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OLG München Urteil vom 10.01.2014 - 10 U 2231/13 - Einholung eines Sachverständigengutachtens von Amts wegen und ohne Bindung an den Parteivortrag
OLG München v. 10.01.2014: Zur Einholung eines Sachverständigengutachtens von Amts wegen und ohne Bindung an den Parteivortrag
Das OLG München (Urteil vom 10.01.2014 - 10 U 2231/13) hat entschieden:
- Es bedarf grundsätzlich keines Antrages auf Erholung eines unfallanalytischen Gutachtens. Ein Sachverständigengutachten kann nach §§ 144 I 1, 287 I 2 ZPO von Amts wegen und ohne Bindung an den Parteivortrag erholt werden. Im Hinblick auf das insoweit dem Richter eingeräumte Ermessen ist darauf hinzuweisen, dass dieses zwar u. U. weit sein kann, aber auch die Einräumung von sog. freiem Ermessen wegen der Bindung des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 III GG; §§ 1 GVG; 25 DRiG) weder die Einräumung von subjektivem Belieben noch gar Willkür bedeutet.
- Will ein Gericht sein Ermessen dahin ausüben, keine Beweisaufnahme von Amts wegen durchzuführen, muss es den Beweisführer hierauf nach § 139 Abs. 1 S. 2 ZPO hinweisen, um ihm einen Beweisantrag zu ermöglichen. Nur wenn dann kein „Beweisantrag“ gestellt wird, kann man in der Regel eine Pflicht etwa zur amtswegigen Einholung eines Sachverständigengutachtens verneinen.
Siehe auch Der Sachverständigenbeweis im Zivilverfahren und Unfallanalyse - unfallanalytisches Sachverständigengutachten
Gründe:
A.
Von der Darstellung der tatsächlichen Feststellungen wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).
B.
Über die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung war, nachdem der Kläger trotz der seitens des Senats erteilten Hinweise den im Termin vom 29.11.2013 geschlossenen Vergleich durch Einreichung eines Schriftsatzes seiner Prozessbevollmächtigten form- und fristgerecht widerrufen hat, zu entscheiden. Das Rechtsmittel hat auch vorläufig Erfolg.
I.
Das Landgericht hat jedenfalls nach derzeitigem Verfahrensstand zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf Schadensersatz verneint. Zwar ist es bei derzeitiger Sachlage nur wenig wahrscheinlich, dass dem Kläger der Nachweis gelingen wird, dass sämtliche Schäden an seinem Fahrzeug durch den Anstoß der Beklagten zu 1) verursacht wurden, zumal das Fahrzeug zwischenzeitlich repariert wurde. Das Landgericht gelangte zur Abweisung der Klage aber unter Übergehung von Beweisanträgen der Klagepartei und ohne die erforderlichen Hinweise zu erteilen. Im Einzelnen:
1. Nicht zu beanstanden ist auf Grund der Angaben des Zeugen H. zunächst die Annahme des Landgerichts, der Schaden könne nicht durch einen Anstoß des Pkw der Beklagten zu 1) mit der rechten hinteren Ecke verursacht worden sein. Der Kläger hat aber für seine Unfalldarstellung, wonach der Anstoß gegen die Mitte der Front seines Pkw mit der linken Heckseite des Pkw der Beklagten zu 1) erfolgt sei, gem. § 445 I ZPO deren Parteieinvernahme beantragt und das Landgericht durfte den Antrag nicht ablehnen, nachdem es nicht darlegte, dass es vom Gegenteil bereits überzeugt sei (§ 445 II ZPO). Dass die Beklagte zu 1) bereits informatorisch angehört wurde und „keine besonderen Umstände vorlägen, die eine Parteieinvernahme gerechtfertigt hätten“, genügt nicht (BGH MDR 1967, 312; Beschl. v. 28.04.2011 - V ZR 220/10 [juris, dort Rz. 12]): Die Anhörung einer Partei nach § 141 ZPO ist keine Grundlage für die Entscheidung, ob ihr Vortrag oder derjenige des Gegners für wahr zu erachten ist. Die Anhörung dient der Klärung des Sachvortrags (BGHZ 150, 334 [343]), jedoch nicht unmittelbar Beweiszwecken. Ist das Vorbringen einer Partei in Verbindung mit einem Rechtssatz geeignet, das geltend gemachte Recht zu begründen, muss das Gericht dem Beweisantritt nachgehen (BGH NJW-RR 2009, 1236), auch wenn es nicht eben wahrscheinlich ist, dass die Beklagte zu 1) den Vortrag des Klägers bei einer förmlichen Parteieinvernahme bestätigen wird. Das Urteil beruht daher auf der Verletzung von Art. 103 I GG.
