Das Verkehrslexikon
Kammergericht Berlin Beschluss vom 10.02.2014 - 3 Ws (B) 12/14 - 122 Ss 2/14 - Fahreridentifikation beim Car-Sharing
KG Berlin v. 10.02.2014: Zur Fahreridentifikation beim Car-Sharing
Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 10.02.2014 - 3 Ws (B) 12/14 - 122 Ss 2/14) hat entschieden:
Ausreichende Feststellungen zum Kfz-Führer zur Tatzeit sind nicht gegeben, wenn das Amtsgericht hat es versäumt, in den schriftlichen Urteilsgründen die Möglichkeit zu erörtern, der Betroffene könnte seinen Führerschein (mit der ID) an eine andere Person weitergegeben und dieser auch die das Starten des Motors ermöglichende PIN mitgeteilt haben. Indem das Gericht bekundet, "eine nachvollziehbare Erklärung, wie eine dritte Person das Fahrzeug geführt haben könnte", sei "nicht ersichtlich", macht es vielmehr deutlich, dass es diesen alternativen Geschehensablauf in seine Überlegungen gar nicht einbezogen hat.
Siehe auch Täteridentifikation - Feststellungen zum Fahrzeugführer und Carsharing
Gründe:
Das Amtsgericht Tiergarten hat den Betroffenen wegen fahrlässiger Zuwiderhandlung gegen §§ 41 Abs. 2 (richtig: Abs. 1 i.V.m. Anlage 2 lfd. Nr. 49, Zeichen 274), 49 (zu ergänzen: Abs. 3 Nr. 4) StVO nach § 24 StVG zu einer Geldbuße in Höhe von 160,00 Euro verurteilt, nach § 25 Abs. 1 StVG ein Fahrverbot von einem Monat gegen ihn angeordnet und nach § 25 Abs. 2 a StVG eine Bestimmung über dessen Wirksamwerden getroffen. Die gegen diese Entscheidung gerichtete, nach § 79 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 OWiG zulässige Rechtsbeschwerde des Betroffenen, mit der er die Verletzung sachlichen Rechts rügt, hat Erfolg.
Das Amtsgericht hat seine Überzeugung, der Betroffene, der sich zur Sache nicht eingelassen hat, habe das Fahrzeug geführt und sei mithin Täter der ihm vorgeworfenen Ordnungswidrigkeit, wie folgt begründet:
"Die Tatfotos Blatt 2 bis 4 der Akte wurden in Gegenwart des Betroffenen in der Hauptverhandlung in Augenschein genommen, diesbezüglich erfolgt Verweis gemäß §§ 71 OWiG, 267 Abs. 1 Satz 3 StPO. Das Tatfoto ist von schlechter Qualität, grob gekörnt und unscharf, es würde den Betroffenen als Fahrzeugführer nicht erkennen lassen, jedoch auch nicht ausschließen, es ist jedenfalls zur Identifizierung des Betroffenen als Fahrzeugführer ungeeignet. Blatt 6 der Akte wurde in der Hauptverhandlung als Urkunde verlesen, es handelt sich um die schriftliche Mitteilung des Fahrzeughalters des Pkw ..., der Drive Now GmbH & Co KG. Dort ist Folgendes vermerkt: Verursacher der Verkehrsordnungswidrigkeit am 15.02.2013 20.44 Uhr war: P... . Kein eingetragener zweiter Mieter.
Es ist gerichtsbekannt, dass es sich bei Drive Now um ein Carsharingangebot des Automobilherstellers BMW sowie der Mietwagenfirma Sixt handelt. Bei diesem Modell ist die Nutzung frei geparkter Fahrzeuge im Stadtgebiet mit Minutentaktung möglich. Die Anmietung des Fahrzeugs geschieht, indem man in der Nähe seines aktuellen Standortes z. B. mittels Smartphone ein zur Verfügung stehendes Fahrzeug sucht. Dieses kann dann 15 Minuten lang reserviert werden. Ist der Mieter am fraglichen Fahrzeug angekommen, wird ein in seinen Führerschein eingeklebter Chip an einen Sensor in der Windschutzscheibe des Fahrzeugs eingelesen. Der Wagen öffnet sich sodann, und erst nach Eingabe eines PIN-Codes kann das Fahrzeug gestartet werden. Die Abmeldung vom Fahrzeug verläuft genauso. Ausweislich der Mitteilung des Fahrzeughalters ist der Betroffene alleine als Mieter registriert. Dies bedeutet, dass das Fahrzeug ... nur mittels des Führerscheins des Betroffenen sowie der ihm bekannten PIN-Nummer in Betrieb genommen werden konnte und auch nur so wieder abgemeldet werden konnte. Ausweislich des Tatfotos Blatt 2 befindet sich jedenfalls kein Beifahrer im Pkw. Der Betroffene hat in der Hauptverhandlung keine Angaben gemacht. Dem Gericht haben sich nach dem vorliegenden Sachverhalt keine berechtigten Zweifel hinsichtlich der Fahrzeugführereigenschaft des Betroffene aufgedrängt, da das Fahrzeug lediglich mit dem Führerschein des Betroffenen und dem ihm bekannten PIN-Code in Betrieb genommen und auch nur so wieder abgemeldet werden kann, eine weitere Person ist im Fahrzeug nicht erkennbar. Eine nachvollziehbare Erklärung, wie eine dritte Person das Fahrzeug geführt haben könnte, ist nicht ersichtlich, es ist daher von der Fahrzeugführereigenschaft des Betroffenen auszugehen."
