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OLG Hamm Beschluss vom 13.11.2009 - 3 Ss OWi 622/09 - Hinweispflicht des Gerichts vor Erhöhung der Geldbuße

OLG Hamm v. 13.11.2009: Zur Hinweispflicht des Gerichts vor Erhöhung der Geldbuße


Das OLG Hamm (Beschluss vom 13.11.2009 - 3 Ss OWi 622/09) hat entschieden:
  1. Wird der Regelsatz des Bußgeldes, welcher mit dem Bußgeldbescheid verhängt wurde, vom Gericht verdoppelt, ohne dass dem Betroffenen Gelegenheit zur Stellungnahme dazu gegeben wurde, so liegt eine Verletzung rechtlichen Gehörs vor.

  2. Eine Beschränkung der Zulassung der Rechtsbeschwerde (hier: auf den Rechtsfolgenausspruch) ist möglich, wenn der Zulassungsgrund nur einen Teil des angefochtenen Urteils betrifft.

Siehe auch Bemessung der Geldbuße - Bußgeldhöhe und Stichwörter zum Thema Ordnungswidrigkeiten


Gründe:

I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Überschreitung der Höchstgeschwindigkeit zu einer Geldbuße von 50 Euro verurteilt. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit dem Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde, mit der er unter anderem eine Verletzung rechtlichen Gehörs rügt.


II.

Der statthafte und rechtzeitig gestellte Antrag auf Zulassung der Rechtsbeschwerde ist teilweise begründet.

Hat das Amtsgericht den Betroffenen - wie hier - zu einer Geldbuße von nicht mehr als 100 Euro verurteilt, ist die Rechtsbeschwerde gem. § 80 Abs. 2 Nr. 1 i. V.m. Abs. 1 OWiG wegen der Anwendung von Rechtsnormen über das Verfahren nicht und wegen der Anwendung von materiellrechtlichen Normen nur zur Fortbildung des Rechts oder dann zuzulassen, wenn das Urteil wegen Versagung rechtlichen Gehörs aufzuheben ist.

Die Rechtsbeschwerde war insoweit zuzulassen, als das Urteil - im Rechtsfolgenausspruch - wegen Versagung des rechtlichen Gehörs aufzuheben - bzw. hier gem. § 79 Abs. 6 OWiG abzuändern - ist. Eine weitergehende Zulassung der Rechtsbeschwerde scheidet aus.

1. a) Die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs ist noch zulässig erhoben.

Die Antragsbegründung legt dar, dass die Erhöhung des im Bußgeld mit 25 Euro festgesetzten Bußgeldes zu keiner Zeit Gegenstand der Hauptverhandlung war und das Amtsgericht dennoch eine Erhöhung auf 50 Euro vorgenommen hat. Daraus erschließt sich, dass der Betroffene zu einer entsprechenden Erhöhung, wobei es sich vorliegend um die Verdoppelung des Regelsatzes nach Nr. 11.3.2. Tabelle 1 BKatV handelt, nicht gehört wurde, ihm insbesondere kein gerichtlicher Hinweis auf eine beabsichtigte Verdoppelung des Regelsatzes erteilt wurde. Aus den Ausführungen, dass "Gesichtspunkte, die eine Erhöhung rechtfertigen könnten, nicht ersichtlich" seien, entnimmt der Senat noch mit hinreichender Deutlichkeit, dass der Betroffene im Falle einer entsprechenden Anhörung gerade dieses auch vorgetragen hätte (vgl. zu dieser Voraussetzung OLG Hamm Beschl. v. 24.09.2009 - 3 SsOWi 527/09 - juris).

b) Die Rüge ist auch begründet.

aa) Das Amtsgericht hat mit der unangekündigten Erhöhung des Bußgeldes eine nach Art. 103 Abs. 1 GG unzulässige Überraschungsentscheidung getroffen hat. Dass das Gericht seine Erhöhungsabsicht nicht angekündigt hat, ergibt sich nach §§ 71 Abs. 1 OWiG, 274 Satz 1 StPO daraus, dass das Hauptverhandlungsprotokoll einen solchen, zur Gewährung des rechtlichen Gehörs zu erteilenden und zu den wesentlichen Förmlichkeiten des Verfahrens gehörenden Hinweis (vgl. OLG Jena Beschl. v. 22.05.2007 - 1 Ss 346/06 - juris) nicht verzeichnet. Der Tenor des in der Hauptverhandlung verkündeten Urteils lautet ausweislich des Protokolls auf 50 Euro. Damit ist (§ 274 StPO, vgl. BGH Beschl. v. 22.7.2009 - 2 StR 173/09 = BeckRS 2009, 22715) bewiesen, dass das in der Hauptverhandlung verkündete Urteil auf diesen Betrag lautete und es sich nicht - wie der Betroffene vermutet - um einen Schreibfehler im schriftlichen Urteil handelt (möglicherweise mag beim Tatrichter ein Irrtum über die Höhe des Regelsatzes nach Ziff. 1.3.2. Anging 1 BKatV vorgelegen haben, welcher aber nicht als bloßer "Schreibfehler" korrigiert werden kann).

bb) Ein gerichtlicher Hinweis auf die beabsichtigte Erhöhung des Regelsatzes wäre erforderlich gewesen.

