch Sicherheitsgurt und Anschnallpflicht und Pflichten des Fahrzeugführers und Zustand des Fahrzeugs


Gründe:

A.

Der Kläger macht gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 21.03.2009 gegen 20.00 Uhr auf der B 388 bei Kilometer 34.200 in H. geltend. Bei diesem Unfall, der auf eine Vorfahrtsverletzung des Beklagten zu 1) zurückzuführen ist, wurde der nicht angeschnallte Kläger schwer verletzt. Hinsichtlich des Parteivortrags und der tatsächlichen Feststellungen erster Instanz wird auf das angefochtene Urteil vom 19.04.2012 (Bl. 229/232 d. A.) Bezug genommen (§ 540 I 1 Nr. 1 ZPO).

Das LG hat nach Beweisaufnahme der Klage teilweise stattgegeben.

Hinsichtlich der Erwägungen des Landgerichts wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.

Gegen dieses den Beklagten am 23.04.2012 zugestellte Urteil haben die Beklagten mit einem beim Oberlandesgericht München am 10.05.2012 eingegangenen Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten Berufung eingelegt (Bl. 252/253 d. A.) und diese mit einem beim Oberlandesgericht München am 22.06.2012 eingegangenen Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten (Bl. 261/269 d. A.) begründet.

In der Berufungsbegründung weisen die Beklagten darauf hin, dass sie bereits mit der Klageerwiderung vom 29.10.2010 vorgetragen haben, dass die Beklagte zu 2) einen Gesamtbetrag in Höhe von 18.000,-​- € auf nicht konkret abgerechnete Schadenspositionen geleistet hat. Nach Ansicht der Beklagten stehe damit fest, dass die Beklagten von ihrem Verrechnungsvorbehalt Gebrauch gemacht haben und die geleistete Zahlung in Höhe von 18.000,-​- € auf den Schmerzensgeldanspruch angerechnet wissen wollen. Die Beklagten betonen darüber hinaus, dass die wesentlichen Beeinträchtigungen des Klägers in seiner täglichen Lebensführung auf die erlittene Knieverletzung zurückzuführen seien. Diese wäre aber ausweislich der in erster Instanz eingeholten Sachverständigengutachten nicht zu beklagen, wenn der Kläger angeschnallt gewesen wäre. Daher sei im konkreten Fall ein Mitverschuldenseinwand in Höhe von 50 % gerechtfertigt.

Die Beklagten beantragen zuletzt,
das Urteil des LG Landshut vom 19.04.2012, Az.: 41 O 2551/10, abzuändern und die Klage hinsichtlich des Klageantrags zu 1) abzuweisen, hinsichtlich des Klageantrags zu 2) abzuändern, soweit die Beklagten gesamtschuldnerisch verurteilt worden sind, dem Kläger mehr als 50 % des Zukunftsschadens zu ersetzen, der ihm im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Unfall vom 21.03.2009 entstanden sei, sofern die Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen seien.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Mit Schriftsatz seiner Prozessbevollmächtigten vom 21.09.2012, beim Oberlandesgericht München eingegangen am gleichen Tag (Bl. 273/278 d. A.) beantragt der Kläger im Wege der Anschlussberufung,
das Endurteil des Landgerichts Landshut vom 19.04.2012 in Ziffer III des Urteilstenors dahingehend abzuändern, dass von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz der Kläger 50 % sowie die Beklagten als Gesamtschuldner 50 % tragen.
Die Beklagten beantragen,
die Anschlussberufung des Klägers zurückzuweisen.
Ergänzend wird auf die vorgenannte Berufungsbegründungsschrift, die Berufungserwiderung und Anschlussberufung des Klägers vom 21.09.2012, den weiteren im Berufungsverfahren eingereichten Schriftsatz der Beklagten vom 08.04.2013 (Bl. 294/297 d. A.) sowie die Sitzungsniederschrift vom 03.05.2013 (Bl. 298/300 d. A.) Bezug genommen.


B.

Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung der Beklagten hat in der Sache teilweisen Erfolg, dagegen war die Anschlussberufung zurückzuweisen.

I.

Dem Kläger steht aus dem vorgenannten Unfallereignis ein Schmerzensgeldanspruch in Höhe von insgesamt 30.000,-​- € zu, worauf die Beklagten unstreitig vorgerichtlich bereits 9.000,-​- € geleistet haben und weitere unstreitig gezahlte 9.000,-​- € in der Berufungsbegründung vom 22.06.2012 (Bl. 261/269 d. A.) verrechnet haben. Darüber hinaus ist der von den Beklagten erhobene Mithaftungseinwand wegen der Verletzung der Anschnallpflicht durch den Kläger in Höhe von 1/3 begründet.

