Das Verkehrslexikon

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OLG Jena (Beschluss vom 05.04.2007 - 1 Ss 20/07 - Messung des Reifenprofils mit ungeeichtem Profilmessgerät

OLG Jena v. 05.04.2007: Zur Messung des Reifenprofils mit ungeeichtem Profilmessgerät


Das OLG Jena (Beschluss vom 05.04.2007 - 1 Ss 20/07) hat entschieden:
Zu den Mindestanforderungen an die tatrichterlichen Feststellungen eines Verstoßes gegen § 36 Abs. 2 Satz 4 StVZO, wenn dieser unter anderem auf eine Messung mit einem nicht geeichten Reifenprofilmessgerät und auf eine "Anschleifung“ der Tread-Wear-Indicators gestützt wird. Ist im Falle einer Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Amtsgerichts ist einer erneuten aufwendigen Beweisaufnahme zu der vorgenommenen Messung zu rechnen, die in keinem Verhältnis zur Bedeutung der Sache stünde, ist die Einstellung des Verfahrens gem. § 47 Abs. 2 OWiG angemessen.


Siehe auch Reifen und Räder und Einstellung des Verfahrens wegen einer Verkehrsordnungswidrigkeit


Gründe:

I.

Mit Urteil des Amtsgerichts Jena vom 08.11.2006 wurde der Betroffene wegen einer fahrlässig begangenen Verkehrsordnungswidrigkeit nach §§ 36 Abs. 2 Satz 4, 69a Abs. 3 Nr. 8 StVZO, § 3 Abs. 2, Nr. 212, 213 BKatV zu einer Geldbuße von 75,- € verurteilt, weil er am 04.04.2006 als Halter ein Kraftrad geführt hatte, dessen Hinterreifen die erforderliche Profiltiefe von mindestens 1,6 mm nicht aufwies.

Hierzu hat das Tatgericht festgestellt, dass die in der Hauptverhandlung vernommenen Polizeibeamten A und B mittels eines ihnen vom Betroffenen selbst überlassenen, „bei jedem Autohaus zum Teil als Werbegeschenk erhältlichen“ Profiltiefenmessers festgestellt hätten, dass die Profiltiefe am Hinterreifen des Fahrzeugs des Betroffenen „weniger als die notwendigen 1,6 mm“ aufgewiesen habe. Diese Feststellung sei in Anwesenheit des Betroffenen gemacht worden, der sich darauf zu den ihm gemachten Vorwurf einer Ordnungswidrigkeit vor Ort geständig eingelassen und ihn auf dem Erfassungsbeleg zugegeben habe. Vor der Messung sei den Zeugen bereits bei Besichtigung des Reifens aufgefallen, dass die vom Reifenhersteller in den Profilrillen angebrachten und eine Höhe von 1,6 mm aufweisenden Noppen angeschliffen gewesen seien. Auf diese Feststellungen hat das Tatgericht seine Überzeugung gestützt, dass die Profiltiefe des Hinterreifens des Kraftrades des Betroffenen weniger als die nach § 36 Abs. 2 Satz 4 StVZO erforderlichen 1,6 mm betragen hat, indem es ausgeführt hat: „...Das Gericht ist sich zwar des Umstandes bewusst, dass die Profiltiefenmessung nur mit einem ungeeichten Gerät festgestellt wurde. Daher kommt ihr kein eigentlicher Beweiswert, sondern nur die Wirkung eines Indizes zu. Als weiteres Indiz ist jedoch zu berücksichtigen, dass die vom Reifenhersteller in den Profilrillen angebrachten Noppen, die eine Höhe von 1,6 mm aufweisen, bereits angeschliffen, sprich teilweise abgefahren waren. Außerdem muss berücksichtigt werden, dass sich der Betroffene vor Ort geständig zum Tatvorwurf eingelassen hat. In seiner Gesamtschau lassen alle Indizien dann nur den Schluss zu, dass der Hinterreifen am Fahrzeug des Betroffenen eine geringere Profiltiefe als 1,6 mm aufwies.“

Am 14.11.2006 hat der Verteidiger des Betroffenen die Zulassung der zugleich eingelegten Rechtsbeschwerde beantragt. Nach Zustellung des Urteils an den Verteidiger des Betroffenen am 20.11.2006 hat dieser unter Darlegung von Zulassungsgründen die Rechtsbeschwerde unter anderem mit der allgemeinen Sachrüge am 20.12.2006 begründet.

Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Stellungnahme vom 23.02.2007 beantragt, den Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde als unbegründet zu verwerfen.


II.

Das Verfahren war nach § 47 Abs. 2 OWiG einzustellen, da eine Ahndung des dem Betroffenen zur Last gelegten Verkehrsverstoßes nicht geboten erscheint.

1. Die in jeder Lage des Verfahrens und damit auch in der Rechtsbeschwerdeinstanz mögliche Einstellung des Verfahrens nach § 47 Abs. 2 OWiG setzt nicht voraus, dass die Rechtsbeschwerde zuvor zugelassen worden ist. Vielmehr ist es ausreichend, wenn das Rechtsbeschwerdegericht auf einen in zulässiger Weise gestellten und begründeten Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde mit der Sache befasst ist (vgl. OLG Hamm, NZV 1998, 514; Göhler/Seitz, OWiG, 14. Aufl. 2006, § 47 Rn. 41 m.w.N.). Diese Voraussetzung ist hier erfüllt, da der Antrag des Betroffenen auf Zulassung der Rechtsbeschwerde form- und fristgerecht angebracht und begründet worden ist. Einer Zustimmung der Thüringer Generalstaatsanwaltschaft zur Einstellung des Verfahrens bedarf es nach § 47 Abs. 2 Satz 2 OWiG nicht.

2. Der Senat hält die Ahndung des dem Betroffenen zur Last gelegten Verkehrsverstoßes für nicht geboten, da die Voraussetzungen der Zulassung der Rechtsbeschwerde gegeben sind und diese voraussichtlich zur Aufhebung des Urteils, zur Zurückverweisung und zu einer erneuten umfangreichen Beweisaufnahme führen würde, die im Hinblick auf die Bedeutung der Sache unangemessen wäre (vgl. Göhler/Seitz, OWiG, 14. Aufl. 2006, § 47 Rn. 41 m.w.N.).

a) Der dem Betroffenen vorgeworfene Verstoß gegen § 36 Abs. 2 Satz 4 StVZO, nach dem das Hauptprofil eines Kraftfahrzeugreifens am ganzen Umfang eine Profiltiefe von mindestens 1,6 mm aufweisen muss, ist als unbedeutend anzusehen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Betroffene die Tat mit einem Kraftrad begangen haben soll und nicht mit einem PKW, womit eine größere Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer verbunden gewesen wäre, und nach den Feststellungen des erstinstanzlichen Urteils die Abnutzung des Hinterreifens allenfalls gering gewesen sein kann. Dass es sich im vorliegenden Fall um eine Abnutzung im Grenzbereich von 1,6 mm Profiltiefe handelte, lässt sich der im Urteil enthaltenen Feststellung entnehmen, dass die in den Profilrillen angebrachten bzw. in die Laufflächen eingelassenen Abnutzungsindikatoren in Gestalt von Noppen bzw. Stegen (Tread-Wear-Indicators = TWI), welche das Abfahren der Reifen bis zur Mindestprofiltiefe anzeigen, „angeschliffen“ waren.

