Das Verkehrslexikon
Kammergericht Berlin Beschluss vom 03.12.2009 - 12 U 32/09 - Kollision zwischen einem Rechtsabbieger und einem unberechtigt die Busspur benutzenden Geradeausfahrers
KG Berlin v. 03.12.2009: Zur Haftung bei einer Kollision zwischen einem Rechtsabbieger und einem unberechtigt die Busspur benutzenden Geradeausfahrers
Das Kammergericht Berlin (Beschluss vom 03.12.2009 - 12 U 32/09) hat entschieden:
- Bei Unfällen zwischen Abbiegern und Fahrzeugen, die unberechtigt einen Sonderfahrstreifen ("Busspur") benutzen ist zu unterscheiden, ob der Abbieger dem Gegenverkehr oder dem gleichgerichteten Verkehr angehört. Abbieger aus dem Gegenverkehr müssen entgegenkommende Fahrzeuge durchfahren lassen (§ 9 Abs. 3 Satz 1 StVO), und zwar unabhängig von deren Fahrstreifenwahl oder deren - für den Abbieger nicht erkennbare - Berechtigung, einen bestimmten Fahrstreifen zu benutzen.
Im gleichgerichteten Verkehr hingegen genießen nach § 9 Abs. 3 Satz 2 StVO nur die berechtigten Benutzer eines Sonderfahrstreifens Durchfahrtvorrang.
- Benutzt der Geradeausfahrer unberechtigt den Sonderfahrstreifen und kollidiert er mit einem Rechtsabbieger, der ordnungsgemäß rechts neben der Busspur eingeordnet war, den rechten Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hatte und lediglich entgegen § 9 Abs. 1 Satz 4 StVO vor dem Abbiegen nicht ausreichend auf nachfolgenden Verkehr geachtet hat, so kommt die Haftung des nicht ordnungsgemäß eingeordneten Benutzer des Sonderfahrstreifens nach einer Quote von 2/3 in Betracht.
Siehe auch Sonderfahrstreifen - Busspur - Taxispur und Rechtsabbiegen
Gründe:
I.
Der Kläger macht Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche aus einem Verkehrsunfall vom 17. Juni 2008 gegen 15:15 Uhr auf der Kreuzung Lewishamstr./ Stuttgarter Platz in Berlin Charlottenburg geltend. Der Kläger befuhr mit seinem Motorrad mit dem amtlichen Kennzeichen B-A xx die Lewishamstraße und zwar unmittelbar vor der Kreuzung auf der äußerst rechten Spur, einer Sonderfahrspur, der dreispurigen Fahrbahn in Richtung Kantstraße. Der Beklagte zu 1) befuhr mit dem bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Fahrzeug BMW mit dem amtlichen Kennzeichen B-EN xx den mittleren Fahrstreifen der Lewishamstraße in Richtung Kantstraße und beabsichtigte, nach rechts in den Stuttgarter Platz einzubiegen. Der Kläger machte eine Gefahrenbremsung und stürzte. Es kam auf der Kreuzung zu einer Kollision beider Fahrzeuge. Die Beklagte zu 2) regulierte den Schaden des Klägers auf der Basis einer Schadensteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des Klägers.
Das Landgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme (Anhörung des Klägers und des Beklagten zu 1) sowie Vernehmung des Zeugen O) abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, die Ansprüche des Klägers seien durch Erfüllung erloschen, da die Schadensteilung nach den Verursachungsanteilen im Verhältnis von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des Klägers zu erfolgen habe.
Mit der gegen dieses Urteil gerichteten Berufung macht der Kläger geltend, das Landgericht habe zu Unrecht eine Haftungsquote von ¾ zu Lasten des Klägers angenommen (vgl. S. 3 der Berufungsbegründung) und rechtsfehlerhaft festgestellt, dass die Ansprüche des Klägers erloschen seien. Dabei habe das Landgericht die Beweislastregeln verkannt und eine fehlerhafte Beweiswürdigung vorgenommen. Die Schilderung des Beklagten zu 1), er habe den Fahrtrichtungsanzeiger betätigt und auf einen die Straße überquerenden Fußgänger gewartet, sei kein Beweis dafür, dass es sich nicht um eine bloße Schutzbehauptung handele. Die Aussage des Zeugen O sei hinsichtlich der Geschwindigkeit des Motorrades nicht ergiebig. Das Landgericht habe auch nicht berücksichtigt, dass der Kläger den rechten Fahrstreifen benutzt habe, da auf der Kreuzung ein Krankenwagen mit Blaulicht gestanden habe. Er habe den Fahrstreifen deshalb nicht unbefugt genutzt.