1. Hinsichtlich des Mitverschuldenseinwands wegen der Nichtanlegung des Sicherheitsgurts gilt folgendes: Den Insassen eines Pkw´s, der während der Fahrt den Sicherheitsgurt nicht angelegt hat, trifft im Falle einer Verletzung infolge eines Verkehrsunfalls nur dann eine anspruchsmindernde Mithaftung, wenn im Einzelfall festgestellt ist, dass nach der Art des Unfalls die erlittenen Verletzungen tatsächlich verhindert worden oder zumindest weniger schwerwiegend gewesen wären, wenn der Verletzte zum Zeitpunkt des Unfalls angeschnallt gewesen wäre (BGH NZV 2012, 478, 479; VersR 1980, 824 f.; BGHZ 74, 25, 33). Dabei sind, wie bereits in der Hinweisverfügung vom 18.01.2013 (Bl. 286/288 d. A.) ausgeführt, von der Rechtsprechung unterschiedlichste Quoten ausgeworfen worden. Im vorliegenden Fall haben die Sachverständigen Dr. M. und Dr. A. in ihren Gutachten vom 21.09.2011 (Seite 28 f.) ausführlich dargelegt, dass der Kläger in angeschnalltem Zustand durch den Gurt kontrolliert zurückgehalten worden wäre. Der tatsächlich extreme Einschlag des Kniegelenks in das Armaturenbrett mit sprunghaft ansteigender axialer Kompression des Oberschenkels und dadurch bruchlastüberschreitender Verbiegung des Femurknochens, der Aufprall des Brustkorbes auf das Lenkrad und der Kopfkontakt mit der Windschutzscheibe wären in angeschnalltem Zustand nicht vorgekommen. Der Kläger hätte sicher keine Oberschenkelfraktur erlitten. Durch den Gurt wäre der Brustkorb ebenfalls massiv belastet worden und es wäre mit Sicherheit zu einer Thoraxprellung gekommen. Möglich ist auch eine Fraktur des Brustbeins, ein Aufprall des Kopfes auf das Lenkrad, eine Gesichtsprellung verbunden mit einer Nasenbeinfraktur, auch eine Pedalverletzung. Bestimmte Wahrscheinlichkeiten konnten die Sachverständigen nicht angeben. Dass der Kläger, wie von den Berufungsführern behauptet, „quasi unverletzt“ geblieben wäre, ist unter Zugrundelegung des Sachverständigengutachtens nicht der Fall. Da dem Kläger, wie er selbst vorträgt, vor allem aber die Knieverletzung zu schaffen macht, diese jedoch bei Anlegen des Sicherheitsgurtes vermieden worden wäre, erscheint eine Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten der Beklagten sachgerecht.

2. Wegen der Schwere der erlittenen Verletzungen und Folgeschäden erscheint ein Schmerzensgeldanspruch wie vom Erstgericht angenommen, auch bei einer Haftungsquote von 1/3 zu 2/3 nicht unangemessen.

Im Hinblick auf das Schmerzensgeld gilt: Bei der Bemessung der „billigen Entschädigung“ nach § 253 Abs. 2 BGB ist das Mitverschulden des Verletzten nicht etwa in der Weise zu berücksichtigen, dass zunächst ein Schmerzensgeld ermittelt wird, wie es ohne das Verschulden des Verletzten angemessen wäre, und sodann eine der Mitverschuldensquote entsprechende Kürzung erfolgt. Vielmehr stellt das Mitverschulden bei der Festsetzung des Schmerzensgeldes lediglich ein Bemessungselement neben anderen dar, wobei sich die einzelnen Bemessungselemente je nach den konkreten Umständen des Einzelfalles unterschiedlich auswirken können; ihre Gewichtung ist wesentliche Sache des Tatrichters (vgl. etwa BGH VersR 1970, 624, 625; NZV 1991, 305; Senat in st. Rspr., etwa Beschluss vom 24.09.2009 - 10 U 3281/08).

Es bleibt hiernach im Rahmen tatrichterlicher Würdigung, dass das Berufungsgericht trotz des von ihm angenommenen größeren Mitverschuldens des Klägers im Hinblick auf die gleichzeitig als schwerwiegend bewerteten unfallbedingten Beeinträchtigungen des Klägers im Ergebnis bei dem von dem Landgericht ausgeworfenen Schmerzensgeldbetrag bleibt (BGH NZV 1991, 305 f.).

Der Senat geht dabei in ständiger Rechtsprechung von folgenden Bewertungsgrundsätzen aus:
Die Höhe des zuzubilligenden Schmerzensgeldes hängt entscheidend vom Maß der durch das haftungsbegründende Ereignis verursachten körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Geschädigten ab, soweit diese bei Schluss der mündlichen Verhandlung bereits eingetreten sind oder zu diesem Zeitpunkt mit ihnen als künftiger Verletzungsfolge ernstlich gerechnet werden muss (BGH VersR 1976, 440; 1980, 975; 1988, 299; OLG Hamm zfs 2005, 122, 123; Senat in st. Rspr., zuletzt etwa Urteil vom 29.10.2010 - 10 U 3249/10 ).

