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OLG München Urteil vom 24.04.2013 - 10 U 3820/12 - Schreckreaktion eines Radfahrers beim Überholen
OLG München v. 24.04.2013: Schreckreaktion eines Radfahrers beim Überholen
Das OLG München (Urteil vom 24.04.2013 - 10 U 3820/12) hat entschieden:
- Hat ein Radfahrer ein Überholmanöver ordnungsgemäß eingeleitet, dann sich bei erst Reaktionsaufforderung die Frage, ob er ausweichen oder das Überholmanöver durch eine Bremsung abbrechen soll, wobei eine Verpflichtung zum Abbruch durch eine Gefahrbremsung gem. § 5 III Nr. 1 StVO nicht besteht, zumal damit bei einem Zweirad auch eine Sturzgefahr verbunden ist.
- Das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers begründet dann kein Verschulden, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgemäße unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert.
Siehe auch Radfahrer-Unfälle und Reaktionen aus "Bestürzung, Furcht und Schrecken"
Gründe:
A.
Die Klägerin macht gegen den Beklagten Ansprüche auf Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall vom 03.08.2008 in O. in der M.-R.-Straße geltend. Die Klägerin und ihr in kurzem Abstand vorausfahrender Ehemann fuhren mit ihren Fahrrädern auf der M.-R.-Straße und bogen an der Einmündung der B.-H.-Straße nach links in diese ab, ohne Handzeichen zu geben. Der Beklagte fuhr auf seinem Triathlonrad ebenfalls auf der M.-R.-Straße, er schloss auf die Klägerin und ihren Ehemann auf und beabsichtigte beide links zu überholen. Dem abbiegenden Ehemann der Klägerin konnte er noch ausweichen und gelangte rechts hinter dessen Rad vorbei, es kam aber zur Kollision mit der Klägerin, wodurch diese zu Sturz kam und sich verletzte. Hinsichtlich des Parteivortrags und der tatsächlichen Feststellungen erster Instanz wird auf das angefochtene Urteil vom 28.08.2012 (Bl. 155/161 d. A.) Bezug genommen (§ 540 I 1 Nr. 1 ZPO).
Das LG hat nach Beweisaufnahme die Klage abgewiesen.
Hinsichtlich der Erwägungen des Landgerichts wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Gegen dieses der Klägerin am 04.09.2012 zugestellte Urteil hat die Klägerin mit einem beim Oberlandesgericht München am 19.09.2012 eingegangenen Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten Berufung eingelegt (Bl. 169 d. A.) und diese nach Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist mit einem beim Oberlandesgericht München am 21.11.2012 eingegangenen Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten (Bl. 176/180 d. A.) begründet.
Die Klägerin hat den Haushaltsführungsschaden zunächst fiktiv geltend gemacht, später - zum Teil denselben Zeitraum betreffend - nach dem an eine Haushaltshilfe bezahlten Entgelt. Hinsichtlich des fiktiven Haushaltsführungsschadens für die Zeit vom 03.08.2008 bis 28.02.2009 (insgesamt 5.820 € nebst Zinsen seit 17.11.2008) hat die Klägerin die Klage mit einem beim Oberlandesgericht am 27.03.2013 eingegangenem Schriftsatz (Bl. 205/206 d.A.) mit Zustimmung des Beklagten gem. Schriftsatz vom 03.04.2013 zurückgenommen.
Die Klägerin trägt vor, der Beklagte habe auf das Abbiegen ihres Ehemannes hin bremsen müssen und hätte dann den Zusammenstoß mit ihr vermeiden können. Der Beklagte müsse auch das Fitnessstudio zahlen, in das sie zum Zweck des Aufbaus der Rückenmuskulatur gehe.