II.
Die Berufung hat keine Aussicht auf Erfolg, die Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordern keine Entscheidung des Berufungsgerichts, § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO.
Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung (§ 546 ZPO) beruht oder die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung rechtfertigen.
Beides ist nicht der Fall.
Zutreffend hat das Landgericht die Ansprüche des Klägers nach §§ 253 Abs. 2, 823 Abs. 1 BGB, 7 Abs. 1 StVG, 3 Nr. 1, 2 PflVG gegen die Beklagten aus dem Verkehrsunfall vom 17. Juni 2008 gemäß § 362 Abs. 1 BGB als erfüllt angesehen und nach Abwägung der Verschuldensanteile gemäß § 17 Abs. 1 und 2 StVG eine Haftungsquote von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des Klägers ermittelt (Soweit der Kläger auf S. 3 der Berufungsbegründung sich gegen seine Mithaftung nach einer Quote von ¾ wendet, geht dies an den Gründen der Entscheidung vorbei).
1. Es kann dahinstehen, ob der Beklagte zu 1) neben den Pflichten im Zusammenhang mit dem Rechtsabbiegen (§ 9 StVO) auch die Pflichten des § 7 Abs. 5 StVO (Fahrstreifenwechsel) zu beachten hatte. Das Landgericht ist jedenfalls zutreffend davon ausgegangen, dass der Beklagte zu 1) zwar nach rechts geblinkt, jedoch die zweite Rückschau versäumt hat. Demgegenüber hat sich der Kläger trotz des Blinkens nicht auf das Abbiegen des Beklagten zu 1) eingestellt und zudem unbefugt die Busspur benutzt. Dies steht aufgrund der vom Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme fest.
a) Nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO hat das Berufungsgericht seiner Entscheidung die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen.
aa) Dies ist nicht der Fall, wenn sich das Gericht des ersten Rechtszuges bei der Tatsachenfeststellung an die Grundsätze der freien Beweiswürdigung des § 286 ZPO gehalten hat und das Berufungsgericht keinen Anlass sieht, vom Ergebnis der Beweiswürdigung abzuweichen (vgl. Senat, Urteil vom 8. Januar 2004 – 12 U 184/02- KGR 2004, 269; vgl. auch KG (22. ZS), KGR 2004, 38= MDR 2004, 533; vgl. auch BGH, Urteil vom 9. März 2005 – VIII ZR 266/03 – NJW 2005, 1583).
§ 286 ZPO fordert den Richter auf, nach seiner freien Überzeugung zu entscheiden. Das bedeutet, dass er lediglich an Denk- und Naturgesetze sowie an Erfahrungssätze und ausnahmsweise gesetzliche Beweisregeln gebunden ist, ansonsten aber die im Prozess gewonnenen Erkenntnisse nach seiner individuellen Einschätzung bewerten darf. So darf er beispielsweise einer Partei mehr glauben als einem beeideten Zeugen (vgl. Thomas/ Putzo, ZPO, 30. Aufl. 2009, § 286 Rd 2a) oder trotz mehrerer bestätigender Zeugenaussagen das Gegenteil einer Beweisbehauptung feststellen (Zöller/ Greger, ZPO, 27. Aufl. 2009, § 286 Rn 13). Die leitenden Gründe und die wesentlichen Gesichtspunkte für seine Überzeugungsbildung hat das Gericht nachvollziehbar im Urteil darzulegen. Dabei ist es nicht erforderlich, auf jedes einzelne Parteivorbringen und Beweismittel ausführlich einzugehen; es genügt, dass nach der Gesamtheit der Gründe eine sachentsprechende Beurteilung stattgefunden hat (Senat, Urteil vom 12. Januar 2004 – 12 U 211/02 – DAR 2004, 223; Thomas/ Putzo, a.a.O., § 286 Rn 3,5).
bb) An diese Regeln der freien Beweiswürdigung hat sich das Landgericht im angefochtenen Urteil gehalten; der Senat folgt der Beweiswürdigung auch in der Sache.
So ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme sowie dem Akteninhalt die Überzeugung gewonnen hat, dass der Beklagte zu 1) bereits vor dem Abbiegen den rechten Blinker gesetzt und der Kläger die Busspur befahren hat, ohne dass dies aufgrund der Fahrt eines Wegerechte gemäß § 38 StVO in Anspruch nehmenden Krankenwagens erforderlich oder auch nur angemessen gewesen ist. Das Landgericht hat auf den Seiten 4-6 des angefochtenen Urteils dargelegt, dass und warum es zu dieser Überzeugung gelangt ist. Dies genügt den Anforderungen an eine der Zivilprozessordnung entsprechenden Beweiswürdigung. Der Senat folgt dieser Beurteilung. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass die nach § 286 ZPO erforderliche Überzeugung des Gerichts keine absolute Gewissheit und keinen Ausschluss jeder Möglichkeit des Gegenteils erfordert, sondern nur einen für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewissheit, also einen so hohen Grad von Wahrscheinlichkeit, dass er den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen (BGH NJW 2000, 953).
Daraus, dass der Kläger selbst das Beweisergebnis offenbar anders dahin bewerten will, dass das Setzen des Blinkers nicht bewiesen sei, folgt kein Rechtsfehler des Landgerichts; ein Verstoß gegen Beweisregeln oder Denk- und Naturgesetze wird in der Berufungsbegründung nicht aufgezeigt.
b) Soweit der Kläger in der Berufungsbegründung auf einen Anscheinsbeweis abstellt, ist dies für die Berufung ohne Belang, denn das Landgericht hat gerade keinen Anscheinsbeweis angenommen, sondern einen tatsächlichen Geschehensablauf nach der Beweisaufnahme festgestellt, insbesondere das Blinken durch den Beklagten zu 1).
Der Senat folgt dem Kläger auch nicht in Bezug auf den Hinweis, es könne nicht festgestellt werden, ob es sich bei diesem Vortrag um eine bloße Schutzbehauptung handele. Konkrete Anhaltspunkte, die gegen die Glaubwürdigkeit des Beklagten zu 1) und damit für eine bloße Schutzbehauptung sprechen, trägt der Kläger nicht vor.
Das Landgericht hat dargelegt, dass es die Sachverhaltsschilderung des Beklagten zu 1) zugrunde legt, ihm mithin Glauben schenkt. Dies ist nicht zu beanstanden, weil die Schilderung des Beklagten zu 1) durch die Aussage des Zeugen O gestützt wird. Zwar konnte dieser – wie der Kläger zutreffend angibt – nicht angeben, ob bereits vor dem Unfall der rechte Blinker am Beklagtenfahrzeug gesetzt war. Der Zeuge hat jedoch ausgesagt, dass der Blinker eingeschaltet gewesen sei, als er unmittelbar nach dem Unfall am BMW vorbeigefahren sei. Dass der Blinker erst nach dem Unfall vom Beklagten zu 1) gesetzt worden sei, behauptet der Kläger nicht, er bestreitet vielmehr überhaupt, dass ein Blinker geleuchtet habe.
Es ist auch nicht zu beanstanden, dass das Landgericht dem Kläger keinen Glauben geschenkt hat. Es hat dies auf Seiten 5/ 6 des Urteils nachvollziehbar begründet. Zudem hat der Kläger im Verlaufe des Prozesses den Unfallhergang unterschiedlich geschildert. Während er in der Klageschrift vorträgt, er habe kurz vor der Kreuzung einen Krankenwagen mit Blaulicht und Sirene bemerkt und sei deshalb auf den äußerst rechten Fahrstreifen gefahren, habe angehalten, den Krankenwagen passieren lassen und sei dann bei grünem Lichtzeichen langsam in die Kreuzung eingefahren, hat er in seiner persönlichen Anhörung am 11. Dezember 2008 erklärt, der Krankenwagen habe in der Mitte der Kreuzung gestanden und hätte aus seiner Sicht nach links fahren wollen, er sei dann rechts auf die Busspur gefahren, nachdem die Ampel auf Grün gesprungen sei. Als er gebremst habe, sei das Motorrad nach rechts gerutscht. Aufgrund dieser widersprüchlichen Schilderung ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht dem Kläger keinen Glauben geschenkt und vielmehr die Schilderung des Beklagten zu 1) zugrunde gelegt hat.