Die Schwere dieser Belastungen wird vor allem durch die Stärke, Heftigkeit und Dauer der erlittenen Schmerzen und Funktionsbeeinträchtigungen bestimmt (grundlegend RG, Urteil vom 17.11.1882 - RGZ, 117, 118 und BGH - GSZ - BGHZ 18, 149 ff. = NJW 1955, 1675 ff.; ferner BGH NJW 2006, 1068, 1069; OLG Hamm zfs 2005, 122, 123; Senat in st. Rspr., zuletzt etwa Urteil vom 29.10.2010 - 10 U 3249/10 ).

Besonderes Gewicht kommt etwaigen Dauerfolgen der Verletzungen zu (OLG Hamm zfs 2005, 122, 123); OLG Brandenburg, Urteil vom 08.03.2007 - 12 U 154/06 ; Senat in st. Rspr., zuletzt etwa Urteil vom 29.10.2010 - 10 U 3249/10 ).

3. Unstreitig haben die Beklagten vorgerichtlich bereits 9.000,-​- € auf die Schmerzensgeldansprüche bezahlt. Anders als die Beklagten in ihrer Berufungsbegründung vom 22.06.2012 (Bl. 261/269 d. A.) vortragen, hat der Kläger jedoch außergerichtlich nicht nur Schmerzensgeldansprüche geltend gemacht. Vielmehr hat er ausweislich des Schreibens vom 21.06.2010 (Anlage zu Bl. 244/245 d. A.) auch Verdienstausfall und Haushaltsführungsschaden beansprucht. Konsequenterweise lassen die Beklagten im Schriftsatz vom 29.10.2010 (Bl. 31 d. A.) auch vortragen, dass die 18.000,-​- € „auf nicht konkret abgerechnete Schadenspositionen geleistet“ worden seien. Mit Schriftsatz vom 13.04.2012 (Bl. 226/227 d. A.) erklärten die Beklagten darüber hinaus unmittelbar vor Erlass des Ersturteils, dass „vorliegend ein Schmerzensgeld in Höhe von allenfalls 10.000,00 - 15.000,00 € gerechtfertigt [erscheint], auf das die Beklagte bereits 9.000,00 € gezahlt hat.“ Für eine grundsätzlich mögliche konkludente Tilgungsbestimmung ist deshalb kein Raum. Erstmals in der Berufungsbegründung vom 22.06.2012 erklären sie, dass sie die geleistete Zahlung in Höhe von 18.000,-​- € auf den Schmerzensgeldanspruch angerechnet wissen wollen. Damit waren dem Kläger nach Verrechnung der bereits geleisteten 18.000,-​- € nur noch 12.000,-​- € Schmerzensgeld zuzusprechen.

4. Der Zinsausspruch sowie der Anspruch auf Ersatz der vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten finden ihre Grundlage in §§ 286, 288 BGB.

II.

Die Anschlussberufung hat in der Sache keinen Erfolg und war daher zurückzuweisen.

Die Anschlussberufung gegen die Kostenentscheidung ist statthaft (BVerfG, Beschluss vom 18.12.2009 - 1 BvR 829/09 ; BGHZ 17, 392, 396 f. = NJW 1955, 1394, 1395; OLG Hamburg JZ 1951, 336; OLG Nürnberg NJW 1954, 1687, 1688; Pantle/Kreissl, Rdziff. 534 (wenn auch nicht erforderlich); Oberheim, Taktik, Rdziff. 3356 (wenn auch nicht erforderlich); Thomas/Putzo/Reichold, § 524, Rdziff. 17 (wenn auch überflüssig, a.a.O., Rdziff. 2); Zöller/Heßler, § 524, Rdziff. 35 (wenn auch überflüssig); Baumbach/Lauterbach/Hartmann, § 524, Rdziff. 9). Sie ist jedoch unbegründet, weil das Erstgericht den Feststellungsantrag zutreffend mit 20.000,-​- € bewertet hat. Maßgeblich ist der Wert des Rechtsverhältnisses, dessen Bestehen festgestellt werden soll, wobei nur Umstände zu berücksichtigen sind, die dem Gericht in der Schlussverhandlung bekannt waren (Zöller-​Herget, § 3 ZPO, Rdziff. 16; dabei spielt die Wahrscheinlichkeit oder Unwahrscheinlichkeit des Schadenseintritts eine Rolle). Diese Bewertung wird auch in vergleichbaren Fällen vorgenommen.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 91, 92 II, 97 II ZPO. Da die Beklagten erst aufgrund ihrer mit der Berufungsbegründung vorgenommenen Tilgungsverrechnung in Höhe von 9.000,-​- € eine Reduzierung des noch zuzuerkennenden Schmerzensgeldes erreichen, waren ihnen insoweit die Rechtsmittelkosten ebenfalls aufzuerlegen, § 97 Abs. 2 ZPO (Zöller-​Herget, § 97 ZPO, Rdziff. 13).

IV.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

V.

Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, daß die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.