Die Klägerin beantragt zuletzt,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils hinsichtlich des Feststellungsbegehrens und des Schmerzensgeldes nach dem Antrag erster Instanz zu erkennen sowie,
den Beklagten zu verurteilen, an die Klägerin 13.474,18 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz aus 120 € seit 17.11.2008 sowie aus 3.184,79 € seit Zustellung des Schriftsatzes vom 21.09.2009 sowie aus 1089,43 € seit Zustellung des Schriftsatzes vom 11.03.2010 sowie aus 5689,86 € seit Zustellung des Schriftsatzes vom 04.04.2012 sowie aus 3990,10 € seit Zustellung des Schriftsatzes vom 14.03.2013 zu bezahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat gemäß Beweisanordnungen vom 04.01.2013 (Bl. 189/192 d. A.) und 24.04.2013 Beweis erhoben durch Anhörung der Parteien, erneute uneidliche Vernehmung des Zeugen L.-B. sowie durch Einholung eines mündlichen Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. S.
Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschriften vom 15.03.2013 (Bl. 197/204 d. A.) und 24.04.2013 (Bl. 209/214 d.A.) verwiesen.
Ergänzend wird auf die vorgenannte Berufungsbegründungsschrift, die Berufungserwiderung vom 29.11.2012 (Bl. 183/188 d. A.) und die weiteren im Berufungsverfahren eingereichten Schriftsätze der Klägerin vom 14.03.2013 (Bl. 195/196 d. A.), vom 26.03.2013 (Bl. 205/206 d.A.) und des Beklagten vom 03.04.2013 (Bl. 207/208 d. A.) Bezug genommen.
B.
Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat, soweit darüber noch zu entscheiden war, in der Sache keinen Erfolg.
I.
Das Landgericht hat im Ergebnis zu Recht einen Anspruch der Klägerin auf Schadensersatz verneint. Ein schuldhaftes Verhalten des Beklagten ist anders als ein solches der Klägerin und ihres Ehemannes, des Zeugen L.-B., nicht nachgewiesen.
1. Bereits nach den in erster Instanz erholten Gutachten auf Grund der seinerzeit zu Grunde gelegten Anknüpfungstatsachen war davon auszugehen, dass der Beklagte auf das Abbiegemanöver der Klägerin nicht mehr unfallverhütend reagieren konnte. Fraglich blieb, ob der Unfall vermeidbar war, wenn der Beklagte auf den erkennbaren Abbiegebeginn des Zeugen durch Abbruch des eingeleiteten Überholvorganges mit einer Bremsung reagiert, weil er in Rechnung zu stellen hat, dass auch die Klägerin nach links abbiegen wird.
2. Der Senat hat aufgrund der in zweiter Instanz durchgeführten erneuten Beweisaufnahme nicht überwindbare Zweifel daran, dass der Beklagte den Unfall selbst bei einer Vollbremsung mit einem Verzögerungswert von 6 m/Sek.² vermeiden konnte. Die Klägerin konnte nicht widerlegen, dass sie und ihr Ehemann mit einer Geschwindigkeit von ca. 15 km/h fast zeitgleich, ohne Handzeichen zu geben nach links abgebogen sind und der Beklagte zu 1) vom Zeitpunkt der ersten Reaktionsaufforderung bei einer von ihm gefahrenen Geschwindigkeit von ca. 37 km/h weniger als 1,75 Sek., möglicherweise nur mehr 1,2 Sek. vor der Kollision Zeit hatte zu reagieren.
