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OLG München Urteil vom 04.07.2014 - 10 U 4997/13 - Kollision zwischen Linksabbieger und entgegenkommendem Radfahrer
OLG München v. 04.07.2014: Zur Haftung bei Kollision zwischen Linksabbieger und entgegenkommendem Radfahrer
Das OLG München (Urteil vom 04.07.2014 - 10 U 4997/13) hat entschieden:
Kollidiert ein nach links abbiegendes Kraftfahrzeug unter Verletzung des Vorfahrtsrechts mit einem entgegenkommenden und nicht den vorgeschriebenen Radweg benutzenden Fahrradfahrer, so ist der Schaden des Fahrradfahrers unter Berücksichtigung seines Mitverschuldens lediglich in Höhe von drei Vierteln ersatzfähig.
Siehe auch Kollisionen zwischen Linksabbieger und entgegenkommendem Geradeausfahrer und Radfahrer-Unfälle
Gründe:
A.
Der Kläger macht gegen die Beklagten Ansprüche auf Schadensersatz, Schmerzensgeld und Feststellung der Haftung für künftige Schäden aus einem Verkehrsunfall geltend. Hinsichtlich des Parteivortrags und der tatsächlichen Feststellungen erster Instanz wird auf das angefochtene Urteil vom 08.11.2013 (Bl. 116/122 d. A.) Bezug genommen (§ 540 I 1 Nr. 1 ZPO).
Das LG München I hat nach Beweisaufnahme ein Zwischenurteil (gemäß § 304 I ZPO über den Grund) erlassen und der Klage insoweit stattgegeben, dass die Ansprüche des Klägers aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall dem Grunde nach (in voller Höhe) gerechtfertigt seien.
Hinsichtlich der Erwägungen des Landgerichts wird auf die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils Bezug genommen.
Gegen dieses den Beklagten am 21.11.2013 zugestellte Urteil haben die Beklagten mit einem beim Oberlandesgericht München am 19.12.2013 eingegangenen Schriftsatz Berufung eingelegt (Bl. 124/125 d. A.) und diese mit einem beim Oberlandesgericht München am 21.01.2014 eingegangenen Schriftsatz (Bl. 128/132 d. A.) begründet.
Die Beklagten beantragen,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils festzustellen, dass die Ansprüche des Klägers aus dem Verkehrsunfall vom 09.02.2008 in Grünwald dem Grunde nach zu 75 Prozent gerechtfertigt seien.
Ein Abweisungsantrag im Übrigen wurde nicht ausdrücklich gestellt.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Der Senat hat in mündlicher Verhandlung ergänzende Erklärungen des Klägers entgegen genommen und Lichtbilder vorgehalten.
Ergänzend wird auf die vorgenannte Berufungsbegründungsschrift, die Berufungserwiderung vom 07.04.12014 (Bl. 143/146 d. A.), sowie die Sitzungsniederschrift vom 23.05.2014 (Bl. 147/150 d. A.) Bezug genommen.
B.
Die statthafte, sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.
I.
Das Landgericht hat zwar - von der Berufung auch nicht angegriffen - zu Recht Ansprüche des Klägers auf Schadensersatz und Schmerzensgeld dem Grunde nach bejaht, jedoch zu Unrecht eine uneingeschränkte, nicht durch Mitverursachungsanteile oder Mitverschulden verringerte Ersatzpflicht der Beklagten festgestellt.
a) Da der Kläger bei dem Zusammenstoß mit dem Fahrzeug der Beklagten zu 2) durch dieses verletzt wurde, besteht grundsätzlich ein Anspruch aus § 7 I StVG i. Verb. m. § 115 I 1 Nr. 1, 4 VVG und angesichts des Verschuldens der Beklagten zu 2) auch aus §§ 823 I BGB, 18 I StVG.
Ansprüche des Klägers sind nicht deshalb ausgeschlossen, weil der Unfallschaden von ihm durch ein für die Beklagte zu 2) unabwendbares Ereignis (§ 17 III 1 StVG) wenigstens ganz überwiegend verursacht oder verschuldet wurde. Der Verursachungsbeitrag der Beklagten zu 2) kann nicht vernachlässigt werden (§§ 17 I StVG/254 I BGB), übersteigt vielmehr den des Klägers bei weitem.
b) Der Senat hält lediglich die erstgerichtliche Bewertung der Haftungsanteile für unzutreffend. Ergänzend ist folgendes auszuführen:
1. Nach den Feststellungen des Senats, insoweit den zutreffenden Ausführungen des Ersturteils folgend, hat die Beklagte zu 2) unstreitig beim Abbiegen nach links aus nicht nachvollziehbaren Gründen den auf seiner Fahrbahn mit dem Fahrrad entgegenkommenden Kläger übersehen und dessen Vorfahrt verletzt. Dieser Verkehrsverstoß (§ 9 III S. 1 StVO, BKatV, Anlage zu § 1 I, Nr. 39.1., Tabelle 4) wäre bei Anwendung der im Verkehr erforderlichen, jedem Kraftfahrer möglichen und zumutbaren Sorgfalt ohne weiteres vermeidbar gewesen (EU 5 = Bl. 120, unter „Entscheidungsgründe“, 3. Abs. ; Terminsverfügung v. 18.02.2014, Bl. 139/140 d. A., unter „Hinweise“, b).
