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OLG Frankfurt am Main Beschluss vom 13.10.2014 - 3 U 97/14 - Alleiniges Verschulden eines auf einem Feldweg rückwärtsfahrenden Traktorfahrers

OLG Frankfurt am Main v. 13.10.2014: Alleiniges Verschulden eines auf einem Feldweg rückwärtsfahrenden Traktorfahrers für Überfahren einer auf einem Liegerade befindlichen gehbehinderten Person


Das OLG Frankfurt am Main (Beschluss vom 13.10.2014 - 3 U 97/14) hat entschieden:
Ein öffentlich zugänglicher Feldweg ist kein "gefahrträchtiges Gebiet", von dem sich gehandicapte Personen fernhalten müssen. Von einem Traktorfahrer, der einen solchen Feldweg benutzt, ist eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber sich dort möglicherweise befindender anderer Personen zu verlangen.


Siehe auch Sorgfaltsanforderungen bei Feld- und Waldwegen und Radfahrer-Unfälle


Gründe:

I.

Die Klägerin verlangt materiellen Schadenersatz, ein Schmerzensgeld und die Feststellung der Ersatzpflicht für weiteren Schaden, weil sie von dem Beklagten zu 1. mit einem Traktor angefahren wurde, während sie sich mit ihrem elektrischen Liegerad auf einem Feldweg befand. Die Beklagte zu 2. ist der Haftpflichtversicherer des Traktors.

Wegen des Unfallhergangs und des Sach- und Streitstands im Einzelnen wird auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils verwiesen, mit dem das Landgericht nach einer Beweisaufnahme den Leistungsanträgen dem Grunde nach und dem Feststellungsantrag insgesamt stattgegeben hat. Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, der Beklagte zu 1. hafte für den Unfall aus Delikt, weil er beim Zurückfahren mit dem Traktor gegen die Sorgfaltspflichten aus § 9 V StVO verstoßen habe. Eine Mithaftung der Klägerin komme nicht infrage, weil sie dem Traktor nach dem eingeholten Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig hätte ausweichen können. Dem Umstand, dass der Feldweg von einer Richtung her nicht für Fahrräder freigegeben gewesen sei, komme keine ursächliche Bedeutung zu.

Hiergegen richtet sich die zulässige Berufung der Beklagten, mit der sie die Abweisung der Klage unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vortrags weiterverfolgen. Wegen der Begründung wird auf die Berufungsbegründung verwiesen.

Die Klägerin verteidigt das angefochtene Urteil.


II.

Das Landgericht hat der Klage zu Recht dem Grunde nach - bzw. im Hinblick auf die Feststellung insgesamt - stattgegeben. Der Beklagte zu 1. hat gemäß § 823 I BGB - die Beklagte zu 2. als Versicherer nach § 115 I 1 Nr. 1 VVG - zu 100 % für den der Klägerin entstandenen Schaden einzustehen. Die Berufungsangriffe können dieses Ergebnis nicht infrage stellen.

Unabhängig davon, ob § 9 V StVO, der die besonderen Pflichten des Rückwärtsfahrenden konkretisiert, unmittelbar anwendbar ist, weil sich der Unfall auf einem Feldweg ereignet hat, für den die Geltung der StVO zweifelhaft sein könnte, hat der Beklagte zu 1. den Zusammenstoß mit der Klägerin allein verschuldet. Es liegt auf der Hand, dass bei jedem Rückwärts-Fahrmanöver mit einem Traktor, der noch dazu mit Sprühauslegern und einem Anhänger ausgestattet ist, ganz besondere Sorgfaltspflichten einzuhalten sind, damit andere Personen nicht zu Schaden kommen. Das gilt jedenfalls dann, wenn sich - wie hier - der Fahrer mit dem Traktor nicht mehr auf dem Feld, sondern auf einem öffentlich zugänglichen Feldweg, befindet und nicht sicher ausgeschlossen werden kann, dass sich dort andere Personen aufhalten. Der Beklagte zu 1. hätte nicht darauf vertrauen dürfen, dass er das Fahrmanöver ohne Gefährdung anderer durchführen konnte. Insbesondere durfte er nicht davon ausgehen, dass er sich allein auf dem Feldweg befand. Nach den Feststellungen des Sachverständigen A muss der Beklagte zu 1. geradezu blindlings rückwärts gefahren sein, nachdem er die Klägerin auf ihrem Liegerad über eine Strecke von 50 m nicht wahrgenommen haben will. Der Umstand, dass sich die Klägerin in seinem "toten Winkel" befunden haben soll, vermag den Beklagten zu 1. ebenfalls nicht zu entlasten. Wenn er damit rechnen musste, dass er den Bereich hinter dem Traktor nicht vollständig einsehen konnte, hätte er sich durch mehrfaches Rückschauen oder auch Anhalten und Absteigen davon überzeugen müssen, dass die weitere Rückwärtsfahrt ohne Gefährdung anderer möglich war.

Es kommt hinzu, dass der Beklagte zu 1. den Zeugen B bemerkt hatte, der "winkte und pfiff". Wenn der Beklagte zu 1. aus dem Verhalten des Zeugen nicht ohnedies auf eine unmittelbar bevorstehende Gefahr schließen musste, hat ihm das Auftauchen des Zeugen jedenfalls bewusst gemacht, dass er nicht allein auf dem Feldweg war, was seine Sorgfaltspflichten noch weiter gesteigert hat.