Diese Beweiswürdigung ist in Bezug auf die Annahme, der Betroffene habe zur Tatzeit das Kraftfahrzeug geführt, unzureichend. Aufgrund ihrer Lückenhaftigkeit ermöglicht sie dem Senat als Rechtsbeschwerdegericht nicht die gebotene Überprüfung.
Zwar ist die Beweiswürdigung Sache des Tatrichters, dessen Überzeugungsbildung das Rechtsbeschwerdegericht nur darauf prüft, ob sie auf rechtsfehlerhaften Erwägungen beruht. Dies ist namentlich der Fall, wenn sie mit gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen oder unbezweifelbarem Erfahrungswissen unvereinbar ist, Widersprüche oder sonstige Verstöße gegen die Gesetze der Logik enthält oder Lücken aufweist, sich insbesondere nicht mit nahe liegenden alternativen Geschehensabläufen befasst, obwohl sich dies nach dem Beweisergebnis aufdrängt (vgl. BGH NJW 2007, 384). Zwar obliegt es seinerseits der richterlichen Beweiswürdigung, ob ernsthafte Möglichkeiten eines derart anderen Geschehensablaufs bestehen. Ob das Tatgericht die Alternativen erkannt und fehlerfrei gewürdigt hat, unterliegt jedoch der Nachprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht (vgl. Sander in Löwe-Rosenberg, StPO 26. Aufl., § 261 Rn. 49).
Nach diesem eingeschränkten Prüfungsmaßstab ist die Beweiswürdigung des Amtsgerichts lückenhaft. Sie belegt nicht, dass der Betroffene das Fahrzeug zur Tatzeit geführt hat. Zwar müssen die Schlussfolgerungen des Tatgerichts nur möglich, nicht aber zwingend sein. Der Tatrichter muss sich aber jedenfalls mit nahe liegenden alternativen Geschehensabläufen befassen, wenn das Beweisergebnis dazu Anlass gibt. Das ist hier der Fall. Das Amtsgericht hat es nicht nur versäumt, in den schriftlichen Urteilsgründen die Möglichkeit zu erörtern, der Betroffene könnte seinen Führerschein (mit der ID) an eine andere Person weitergegeben und dieser auch die das Starten des Motors ermöglichende PIN mitgeteilt haben. Indem es bekundet, "eine nachvollziehbare Erklärung, wie eine dritte Person das Fahrzeug geführt haben könnte", sei "nicht ersichtlich", macht es vielmehr deutlich, dass es diesen alternativen Geschehensablauf in seine Überlegungen gar nicht einbezogen hat. Auf diesem Erörterungsmangel beruht das Urteil, denn es ist nicht auszuschließen, dass das Amtsgericht zu einer anderen Beurteilung der Fahrereigenschaft gelangt wäre, wenn es diese alternative Möglichkeit erwogen hätte.
Es ist nicht auszuschließen, dass in einer neuen Hauptverhandlung weitere Feststellungen getroffen werden können. Denkbar ist zunächst, dass das Beweisfoto mit Hilfe eines anthropologischen Sachverständigen zum Nachweis der Täterschaft führt. Zumindest in Betracht zu ziehen ist aber auch, dass das Gericht die Überzeugung, der Betroffene sei zur Tatzeit der Fahrer gewesen, aus weiteren Umständen gewinnt, etwa der Vertragswidrigkeit der Weitergabe von ID und PIN oder besonders gravierender Folgerisiken dieses (möglichen) Vertragsbruchs, zum Beispiel einer namhaften Vertragsstrafe. Hierzu bedürfte es der Aufklärung der Vertragsgestaltung.
Der Senat hebt daher das angefochtene Urteil nach § 79 Abs. 6 OWiG auf und verweist die Sache an eine andere Abteilung des Amtsgerichts zurück.