2. Das Landgericht hat hinsichtlich der beantragten Einvernahme des Zeugen G. zum „Unfallknall“ nicht beachtet, dass dessen Angaben, ggf. i. V. mit den Angaben des Zeugen P. gegen die Darstellung der Beklagten zu 1) sprechen, wonach sie ein Kollisionsgeräusch nicht wahrgenommen habe und i. V. mit dem Ergebnis der weiteren Beweisaufnahme wesentlich für die Frage der Überzeugungsbildung von der Richtigkeit der Unfalldarstellung der Klagepartei sein können.
3. Das Landgericht durfte nach Auffassung des Senats vorliegend auch nicht von der Erholung eines Sachverständigengutachtens absehen.
a) Zunächst bedarf es grundsätzlich keines Antrages auf Erholung eines unfallanalytischen Gutachtens. Ein Sachverständigengutachten kann nach §§ 144 I 1, 287 I 2 ZPO von Amts wegen und ohne Bindung an den Parteivortrag erholt werden (BGH VersR 1968, 987 [zu § 287 I 2 ZPO]; NJW 1987, 591 = MDR 1987, 212; NJW 1995, 665 [667] jeweils zu § 144 I ZPO; OLG Schleswig OLGR 2008, 314 [316]; OLG München NJW-RR 2008, 1091 ff. m. zust. Anm. Deubner JuS 2008, 1076 [1077]; Müller, Der Sachverständige im gerichtlichen Verfahren, 3. Aufl. 1998, Rz. 31). Im Hinblick auf das insoweit dem Richter eingeräumte Ermessen ist darauf hinzuweisen, dass dieses zwar u. U. weit sein kann, aber auch die Einräumung von sog. freiem Ermessen wegen der Bindung des Richters an Gesetz und Recht (Art. 20 III GG; §§ 1 GVG; 25 DRiG) weder die Einräumung von subjektivem Belieben noch gar Willkür bedeutet (Senat, Beschl. v. 08.07.2004 - 10 W 1659/04 und v. 06.07.2005 - 10 W 1897/05 [n. v.]; Göppinger JurJb 9 [1968/169] 86 [111]), das einem Richter eingeräumte Ermessen vielmehr immer rechtlich gebunden ist und sich im Einzelfall sogar auf Null reduzieren kann (BAG DB 1992, 2196 [2197] zu § 148 ZPO). Erwägungen, weshalb das Gericht vorliegend keine Beweisaufnahme von Amts wegen durchzuführen beabsichtigt, lässt der Hinweis im Protokoll v. 11.03.2013 nicht erkennen, insbesondere auch nicht, ob sich das Gericht dieses Ermessens überhaupt bewusst war (vgl. zu Hinweispflicht insoweit auch OLG Köln NJW-RR 1998, 1274 = OLGR 1998, 21).
b) Der Berufungserwiderung (Bl. 122 d.A.) ist zwar darin Recht zu geben, dass das Landgericht darauf hinwies, dass seitens der Klagepartei ein Antrag auf Erholung eines Sachverständigengutachtens nicht gestellt wurde. Will ein Gericht sein Ermessen dahin ausüben, keine Beweisaufnahme von Amts wegen durchzuführen, muss es den Beweisführer hierauf nach § 139 I 2 ZPO hinweisen, um ihm einen Beweisantrag zu ermöglichen (BGH NJW 1987, 591; OLG Frankfurt a. M. NJW-RR 1993, 169; OLG Saarbrücken NJW-RR 1994, 573; OLG Köln NJW-RR 1998, 1274); nur wenn dann kein „Beweisantrag“ gestellt wird, kann man in der Regel eine Pflicht etwa zur amtswegigen Einholung eines Sachverständigengutachtens verneinen (OLG Frankfurt a. M. NJW-RR 1993, 169). Auf jeden Fall ist ein etwaiges Nichttätigwerden im Urteil zu begründen (BGHZ 173, 23 = NJW 2007, 2989; (2992 unter Tz. 21, 22), andernfalls liegt ein Verfahrensfehler vor (OLG Saarbrücken OLGR 2003, 252 ff.). Im Übrigen hat es das Landgericht unterlassen, den im Hinblick auf den unmittelbar anschließenden Vergleichsvorschlag des Gerichts (!) erkennbar nicht richtig verstandenen Hinweis noch einmal zu präzisieren (BGHZ 140, 365 (371) = NJW 1999, 1867 (1868); BGH NJW 1999, 1264; 2002, 3317 (3320); MDR 2004, 468; NJW 2008, 2036 (2037); Senat, Urt. v. 19.12.2008 - 10 U 2521/08 ([juris, dort Rz. 13]).