Da der Beklagte zu 1. demnach schon nach allgemeinem Deliktsrecht haftet, kann auf sich beruhen, in welchem Maße die von dem Traktor ausgehende Betriebsgefahr im Rahmen einer Gefährdungshaftung nach StVG anzurechnen ist.

Auch auf die Frage, inwieweit das mit einem elektrischen Hilfsmotor ausgestattete Liegerad der Klägerin als Kraftfahrzeug anzusehen ist, kann auf sich beruhen.

Ein Mitverschulden der Klägerin hat das Landgericht zu Recht nicht angenommen.

Nach den auch insoweit überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen A in seinem Gutachten vom 7.11.2013 war es der Klägerin in der ihr zur Verfügung stehenden Zeit weder möglich, dem rückwärtsfahrenden Traktor auf dem Liegerad auszuweichen, noch hätte sie es rechtzeitig schaffen können, sich von den Pedalen abzuschnallen, um das Rad zu verlassen.

Entgegen der Auffassung der Beklagten hat das Landgericht dabei zutreffend auf einen Abstand von 20 - 25 m zwischen der Klägerin und dem rückwärtsfahrenden Traktor abgestellt. Soweit der Traktor noch mehr als 25 m von der Klägerin entfernt war, musste diese ihn nicht als potentielle Gefahr wahrnehmen, weil sie noch darauf vertrauen durfte, dass sich der Beklagte zu 1. bei fortgesetzter Rückwärtsfahrt ihr nur vorsichtig näheren und nötigenfalls stoppen würde.

Eine andere Beurteilung ergibt sich auch dann nicht, wenn man die körperliche Eingeschränktheit der Klägerin durch ihre Hemiparese berücksichtigt. Nach den Feststellungen des Sachverständigen A, die das Landgericht zutreffend gewürdigt hat, wäre es selbst einer gesunde Person in den berechneten elf Sekunden nicht möglich gewesen, sich von den Pedalen abzuschnallen, vom Rad abzusteigen und sich aus der Gefahrenzone wegzubewegen.

Für abwegig hält der erkennende Senat die Auffassung der Beklagten, die Klägerin hätte aufgrund ihrer körperlichen Behinderung ganz davon absehen müssen, den Feldweg aufzusuchen. Ein öffentlich zugänglicher Feldweg ist kein "gefahrträchtiges Gebiet", von dem sich gehandicapte Personen fernhalten müssen. Genauso abwegig wäre es, Kindern, älteren oder gehbehinderten Personen vorzuwerfen, dass sie ein solches Gebiet aufsuchen. Anders betrachtet ist gerade von einem Traktorfahrer, der einen öffentlich zugänglichen Feldweg benutzt, eine gesteigerte Aufmerksamkeit solchen Personen gegenüber zu erwarten. Überdies ist zu beachten, dass sich die Klägerin in Begleitung ihres Ehemannes - des Zeugen B - befand, dem es trotz normaler Mobilität ebenfalls nicht gelang, den Beklagten zu 1. auf die drohende Gefahr hinzuweisen.

Ein Mitverschulden der Klägerin ergibt sich auch nicht daraus, dass sie möglicherweise einen Verkehrsverstoß beging, als sie mit ihrem Liegerad vom O1 Festplatz her kommend eine Route benutzte, die für Fahrräder nicht freigegeben war. Wie das Landgericht zutreffend feststellt, reduziert sich ein etwaiges Fehlverhalten der Klägerin darauf, dass sie verbotswidrig eine bestimmte Wegstrecke nutze. Da es aber legal möglich gewesen ist, von anderer Seite her bis zur Unfallstelle mit einem Fahrrad zu gelangen, kann der Klägerin dies nicht angelastet werden. Der Unfall steht nämlich in keinem ursächlichen Zusammenhang mit dem infrage kommenden verbotswidrigen Verhalten.

Soweit die Beklagten die Klageabweisung schließlich damit begründen wollen, dass die Klägerin ihre Schadenersatzansprüche trotz eines Hinweises nicht ausreichend substantiiert habe, greift auch dies nicht durch.

Das Landgericht hat sich mit der Höhe des Schadenersatzes in dem angefochtenen Urteil - folgerichtig - nicht befasst. Allerdings ist es inzident davon ausgegangen, dass der Klägerin über die von der Beklagten zu 2. bereits geleisteten 6.000,- € hinaus weiterer Schadenersatz zustehen kann. Dass dies auf der Grundlage der bisherigen Darlegungen der Klägerin auch nach weiterer Beweisaufnahme unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt möglich ist, ist von den Beklagten weder dargelegt noch ersichtlich. Der bisher gezahlte Betrag deckt schon den Sachschaden am Liegerad und das verlangte Schmerzensgeld nicht vollständig ab. Im Übrigen wäre es der Klägerin auch im sich anschließenden Betragsverfahren vor dem Landgericht möglich, ihre Ansprüche im Hinblick auf die Höhe des verlangten Schadenersatzes weiter zu substantiieren.

Den Beklagten bleibt nachgelassen, zum beabsichtigten Vorgehen binnen zweier Wochen ab Zugang dieses Beschlusses Stellung zu nehmen.

Es wird darauf hingewiesen, dass bei Rücknahme der Berufung Gerichtsgebühren in nicht unerheblicher Höhe vermieden werden können.