Für den Kläger war der Unfall technisch unvermeidbar (EU 6 = Bl. 121, 1. Abs.), er hatte jedoch als Radfahrer nicht den vorgeschriebenen Radweg benutzt (EU 6 = Bl. 121 d. A., 3. Abs.) und damit selbst Straßenverkehrsvorschriften verletzt (§ 2 IV S. 2 StVO, BKatV, Anlage zu § 1 I, Nr. 7.1.). Dieser Verstoß wäre ebenfalls unter Anwendung der im Straßenverkehr erforderlichen Sorgfalt vermeidbar gewesen (EU 6 = Bl. 121, 3. Abs. ; BB 4 = Bl. 131 d. A.).
Zuletzt trug der Kläger zum Unfallzeitpunkt keinen Fahrradhelm, wozu jedoch auch keine rechtliche Verpflichtung bestand (EU 6 = Bl. 121, 2. Abs. ; BB 5 = Bl. 132, letzter Abs.).
Der Senat ist nach § 529 I Nr. 1 ZPO an die Beweiswürdigung des Erstgerichts gebunden, weil keine konkreten Anhaltspunkte für die Unrichtigkeit der Beweiswürdigung vorgetragen werden.
2. Darüber hinaus war festzustellen: Der Kläger hat im Berufungsverfahren behauptet, der damalige beiderseitige, an der aus seiner Fahrtrichtung linken Fahrbahnseite eingerichtete Radweg habe erhebliche Gefahren für Radfahrer und Fußgänger zur Folge gehabt, jedenfalls entgegen der üblichen Fahrtrichtung sei wegen zahlreicher Seitenstraßen und der deutlichen Abgrenzung vom Straßenrand ein Befahren nicht einfach, sondern hindernisreich und gefahrgeneigt gewesen. Deswegen habe mangels besonderer Bedürfnisse des übrigen Verkehrs keine Benutzungspflicht bestanden, ja nicht einmal angeordnet werden dürfen (BE 2/4 = Bl. 144/146 d. A.).
In persönlicher Erklärung, nach Vorhalt der Lichtbilder des Sachverständigengutachtens (Bl. 91/105 d. A., Anlagen 7 - 18), hat der Kläger zugestanden, dass ihm der auf seiner Fahrtstrecke liegende Radweg ebenso bekannt gewesen sei, wie die Verpflichtung, diesen zu benutzen. Weiterhin bestätigte er, entgegen der Auffassung des Erstgerichts (EU 6 = Bl. 121 d. A., 3. Abs.), dass der Radweg in gutem Zustand, ohne weiteres zu befahren, und zunächst eher als die gegenüberliegende Fahrbahnseite erreichbar gewesen sei. Er habe die Benutzung der Straße für vorteilhaft angesehen, weil dort weniger Seitenstraßen und keine spielenden Kinder oder Kinderwägen sich störend hätten bemerkbar machen können, was er selbst - jetzt im Rückblick - als weniger gute Idee ansehe (Protokoll v. 23.05.2014, S. 3 = Bl. 149 d. A., drittletzter Abs.).
Zuletzt hat der Kläger vorgebracht und mit Lichtbildern belegt, dass die Gemeinde Grünwald zwischenzeitlich die vorfallsgegenständliche Verkehrsbeschilderung geändert und die Radwegbenutzung freigestellt habe, daraus ergebe sich, dass die verpflichtende Nutzungsregelung von Anfang an unzweckmäßig gewesen und als verfehlt empfunden worden sei (Protokoll v. 23.05.2014, S. 3 = Bl. 149 d. A., 4. Abs.).
Insoweit war die Beweiswürdigung des Erstgerichts (EU 5/6 = Bl. 120/121 d. A., unter „Entscheidungsgründe“, 2. Abs., sowie vorl. Abs.), was die Berufungsbegründung zutreffend geltend macht, zu berichtigen: Der Kläger trägt an der Unfallentstehung und den Unfallfolgen ein erhebliches Mitverschulden, worauf der Senat bereits ausführlich hingewiesen hatte (Terminsverfügung v. 18.02.2014, Bl. 139/140 d. A., unter „Hinweise“, a), c).
c) Der Senat hält danach eine Begrenzung der vom Erstgericht festgestellten Ansprüche des Klägers wegen seines Mitverschuldens auf drei Viertel für angemessen.
