Das Verkehrslexikon
OLG Köln Beschluss vom 08.01.2014 - 19 U 158/13 - Reifenteile auf der Autobahn und Sichtfahrgebot
OLG Köln v. 08.01.2014: Kein Anscheinsbeweis für eine Verletzung des Sichtfahrgebots bei Reifenteilen auf der Autobahn
Das OLG Köln (Beschluss vom 08.01.2014 - 19 U 158/13) hat entschieden:
Das Sichtfahrgebot gilt auf Autobahnen nicht für solche Hindernisse, die gemessen an den jeweils herrschenden Sichtbedingungen erst außergewöhnlich spät erkennbar sind. Dies gilt auch für Reifen- und sonstige Fahrzeugteile, die zuvor von einem LKW aufgrund einer Reifenpanne verloren bzw. abgerissen worden waren und die verstreut auf der Fahrbahn lagen. In dieser Konstellation spricht - anders als beim Auffahren auf ein größeres Hindernis, z.B. auf ein liegen gebliebenes Fahrzeug - nicht der Beweis des ersten Anscheins für einen Verstoß gegen das Sichtfahrgebot und damit eine unangepasste Geschwindigkeit.
Siehe auch Fahren auf Sicht - Sichtfahrgebot - Auffahren auf Hindernisse und Reifenverlust - Loslösen von Reifen während der Fahrt - Reifenplatzer
Gründe:
I.
Die Berufung des Beklagten hat offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg (§ 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 ZPO). Es ist nicht ersichtlich, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht (§ 546 ZPO) oder nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen (§ 513 Abs. 1 ZPO). Die Rechtssache hat auch keine grundsätzliche Bedeutung (§ 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 ZPO). Ebenso wenig ist eine Entscheidung des Senats durch Urteil zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung (§ 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 ZPO) oder aus anderen Gründen eine mündliche Verhandlung geboten (§ 522 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 ZPO).
Das Landgericht hat aus zutreffenden Gründen einen Anspruch des Klägers auf Ausgleich des vollen Schadens aus dem Verkehrsunfallereignis vom 25.10.2012 bejaht.
1. Eine Mithaftung des Klägers zu 30 % wegen eines Verstoßes gegen das Sichtfahrgebot hat das Landgericht zu Recht verneint. Denn das Sichtfahrgebot gilt auch auf Autobahnen nicht für solche Hindernisse, die gemessen an den jeweils herrschenden Sichtbedingungen erst außergewöhnlich spät erkennbar sind (BGH, Urteil vom 15.05.1984, VI ZR 161/82; OLG Celle, Urteil vom 05.09.2007, 14 U 71/07 zitiert nach juris). Nach den unbestrittenen Ausführungen des Klägers überfuhr er bei Dunkelheit und mit einer Fahrgeschwindigkeit von 80-100 km/h auf der Autobahn A 1 Reifen- und sonstige Fahrzeugteile, die zuvor von einem bulgarischen LKW aufgrund einer Reifenpanne verloren bzw. abgerissen worden waren und die verstreut auf der Fahrbahn lagen. Nach der vom Beklagten selbst vorgelegten polizeilichen Unfallmitteilung waren vor dem Kläger bereits mehrere Fahrzeuge über die Reifen- und Fahrzeugteile (Spanngurte/Ratschen) gefahren, wodurch diese sich über alle Fahrstreifen verteilt hatten. Bei dieser Situation handelt es sich bei den überfahrenen Gegenständen um relativ kleine (kleiner als ein ganzer Reifen), sich bei Dunkelheit kaum von der Fahrbahn abhebende Gegenstände, die besonders schwer erkennbar sind (vergleichbar mit Splitthaufen: BGH, VersR 1960, 636; Absperrstange eines Weidezauns: BGH, VersR 1972, 1057; Reifenprotektor von 20 cm Höhe: BayObLG VRS 22, 380; Reserverad: BGH, Urt. vom 15.05.1984, a.a.O. zitiert nach juris; Reifendecke: LG Bielefeld, Urteil vom 24.09.1990, 22 O 180/90; Reifenkarkasse: AG Sinzig, ZfSch 2011, 381). In dieser Konstellation spricht - anders als beim Auffahren auf ein größeres Hindernis, z.B. auf ein liegen gebliebenes Fahrzeug - nicht der Beweis des ersten Anscheins für einen Verstoß gegen das Sichtfahrgebot und damit eine unangepasste Geschwindigkeit des Klägers. Der Beklagte hat auch keine Umstände aufgezeigt, die im vorliegenden Fall ausnahmsweise doch für eine Erkennbarkeit der Reifenteile für den Kläger sprechen. Insofern fehlen auch für das vom Beklagten beantragte Sachverständigengutachten geeignete Anknüpfungstatsachen. Auf die entsprechenden Ausführungen im landgerichtlichen Urteil wird verwiesen.
2. Das Landgericht hat auch zutreffend festgestellt, dass sich der beklagte Verein seit dem 29.12.2012 mit der Leistung in Verzug befand. Gründe, ihm gem. § 14 Abs. 1 VVG ein längere Prüffrist als 2 Monate nach dem Versicherungsfall zuzubilligen, sind nicht ersichtlich. Insbesondere kann die Mitteilung der Vollkaskoversicherung des Klägers, dass diese bislang nicht in Anspruch genommen worden sei, nicht als notwendige Erhebung zur Feststellung des Versicherungsfalls und des Umfangs der Leistungspflicht im Sinne des § 14 VVG angesehen werden. Soweit der beklagte Verein zur Begründung der Mitwirkungspflicht durch den Kläger auf § 86 VVG verweist, so überzeugt dies nicht. Denn § 86 VVG regelt nur das Verhältnis des Versicherungsnehmers/Geschädigten zu seinem Versicherer und begründet keine Pflichten des Geschädigten gegenüber dem Haftpflichtversicherer des Schädigers (vgl. Langheid in Römer/Langheid, VVG, 4. Aufl. 2014, § 86 Rz. 1). Zudem hatte der Kläger die Information, eine Vollkaskoversicherung zu besitzen, diese aber nicht in Anspruch genommen zu haben, bereits mit Schreiben vom 20.12.2012 erteilt.
II.
Der Beklagte hat Gelegenheit zur Stellungnahme - auch zur Frage der Rücknahme des Rechtsmittels - binnen der ihm gesetzten Frist. Abschließend wird auf die Möglichkeit der Rücknahme der Berufung zum Zwecke der Ersparnis eines Teils der im zweiten Rechtszug angefallenen Gerichtsgebühren hingewiesen.
III.
Der Antrag auf vorläufige Einstellung der Zwangsvollstreckung ist zurückzuweisen, da die besonderen Voraussetzungen der §§ 707, 719 ZPO nicht dargelegt sind und die Berufung nach vorstehenden Ausführungen keine Erfolgsaussicht hat.