Der Senat schließt sich diesbezüglich der Rechtsauffassung in dem Beschluss des OLG Jena vom 22.05.2007 - 1 Ss 346/06 - an. Darin wird zutreffend Folgendes ausgeführt:
" Eine Gehörsverletzung i.S.d. § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG ist gegeben, wenn Art. 103 Abs. 1 GG missachtet worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 09.12.2003, 1 Ss 314/03, S. 3 juris-​Umdruck), der den Verfahrensbeteiligten das Recht gewährt, sich sowohl zu den der gerichtlichen Entscheidung zugrunde liegenden Tatsachen als auch zur Rechtslage zu äußern (vgl. BVerfGE 64, 135, [143 f.]). Diese Verpflichtung des Gerichts, den Verfahrensbeteiligten (auch) Gelegenheit zu Rechtsausführungen zu geben, erstreckt sich zwar grundsätzlich nicht auch darauf, mit ihnen Rechtsgespräche zu führen und zu diesem Zweck auf eigene Rechtsansichten hinzuweisen (vgl. BVerfGE 54, 110, [117]). Die Erteilung eines rechtlichen Hinweises ist aber dann nach Art. 103 Abs. 1 GG geboten, wenn sie der Vermeidung von Überraschungsentscheidungen dient. Eine solchermaßen verbotene Überraschungsentscheidung liegt vor, wenn das Gericht einen bis zu seiner Entscheidung nicht erörterten rechtlichen Gesichtspunkt zur Grundlage seiner Entscheidung gemacht und damit dem Verfahren eine Wendung gegeben hat, mit welcher der davon betroffene Verfahrensbeteiligte nach dem bis zu diesem Zeitpunkt gegebenen Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen brauchte, wobei es auf eine Überraschungsabsicht des Gerichts nicht ankommt (vgl. Maunz-​Dürig/Schmidt-​Aßmann, GG, Bd. VI, Art. 103 Rn. 140 m.w.N.). Dieser Grundsatz ist für das Straf- und Bußgeldverfahren in § 265 StPO einfachgesetzlich ausgeprägt, wobei allerdings Art. 103 Abs. 1 GG eine noch darüber hinausgehende - und für die Zulassung der Rechtsbeschwerde maßgebliche - Gewährleistung enthält (vgl. Senatsbeschluss vom 09.12.2003, a.a.O.)."
So liegt der Fall hier. Eine Erteilung eines entsprechenden rechtlichen Hinweises ist im Protokoll nicht vermerkt. Es sind auch aus dem Hauptverhandlungsprotokoll keine Umstände ersichtlich, die einen gerichtlichen Hinweis auf die beabsichtigte Erhöhung der Regelgeldbuße ausnahmsweise entbehrlich machten, etwa weil aufgrund der Erörterung und des Verlaufs der Hauptverhandlung dem Betroffenen klar sein musste, dass eine solche im Raume stand. Vielmehr ging es, das wird anhand der vernommenen Zeugen und den gestellten Beweisanträgen erkennbar, um die Sichtbarkeit bzw. Aufstellung eines Verkehrsschildes zum Tatzeitpunkt.

2. Eine weitergehende Zulassung der Rechtsbeschwerde zur Fortbildung des materiellen Rechts aus.

Zur Fortbildung des materiellen Rechts ist eine Rechtsbeschwerde nur zuzulassen, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen aufzustellen oder Gesetzeslücken rechtsschöpferisch zu schließen. Die Fortbildung des Rechts kommt danach nur bei entscheidungserheblichen, klärungsbedürftigen und abstraktionsfähigen Rechtsfragen in Betracht (vgl. BGH NJW 1971, 389, 391; Göhler-​Seitz OWiG 15. Aufl. § 80 Rdn. 3 m.w.N.). Solche Rechtsfragen werden vom Betroffenen nicht aufgezeigt und sind auch sonst nicht ersichtlich. Hingegen geht es bei der Zulassung der Rechtsbeschwerde nicht um die Nachprüfung des angewendeten Rechts im Einzelfall (Göhler-​Seitz OWiG 15. Aufl. § 80 Rdn. 1a).

