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OLG Brandenburg Beschluss vom 15.10.2012 - (1 B) 53 Ss-OWi 607/12 (308/12) - Lichtbildbeweis und Beweisantrag
OLG Brandenburg v. 15.10.2012: Fehlerhafte Ablehnung eines Beweisantrags gegenüber einem Tatfoto
Das OLG Brandenburg (Beschluss vom 15.10.2012 - (1 B) 53 Ss-OWi 607/12 (308/12)) hat entschieden:
Beruht die Annahme des Gerichts, der Betroffene sei Fahrer des Fahrzeuges gewesen, allein auf dem Lichtbild, das vom Führer des Fahrzeuges anlässlich eines Geschwindigkeitsverstoßes gefertigt worden ist, darf das Gericht den Beweisantrag des Betroffenen auf zeugenschaftliche Vernehmung seines Bruders, der ihm "wie ein Ei dem anderen ähnele", nicht gemäß § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG wegen der Nichterforderlichkeit der Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit zurückweisen (Anschluss OLG Celle, 31. August 2010, 311 SsRs 54/10, NJW 2010, 3794). Die unterbliebene Beweiserhebung darf nicht von der Vorlage eines aktuellen, den Bruder des Betroffenen zeigenden Lichtbildes abhängig gemacht werden, da es nicht Sache des Betroffenen ist, seine Unschuld nachzuweisen.
Siehe auch Lichtbildbeweis - Radarfoto - Videoaufzeichnung - Passfotovergleich - Wahllichtbildvorlage und Der Beweisantrag im Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahren
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Brandenburg an der Havel belegte den Betroffenen mit dem angefochtenen Urteil wegen fahrlässiger Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit außerhalb geschlossener Ortschaften mit einer Geldbuße von 170,00 € und ordnete gegen ihn ein Fahrverbot für die Dauer eines Monats unter Einräumung der Gestaltungsmöglichkeit nach § 25 Abs. 2a StVG an. Der Betroffene soll am 24.9.2011 gegen 14:02 Uhr mit dem Pkw, amtliches Kennzeichen …, die BAB 9 bei km 38,1 in Richtung Leipzig aus Unachtsamkeit mit einer Geschwindigkeit von nach Abzug der Messtoleranz 163 km/h statt der am Tatort durch beidseitig aufgestellte Verkehrsschilder angeordneten zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h befahren haben. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde, die die Sachrüge erhebt und die rechtsfehlerhafte Ablehnung zweier in der Hauptverhandlung gestellter Beweisanträge beanstandet.
Die Generalstaatsanwaltschaft des Landes Brandenburg hat in Stellungnahme vom 2.10.2012 wegen eines ihrer Ansicht nach durchgreifenden Verfahrensfehlers die Aufhebung des erstinstanzlichen Entscheidung und Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung beantragt.
II.
Der Senat entscheidet antragsgemäß. Der zulässigen Rechtsbeschwerde kann ein vorläufiger Erfolg nicht abgesprochen werden. Zurecht macht der Betroffene geltend, das Amtsgericht habe den in der Hauptverhandlung gestellten Antrag auf zeugenschaftliche Vernehmung des ihm "wie ein Ei dem anderen" gleichenden (in Kanada lebenden) Bruders Dr. S… W…, der das gemessene Fahrzeug zur Tatzeit am Tatort gesteuert habe, mit rechtlich nicht tragfähiger Begründung (gemäß § 77 OWiG) abgelehnt.