1. Die Radwegsbenutzungspflicht (auch für links verlaufende Radwege) beruht auf dem unfallverhütenden Entmischungsgrundsatz (König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl., § 2 StVO Rz. 67a, b), weshalb selbst eine Ausnahmegenehmigung nach § 46 I S. 1 Nr. 1 StVO im Hinblick auf etwaige allgemeine Gefahren, die die Benutzung des Radweges gegenüber der Fahrbahnbenutzung mit sich bringen kann, allenfalls bei besonderen, in Person des Radfahrers liegenden oder sonst einen besonders gelagerten Einzelfall begründenden Umständen in Betracht kommen kann (VG Berlin, NZV 1989, 167). Durch eine weitgehende Trennung der Verkehrsarten sollen in erster Linie die für Radfahrer bestehenden spezifischen Gefährdungen ausgeschaltet oder wenigstens gemindert, jedoch auch besondere Gefahrenlagen für Kraftfahrer bekämpft werden (VGH München, BeckRS 2013, 50816, Rz. 4, 11), die sich mit Radfahrern auf der Fahrbahn - wegen des Verbots der Fahrbahnnutzung unerwartet - auseinandersetzen müssen. Dies gilt auch für die unfallgegenständliche Gefahr, beim Abbiegen von einer Vorfahrtstraße den entgegenkommenden Verkehr zu übersehen, weil dort mit einem Radfahrer nicht gerechnet wurde (anders OLG Köln, NZV 1994, 278, allerdings für einen Einbiegeverstoß gegenüber einem Rennradfahrer, ohne nachvollziehbare Begründung, und entgegen BGH NZV 2007, 354/355, zum allgemeinen Zweck der Verkehrsvorschriften - Gefahrenabwehr und Unfallverhütung).
Ein Ausschluss der Benutzungspflicht wegen Unbenutzbarkeit des Radwegs (BGH NZV 1995, 144, wegen Eis- und Schneebelags; OLG Düsseldorf NZV 1992, 290, bei Unzumutbarkeit wegen tiefen Schnees, Eis oder Löchern, nicht jedoch bei bloß allgemeinen Gefahren und Widrigkeiten, die die Benutzung des Radweges gegenüber der Fahrbahnbenutzung mit sich bringen kann; OLG Frankfurt, NJW-RR 2012, 276/277) lag nach den Feststellungen des Senats nicht vor, und wurde zuletzt auch nicht mehr geltend gemacht.
Angesichts der übrigen unstreitigen Tatumstände war die Radwegbenutzung für den Kläger auch nicht unzumutbar, der Wunsch nach Bequemlichkeit und schnellerem Vorwärtskommen schafft einerseits keine Rechtfertigung für sein Verhalten, zeigt andererseits eine bewusste und gewollte Missachtung der Verkehrsvorschriften. Insgesamt ergibt sich hieraus ein gewichtiger Verstoß, worauf der Senat bereits hingewiesen hatte (Terminsverfügung v. 18.02.2014, Bl. 139/140 d. A., unter „Hinweise“, a), c). Ohne Belag bleibt allerdings, das der Kläger keinen Fahrradhelm getragen hat (zuletzt OLG Celle r + s 2014, 196; Terminsverfügung a.a.O.; nun auch BGH, Urt. v. 17.06.2014, VI ZR 281/13, http://juris.bundesgerichtshof.de/cgi-bin/rechtsprechung/list.py?Gericht=bgh&Sort=3&Art=pm).
2. Den unstreitig krassen Verkehrsverstoß der Fahrerin des Beklagtenfahrzeugs (Terminsverfügung v. 18.02.2014, Bl. 139/140 d. A., unter „Hinweise“, b), c) bewertet das Gericht mit 75 Prozent gegenüber dem Fehlverhalten des Klägers (25 Prozent). Hierbei ist ergänzend anzumerken, dass auch die BKatV den jeweiligen Verstößen ein ähnliches Gewichtsverhältnis zuweist (Nr. 39.1., Tabelle 4: 85,- €, Nr. 7.1./7.1.1. 20,-/25,- €). Hierauf beruht Ziffer 1. I. der Urteilsformel.
3. Aus der Abänderung des Tenors erster Instanz folgend war - zur Klarstellung - die Klage im Übrigen abzuweisen, Ziffer 1. II. der Urteilsformel. Zwar haben die Berufungsführer ausdrücklich keinen entsprechenden Antrag gestellt, dieser ergibt sich jedoch notwendig aus dem erfolgreichen Abänderungsbegehren.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 I ZPO. Die Berufungsführer haben ihre Berufung auf einen Mithaftungsanteil von 25 Prozent beschränkt und insoweit in vollem Umfang obsiegt. Hierauf beruht Ziffer 2. der Urteilsformel, das Ersturteil bedarf als Zwischenurteil keiner Kostenentscheidung.
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit dieses Urteils beruht auf § 708 Nr. 10, 711 ZPO, und betrifft allein die Kosten des Berufungsverfahrens. Das Ersturteil hat - auch unter Berücksichtigung der Abänderung - keinen vollstreckungsfähigen Inhalt.
IV.
Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, dass die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.