Die Rechtsbeschwerde wendet sich in erster Linie gegen die Beweiswürdigung des Tatrichters. Welche rechtlichen Anforderungen an die Beweiswürdigung in materiellrechtlicher Hinsicht zu stellen sind, ist allerdings obergerichtlich geklärt (vgl. nur OLG Hamm Beschl. v. 04.03.2008 - 3 Ss 490/08 = BeckRS 2008, 07743 m.w.N.). Auch unter welchen Voraussetzungen eine Erhöhung des Regelsatzes der Geldbuße in Betracht kommt, ist obergerichtlich geklärt (vgl. nur Hentschel/ König/Dauer StVG § 24 Rdn. 42 ff., 60 ff.). Aus dem Umstand, dass hier die Verdoppelung des Regelsatzes für Geschwindigkeitsüberschreitungen zwischen 11 und 15 km/h innerorts (hier: 13 km/h) nach Nr. 11.3.2. Tabelle 1 BKatV im Urteil nicht näher begründet wurde, folgt ebenfalls nicht die Notwendigkeit einer Zulassung zur Fortbildung des Rechts. Dass eine solche Verdoppelung zu begründen ist, ist ebenfalls obergerichtlich geklärt.

3. Da die Verletzung rechtlichen Gehörs hier nur den Rechtsfolgenausspruch betrifft, war die Rechtsbeschwerde auch nur insoweit zuzulassen. Eine Beschränkung der Zulassung ist möglich (OLG Hamm VRS 59, 363; OLG Koblenz VRS 68, 223; Göhler-​Seitz OWiG 15. Aufl. § 80 Rdn. 17). Der Wortlaut des § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG ergibt das allerdings nicht zweifelsfrei, wenn es dort heißt, dass die Rechtsbeschwerde zuzulassen ist, "wenn es geboten ist, (...) das Urteil wegen Versagung rechtlichen Gehörs aufzuheben". Der Wortlaut ("das Urteil") würde sogar eher darauf hindeuten, dass eine Zulassung nur dann in Betracht kommt, wenn das Urteil insgesamt (also auch im Schuldspruch) aufzuheben ist. Ein Anhaltspunkt dafür, dass eine Teilzulassung möglich ist, ergibt sich aber aus dem Formulierung "geboten". Ist das rechtliche Gehör nur bei der Rechtsfolgenbemessung verletzt, so ist nicht ersichtlich, warum eine Aufhebung insgesamt geboten sein sollte; dann wäre aber auch Zulassung der Rechtsbeschwerde insgesamt, welche - bei § 80 Abs. 1 Nr. 2 OWiG - insbesondere der Vermeidung von Verfassungsbeschwerden wegen der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG dient, geboten sein sollte (vgl. insoweit BVerfG NJW 1992, 2811; OLG Hamm Beschl. v. 15.03.1999 - 2 SsOWi 10/99 - juris) . Auch ist kein Grund dafür erkennbar, warum bei der Zulassung der Rechtsbeschwerde, welche der Entscheidung über die Rechtsbeschwerde nur vorgeschaltet ist, andere Regeln gelten sollten, als bei der Rechtsbeschwerde selbst. Bei dieser ist aber eine Teilaufhebung - nur im Rechtsfolgenausspruch - bei Verwerfung des Rechtsmittels im übrigen grundsätzlich möglich. Auch wäre es widersinnig, wollte man nur eine uneingeschränkte Zulassung der Rechtsbeschwerde für statthaft halten, wenn es z. B. um einen Zulassungsgrund nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 OWiG ginge. Denn dann bestünde die Gefahr, dass zwar die Zulassung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung im Rechtsfolgenbereich erfolgte, das angefochtene Urteil aber wegen eines Rechtsfehlers im Schuldspruch bereits aufgehoben werden könnte, so dass das Rechtsbeschwerdegericht - jedenfalls nicht tragend - das Recht fortbilden oder zur Vereinheitlichung beitragen kann (OLG Hamm VRS 59, 363).


III.

Die Rechtsbeschwerde ist - soweit sie zugelassen wurde - begründet, da der Rechtsfolgenausspruch zu Lasten des Betroffenen auf dem o. g. Rechtsfehler (Verletzung rechtlichen Gehörs) beruht. Der Senat konnte insoweit eine eigene Sachentscheidung gem. § 79 Abs. 6 OWiG treffen, da es keiner weiteren Tatsachenfeststellung zur Bemessung der Rechtsfolge mehr bedurfte. Nach den Urteilsfeststellungen rechtfertigt die Tat selbst keine Abweichung vom Regelsatz. Der Betroffene ist danach aus bisher straßenverkehrsrechtlich nicht in Erscheinung getreten. Sonstige Gründe für eine Verdoppelung des Regelsatzes werden im Urteil auch nicht aufgeführt.


IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 46 OWiG i. V. m. § 473 Abs. 4 StPO.