Das OLG Celle hat hierzu in einem gleichgelagerten Bußgeldverfahren mit Beschluss vom 31.8.2010 – 311 SsRs 54/10 - ( in NJW 2010, 3794 f ) folgendes ausgeführt:
"Auch in Ordnungswidrigkeitenverfahren ist das Gericht gemäß § 77 Abs. 1 S. 1 OWiG verpflichtet, die Wahrheit von Amts wegen zu erforschen. Den Umfang der Beweisaufnahme hat der Amtsrichter – unter Berücksichtigung der Bedeutung der Sache (§ 77 Abs. 1 S. 2 OWiG) – nach pflichtgemäßem Ermessen zu bestimmen. In § 77 Abs. 2 OWiG ist im Bußgeldverfahren zudem eine über das Beweisantragsrecht (§ 244 Abs. 3 – 5 StPO) hinausgehende Sondervorschrift geregelt. Danach kann das Gericht, wenn es den Sachverhalt nach dem bisherigen Ergebnis der Beweisaufnahme für geklärt hält, einen Beweisantrag auch dann ablehnen, wenn nach seinem pflichtgemäßen Ermessen die Beweiserhebung zur Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich ist (§ 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG). Hierzu müssen drei Voraussetzungen vorliegen: Es muss eine Beweisaufnahme stattgefunden haben, aufgrund der Beweisaufnahme muss der Richter zu der Überzeugung gelangt sein, der Sachverhalt sei geklärt und die Wahrheit gefunden und die beantragte Beweiserhebung muss nach dem pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts zur weiteren Erforschung der Wahrheit nicht erforderlich sein (OLG Hamm NZV 2007, 155; OLG Schleswig bei Döllel/ Dreeßen, SchlHA 2004, 261, 264; Senge, in KK-OWiG, § 77 Rdnr. 15 m.w.Nachw.; Göhler/Seitz OWiG, 14. Aufl., § 77 Rdnr. 11). Damit ist das Gericht unter Befreiung vom Verbot der Beweisantezipation befugt, Beweisanträge nach § 77 Abs. 2 Nr. 1 OWiG zurückzuweisen, wenn es seine nach § 77 Abs. 1 S. 1 OWiG prinzipiell fortbestehende Aufklärungspflicht nicht verletzt (Vgl. OLG Celle NZV 2009, 575; Senge, in: KK-OWiG, § 77 Rdnr. 16; Göhler/Seitz, § 77 OWiG Rdnr. 12, 14, 16).
Gemessen an diesen Maßstäben verletzt die Ablehnung des Beweisantrages das Beweisantragsrecht des Betroffenen. Denn die Grundlage, die das Amtsgericht seiner Überzeugung von der Fahrereigenschaft des Betroffenen zugrunde gelegt hat, ist nicht so verlässlich, dass die Möglichkeit, das Gericht könne in seiner Überzeugung durch eine weitere Beweisaufnahme erschüttert werden, vernünftigerweise ausgeschlossen ist. Die Annahme, der Betroffene sei Fahrer des Fahrzeuges gewesen, beruht allein auf dem Lichtbild, das vom Führer des Fahrzeuges gefertigt worden ist und welches nach Auffassung des Amtsgerichtes das Antlitz des Betroffenen wiedergibt. Unterstellt, der unter Beweis gestellte Vortrag, dass der Bruder dem Betroffenen "wie ein Ei dem anderen" ähnelt, wäre zutreffend, hätte das Amtsgericht jedoch keine verlässliche Grundlage dafür zu entscheiden, ob tatsächlich der Betroffene oder nicht doch sein Bruder Führer des Fahrzeuges gewesen ist. Auch dieser hätte dann vom Amtsgericht "eindeutig identifiziert" werden können. Da diese Ähnlichkeit vom Betroffenen in seinem Beweisantrag auch behauptet worden ist, durfte das Amtsgericht den Beweisantrag nicht ohne weiteres ablehnen (vgl. OLG Düsseldorf ZfS 2001, 183; DAR 2001, 176; BayObLG NStZ-RR 1999,60; weitergehend OLG Oldenburg NZV 1995, 84; BayObLG DAR 1997, 318). "
Diesen zutreffenden Ausführungen schließt sich der Senat an. Die angefochtene Entscheidung war danach aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Brandenburg an der Havel zurückzuverweisen, das die unterbliebene Beweiserhebung auch nicht von der Vorlage eines aktuellen, den Bruder S… des Betroffenen zeigenden, Lichtbildes wird abhängig machen können, da es nicht Sache des Betroffenen ist, seine Unschuld nachzuweisen (OLG Celle aaO).