a) Die Klägerin gibt selbst an, dass sowohl sie selbst als auch der vor ihr befindliche Zeuge ohne Handzeichen abbogen, den Abstand zwischen den Rädern gab sie mit einer Fahrradlänge an, was etwas weniger als 2 m entspricht. Auch der Zeuge gab an, dass die Klägerin „eigentlich immer“ nah hinter ihm fährt, er schätzte den Abstand auf maximal 3 m - 4 m. Der Senat ist nicht davon überzeugt, dass der Zeuge bereits in der B.-H.-Straße war, als sich etwa in Straßenmitte die Kollision zwischen den Parteien ereignete. Zwar gab die Klägerin an, dass sie in der Mitte der Straße war, während ihr Mann schon drüben in der anderen Straße war und sich umschaute. Der Zeuge seinerseits erinnerte sich nämlich, dass er, als er nach links abbog, nicht mehr nach hinten schaute, sondern er erst auf den Krach oder den Schrei seiner Frau bremste und sich umschaute, wobei er seine Frau am Boden liegen sah. Hieraus kann nicht geschlossen werden, der Zeuge sei bereits in der B.-H.-Straße gewesen, als sich die Kollision mit der Klägerin ereignete, weshalb die Annahme im Erstgutachten vom 24.01.2010 (Bl. 57/77 d.A.), der Abstand zwischen der Klägerin und ihrem Ehemann habe 4 m - 5 m betragen, der Begutachtung ebenso nicht zu Grunde gelegt werden kann wie die Zeit zwischen erkennbarem Abbiegebeginn des Zeugen und der Kollision mit der Klägerin von 2,4 Sek. (1. Ergänzungsgutachten vom 29.11.2010 = Bl. 98/106 d.A.). Der Beklagte konnte anlässlich seiner Anhörung im Termin vom 15.03.2013 bekunden, dass der Abbiegevorgang des Zeugen für ihn sehr wohl einen Gefahrenmoment darstellte, er in der Fahrbahnmitte oder etwas links davon fahrend gerade noch mit einer Ausweichbewegung an dessen Hinterrad in äußerst knappem Abstand vorbeikam und ihn die Klägerin von rechts berührte, als er etwa mit der halben Radlänge am Zeugen vorbeigelangt war. Insbesondere erinnerte sich der Beklagte an ein „steiles Abbiegen“ des Zeugen ohne vorheriges Einordnen zur Mitte und dass der Zeuge zum Kollisionszeitpunkt noch nicht in der Seitenstraße war. Der Zeuge seinerseits bestätigte, dass er in einem engen Abbiegebogen nach links fuhr („90°Winkel“). Nach dem Gutachten vom 24.01.2010, S. 8, 9 = Bl. 64/65 d.A.) ist, da nur die Klägerin zu Sturz kam und eine Verhakung nicht erfolgte, am wahrscheinlichsten, dass die Klägerin im Bereich ihres Vorderrades vom rechten Pedal des Beklagtenrades oder der rechten Körperseite des Beklagten erfasst wurde. Der Aufprall von Rad und Klägerin auf der Fahrbahn und deren Schrei als Reaktion auf Bremsung und Umschauen seitens des Zeugen sind mithin zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt, zu dem der Zeuge dann tatsächlich wie von ihm bekundet bereits teilweise in der Seitenstraße befindlich war.
b) Der Senat glaubt die detaillierte Unfallschilderung des Beklagten, seine Angaben zum geringen Abstand der Klägerin zu ihrem Ehemann und zum engen Abbiegebogen des Zeugen haben betreffend den Abstand die Klägerin und hinsichtlich des Abbiegebogens der Zeuge betätigt. Die Klägerin selbst wurde erst durch die Kollision auf den Beklagten aufmerksam und der Zeuge bestätigte, dass er erst auf einen Schrei seiner Frau bzw. „den Krach“ bremste und sich umschaute, als die Klägerin bereits am Boden lag. Die dem Sachverständigen vorgegebenen Geschwindigkeiten von 15 km/h für den Zeugen und 37 km/h für den Beklagten sind realistisch. Der Sachverständige ermittelte bei Vergleichsfahrten mit dem Zeugen und dem Beklagten, bei denen sie mit Geschwindigkeiten wie auch am Unfalltag fahren sollten, für den Zeugen eine Geschwindigkeit von 16 km/h und für den Beklagten eine solche von 37 km/h. Die Klägerin ihrerseits gab ihre Geschwindigkeit mit 10 km/h bis 15 km/h an, wobei sie in Betracht zog, beim Abbiegen etwas schneller gefahren zu sein. Der Beklagte äußerte, dass er bei seinen Touren über 30 km oder 40 km einen Schnitt von 35 km/h bis 36 km/h erzielt und zu Beginn - auch zum Unfallzeitpunkt befand er sich am Beginn einer Runde - schneller fährt und er auf das von ihm erkannte Abbiegen des Zeugen zu treten aufhörte.