b) Die Voraussetzungen für die Zulassung der Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des materiellen Rechts sind gegeben, da sich die bislang höchstrichterlich noch nicht geklärte und entscheidungserhebliche Rechtsfrage stellt, welche Mindestanforderungen an die tatrichterlichen Feststellungen eines Verstoßes gegen § 36 Abs. 2 Satz 4 StVZO zu stellen sind, wenn dieser unter anderem auf eine Messung mit einem nicht geeichten Reifenprofilmessgerät und auf eine „Anschleifung“ der Tread-Wear-Indicators gestützt wird. In diesem Zusammenhang ist bislang höchstrichterlich lediglich ausgesprochen, dass im Grenzbereich von 1,6 mm für eine zuverlässige Feststellung grundsätzlich eine Messung mit einem Reifenprofilmessgerät zu verlangen ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 05.07.1978, 3 Ss Owi 883/78, S. 2 juris-Umdruck; Beschluss vom 31.01.1980, 2 Ss Owi 3168/79, S. 6/7 juris-Umdruck).

c) Die Rechtsbeschwerde würde voraussichtlich auch zur Aufhebung des angefochtenen Urteils auf die Sachrüge hin führen, weil seine Gründe dem Senat nicht die Prüfung ermöglichen, ob das Tatgericht die dem Betroffenen zur Last gelegte Verkehrsordnungswidrigkeit ohne Rechtsfehler festgestellt hat. Zwar sind an die Urteilsgründe in Bußgeldsachen keine übertriebenen Anforderungen zu stellen. Jedoch muss die im Urteil mitgeteilte Beweiswürdigung in sich logisch, geschlossen, klar und vor allem lückenfrei sein und wenigstens die Grundzüge der Überlegungen des Tatrichters und die Möglichkeit des gefundenen Ergebnisses sowie die Vertretbarkeit des Unterlassens einer anderen Würdigung aufzeigen (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 24.01.2006, 3 Ss Owi 582/05, S. 3 juris-Umdruck). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht.

Die vom Tatgericht getroffenen Feststellungen und seine Erwägungen im Rahmen der Beweiswürdigung sind schon insoweit lückenhaft, als im Urteil nicht mitgeteilt wird, welche Profiltiefe von den Zeugen mittels des ihnen vom Betroffenen überlassenen Messgeräts konkret gemessen worden ist und ob, aus welchen Gründen und gegebenenfalls mit welchen Einschränkungen diese Messung überhaupt als zuverlässig angesehen werden kann. Die Feststellung des konkret ermittelten Messwertes und die tatrichterliche Auseinandersetzung mit der Frage der Zuverlässigkeit einer solchen Messung sind aber nach Auffassung des Senats erforderlich, um nachvollziehen zu können, ob der mittels eines Reifenprofilmessgeräts vorgenommenen Messung im Grenzbereich von 1,6 mm überhaupt irgendein Beweiswert, sei es auch nur die vom Tatgericht angenommene Indizwirkung dafür zukommen kann, dass die Profiltiefe eines Kraftfahrzeugreifens tatsächlich weniger als 1,6 mm betragen hat – und nicht etwa genau 1,6 mm oder sogar mehr.

Reifenprofilmessgeräte unterliegen – anders als im Verkehr eingesetzte Geschwindigkeitsüberwachungsgeräte – nach § 2 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 EichG i.V.m. § 8 EichO i.V.m. Anhang A Nr. 29g keiner Eichpflicht. Sie sind aber nach §§ 14a Abs. 1, 15 Abs. 1 Satz 1 EichO i.V.m. Anlage 1, Abschnitt 2, Nr. 1 und 2.4 allgemein zur innerstaatlichen Eichung zugelassen und damit eichfähig. Werden sie geeicht, beträgt nach Anlage 1, Abschnitt 2, Nr. 3.4 die nach § 33 Abs. 1 und 2 EichO bei der Erst- und Nacheichung geltende Eichfehlergrenze 0,1 mm und die bei der Verwendung geltende Verkehrsfehlergrenze nach § 33 Abs. 3 und 4 EichO das Doppelte, also 0,2 mm. Danach ist selbst bei geeichten Reifenprofilmessgeräten – ebenso wie bei geeichten und ungeeichten Geschwindigkeitsmessgeräten – auch bei sachgerechtem Gebrauch stets mit Abweichungen zu rechnen, die das Messergebnis verfälschen und die jedenfalls bei Geschwindigkeitsmessgeräten durch einen Toleranzabschlag ausgeglichen werden. Erst recht ist bei ungeeichten Reifenprofilmessgeräten mit Abweichungen zu rechnen, bei denen es sich senatsbekannt vielfach um Schiebelineale einfachster Machart handelt, die üblicherweise als Werbegeschenke von Autohäusern, Tankstellen u.ä. ausgereicht werden.