II.
Der Senat hat eine eigene Sachentscheidung nach § 538 I ZPO erwogen, sich aber vorliegend aus folgenden Gründen dagegen entschieden:
1. Ein unberechtigtes Übergehen eines Beweisantrags stellt einen Verstoß gegen die Pflicht zur Erschöpfung der Beweismittel als Ausfluss der Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs gemäß Art. 103 I GG dar (BVerfGE 50, 32 = NJW 1979, 413; BVerfG NJW 2003, 125 [127]; BGH NJW-RR 2008, 414; Beschl. v. 28.4.2011 - V ZR 220/10 [juris, dort Rz. 11 ff.]; v. 21.7.2011 - IV ZR 216/09 [juris]) und begründet, da es sich bei dem Gebot der Ausschöpfung der angebotenen Beweise um das Kernstück des Zivilprozesses handelt (Senat NJW 1972, 2048 [2049]), einen wesentlichen Verfahrensmangel im Sinne § 538 II 1 Nr.1 ZPO (BGH NJW 1951, 481 [482]; VersR 2011, 1392 [1394 unter Tz. 21]; Senat NJW 1972, 2048; v. 17.12.2010 - 10 U 1753/10 [juris]; Urt. v. 05.02.2008 - 30 U 563/07 [juris, dort Rz. 26]; v. 25.09.2009 - 10 U 5684/08 [juris, dort Rz. 21 = NJW-Spezial 2010, 171 mit zustimmender Anmerkung Krämer jurisPR-VerkR 2/2010 Anm. 5]).
Eine Beweisaufnahme in dem vorstehend beschriebenen Umfang wäre umfangreich i. S. d. § 538 II 1 Nr. 1 ZPO und würde den Senat zu einer mit der Funktion eines Rechtsmittelgerichts unvereinbaren zum Teil erstmaligen Beweisaufnahme an Stelle der 1. Instanz (Senat NJW 1972, 2048 [2049]; OLG Köln NJW 2004, 521; OLG Naumburg NJW-RR 2012, 1535 [1536]) unter Wiederholung des erstinstanzlichen Verfahrens (Senat VersR 2011, 549 ff.) zwingen, während das Landgericht vorliegend die Möglichkeit hat, die unvollständige Beweisaufnahme zu ergänzen, nämlich die Beklagte zu 1) und den weiteren Zeugen in Gegenwart eines/einer Sachverständigen (förmlich) zu vernehmen und sodann ein Sachverständigengutachten - ggf. bei entsprechender Vorbereitung und je nach Ergebnis der weiteren Beweisaufnahme auch ein mündliches - zu erholen.
2. Der durch die Zurückverweisung entstehende grundsätzliche Nachteil, dass eine gewisse Verzögerung und Verteuerung des Prozesses eintritt, muss hingenommen werden, wenn es darum geht, dass ein ordnungsgemäßes Verfahren in erster Instanz nachzuholen ist und dass den Parteien die vom Gesetz zur Verfügung gestellten zwei Tatsachenrechtszüge voll erhalten bleiben (Senat NJW 1972, 2048 [2049]; OLG Naumburg NJW-RR 2012, 1535 [1536]); eine schnellere Erledigung des Rechtsstreits durch den Senat ist im Übrigen angesichts seiner Geschäftsbelastung vorliegend nicht zu erwarten.
Die Frage der Zurückverweisung wurde auch in der mündlichen Verhandlung mit den Parteivertretern ausführlich erörtert. Beide Parteivertreter sind einer Zurückverweisung nicht entgegengetreten und haben die Zurückverweisung hilfsweise beantragt.
III. Die Kostenentscheidung war dem Erstgericht vorzubehalten, da der endgültige Erfolg der Berufung erst nach der abschließenden Entscheidung beurteilt werden kann (OLG Köln NJW-RR 1987, 1032; Senat in st. Rspr., zuletzt VersR 2011, 549 ff. und NJW 2011, 3729).
IV. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO. Auch im Falle einer Aufhebung und Zurückverweisung ist im Hinblick auf die §§ 775 Nr. 1, 776 ZPO ein Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit geboten (BGH JZ 1977, 232; Senat in st. Rspr., zuletzt u. a. VersR 2011, 549 ff. und NJW 2011, 3729), allerdings ohne Abwendungsbefugnis (Senat a.a.O. ).
V. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.