c) Der Sachverständige, von dessen Sachkunde sich der Senat bereits aus einer Vielzahl erholter Gutachten und Anhörungen vor dem Senat überzeugen konnte, gelangte auf Grund der dargestellten Vorgaben des Senats hinsichtlich der zu Grunde zu legenden Anknüpfungstatsachen zu Geschwindigkeiten, Abständen und Abbiegewinkel des Zeugen (Sitzungsniederschrift vom 24.04.2013, S. 2, 3) zu dem Ergebnis, dass der Unfall für den Beklagten auch durch eine Vollverzögerung mit 6 m/Sek.² weg- und zeitmäßig nicht zu vermeiden war, wenn die Klägerin und ihr Ehemann annähernd gleichzeitig abbogen, wobei die Anlage 1) zur Sitzungsniederschrift vom 24.04.2013 von einer Erkennbarkeit des Abbiegevorganges der Klägerin 1,2 Sek. vor der Kollision ausgeht und zu diesem Zeitpunkt auch der Zeuge mit seinem Abbiegevorgang begann. Freilich ist zu bedenken, dass nach Angaben aller Beteiligten der Zeuge zuerst den Abbiegevorgang einleitete und auch der Beklagte gab an, dass er die Reaktionsaufforderung durch das Fahrverhalten des Zeugen erhielt. Der Sachverständige führte hierzu aus, dass sich, wenn der Zeuge (geringfügig) früher abbiegt, das Ergebnis zu Ungunsten des Beklagten verschiebt, weil er sich dann der Grenze nähert, ab der der Unfall durch eine Bremsung vermeidbar war. Eine Vermeidbarkeit ergibt sich aber erst, wenn der Beklagte den Abbiegevorgang über mehr als 1,75 Sek. beobachten konnte (Sitzungsniederschrift vom 24.04.2013, S. 4). Vor dem Hintergrund, dass die genauen Abbiegebögen der Klägerin und ihres Ehemannes nicht bekannt sind, ist eine Überzeugungsbildung dahin, dass der Beklagte mehr als 1,75 Sek. vor der Kollision Zeit hatte zu reagieren, nicht mit der für § 286 I 1 ZPO erforderlichen Sicherheit möglich. Ein Verschulden des Beklagten ist daher nicht nachweisbar.
d) Auch wenn man eine Situation annähme, in der der Beklagte rechnerisch genügend Zeit hätte, um mit einer Vollbremsung den Unfall zu vermeiden, ergäbe sich kein anderes Ergebnis. Der Beklagte hat den engen zeitlichen und örtlichen Zusammenhang der Abbiegevorgänge der beiden Radfahrer geschildert und von diesen Angaben hat sich der Senat aus den dargelegten Erwägungen überzeugt. Der Beklagte hat ein Überholmanöver ordnungsgemäß eingeleitet und erst bei Reaktionsaufforderung stellte sich die Frage, ob er ausweicht oder das Überholmanöver durch eine Bremsung abbricht, wobei eine Verpflichtung zum Abbruch durch eine Gefahrbremsung gem. § 5 III Nr. 1 StVO nicht besteht (KG VM 1990, Nr. 118), zumal damit bei einem Zweirad auch eine Sturzgefahr verbunden ist. Auch begründet das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers dann kein Verschulden, wenn er, wie vorliegend, in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgemäße unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (RGZ 92, 38; BGH LM Nr. 2 zu § 286 [A] ZPO; VRS 5 [1952] 87; 34 [1967] 434 [435]; 35 [1968] 177; VersR 1953, 337; 1958, 165; 1971, 909 [910]; 1976, 734 = DAR 1976, 184 [185] = NJW 1976, 1504 = MDR 1976, 749; VersR 1982, 443; 2009, 234 [unter II 2 a]; KG VersR 1978, 744; 1995, 38; OLG Karlsruhe VersR 1987, 692; OLG Koblenz, Urt. v. 27.10.2003 - 12 U 714/02; OLG Düsseldorf NZV 2006, 415 [416]; NZV 2007, 614 = NJOZ 2007, 5944 [5950] = DAR 2007, 704; Senat, Urt. v. 18.01.2008 - 10 U 4156/07 [Juris = NJW-Spezial 2008, 201 - red. Leitsatz, Kurzwiedergabe]).
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 I, 269 III 2 ZPO.
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Ersturteils und dieses Urteils beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.
IV.
Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.