Stützt sich der Tatrichter auf eine mit einem solchen Gerät vorgenommene Messung, ist es seine Aufgabe, dessen gerätespezifische Fehleranfälligkeit zu erwägen und im Hinblick darauf das Messergebnis zu bewerten. Hierfür spricht, dass für Geschwindigkeitsmessungen mit nicht geeichten Messgeräten anerkannt ist, dass der Tatrichter in den Urteilsgründen die gemessene Geschwindigkeit konkret feststellen und sich damit auseinander setzen muss, ob und gegebenenfalls welcher Sicherheitsabschlag von diesem Messergebnis vorzunehmen ist, damit das Rechtsbeschwerdegericht überprüfen kann, ob das Tatgericht ohne Verstoß gegen Denkgesetze oder wissenschaftliche Erfahrungssätze zu der festgestellten Geschwindigkeit gekommen ist (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 24.01.2006, 3 Ss Owi 582/05, S. 4/5 juris-Umdruck). Bei Verwendung von nicht geeichten Reifenprofilmessgeräten sind jedenfalls keine geringeren Anforderungen zu stellen.

Der Senat kann danach anhand der Urteilsgründe weder nachvollziehen, welches konkrete Ergebnis die Messung mit dem vom Betroffenen zur Verfügung gestellten Reifenprofilmessgerät erbracht hat noch ob das Tatgericht diesem Messergebnis rechtsfehlerfrei Indizwirkung für den dem Betroffenen zur Last gelegten Verstoß gegen § 36 Abs. 2 Satz 4 StVZO beigemessen hat. Bereits dieses Versäumnis würde zur Aufhebung des Urteils führen, da die anderen vom Tatgericht gewürdigten Indizien schon nach dessen eigener Auffassung für sich allein eine Verurteilung nicht zu tragen vermögen.

d) Im Falle einer Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Amtsgerichts ist einer erneuten aufwendigen Beweisaufnahme zu der vorgenommenen Messung zu rechnen, die in keinem Verhältnis zur Bedeutung der Sache stünde. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass das Tatgericht den „angeschliffenen bzw. teilweise abgefahrenen“ Tread-Wear-Indicators zwar nur eine den Tatvorwurf nicht allein tragende Indizwirkung beigemessen hat, diese aber durchaus mehr als nur die grobe Einschätzung erlauben könnten, dass der Hinterreifen des Kraftrades des Betroffenen bis in den Bereich der Mindestprofiltiefe von 1,6 mm abgefahren gewesen ist. Um den Beweiswert der Tread-Wear-Indicators zu ermessen, wäre allerdings eine weitere Beweisaufnahme dazu erforderlich, mit welcher messtechnischen Präzision diese Abnutzungsindikatoren – allgemein oder für das vom Betroffenen verwendete Reifenfabrikat – herstellerseits in den Reifen eingelassen werden. Diese Beweiserhebungen wären auch nicht im Hinblick auf das „Geständnis“ des Betroffenen entbehrlich. Denn dieses bezieht sich nur auf die Tatsache, dass die Zeugen A und B mit dem Messgerät des Betroffenen eine bestimmte (und im Erfassungsbeleg mit 1,5 mm angegebene) Profiltiefe gemessen haben; die Zuverlässigkeit dieser Messung belegt es nicht.


III.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 46 Abs. 1 OWiG, 467 Abs. 1 und 4 StPO. Nach den vorstehenden Ausführungen besteht kein Anlass, die notwendigen Auslagen des Betroffenen nicht der Staatskasse aufzuerlegen.