c) Da der Kläger rechtzeitig den rechten Blinker gesetzt hat, konnte sich der nachfolgende Verkehr auch hierauf einstellen. Es kommt deshalb nicht darauf an, dass der Beklagte zu 1) zunächst den Abzweig nach rechts in den Stuttgarter Platz passiert hat und erst an der zweiten Möglichkeit nach rechts abbiegen wollte. Das Abbiegen nach rechts war ersichtlich an dieser Stelle zulässig. Der Einwand des Klägers bezüglich des Ausmaßes der Schrägstellung des Beklagtenfahrzeugs geht fehl. Selbst wenn der Senat zu Gunsten des Klägers unterstellen würde, dass die Schrägstellung entsprechend der Skizze in der polizeilichen Ermittlungsakte zutreffend sein sollte, ergibt sich auch daraus eine leichte Schrägstellung, die dem Kläger eine unklare Verkehrssituation signalisieren musste.
2. a) Soweit der Kläger meint, eine Mithaftung für ihn komme unabhängig von der berechtigten Nutzung der Sonderfahrbahn nicht in Betracht, folgt dem der Senat nicht. Die vom Kläger angesprochene Rechtsprechung bezieht sich allein auf die Fälle des Begegnungsverkehrs (Linksabbieger kollidiert mit Geradeausfahrer, der unberechtigt den Sonderstreifen benutzt; vgl. Senat Urteil vom 3. Dezember 2007 – 12 U 191/07 – NZV 2008, 297). Diese Rechtsprechung findet entgegen der Ansicht des Klägers jedoch im gleichgerichteten Verkehr keine Anwendung. Im gleichgerichteten Verkehr genießen hingegen nur die berechtigten Benutzer der Busspur nach § 9 Abs. 3 Satz 3 StVO Durchfahrtvorrang vor Rechtsabbiegern (vgl. Booß VM 1991, 21; Jagow/ Burmann/ Heß, Straßenverkehrsrecht, 20. Auflage 2008, StVO § 9 Rn. 38; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 40. Auflage 2009, StVO § 9 Rn. 39; Senat Beschluss vom 22. Juni 2009 – 12 U 80/09). Ein Durchfahrtvorrang oder eine Berechtigung des Klägers, der unberechtigt die Busspur genutzt hat, bestand daher nicht.
b) Die Nutzung der Busspur durch den Kläger war unberechtigt. Denn es steht nach der Beweisaufnahme fest, dass der Kläger kein Wegerecht nach § 38 StVO zu beachten hatte, denn er hat nicht bewiesen, dass er einem Krankenwagen mit Blaulicht und Martinshorn den Weg frei machen musste. Insoweit kann auf die zutreffenden Ausführungen des Landgerichts auf S.5, 6 des angefochtenen Urteils Bezug genommen werden, die der Senat teilt.
c) Bei der Einordnung des Mitverschuldens des Klägers hat das Landgericht eine überhöhte Geschwindigkeit des Klägers nicht berücksichtigt, so dass die diesbezüglichen Ausführungen in der Berufungsbegründung unerheblich sind.
3. Zutreffend hat das Landgericht die Verteilung der Verschuldensanteile mit 1:2 zu Lasten des Klägers angenommen und insoweit zutreffend auf die Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 5. Juni 2000 – 12 U 9266/98 – KGR 2001, 244) verwiesen. In dieser Entscheidung hat der Senat bereits darauf hingewiesen, dass eine Haftungsverteilung von 1/3 zu 2/3 zu Lasten des unberechtigt den Sonderstreifen benutzenden Geradeausfahrers in Betracht kommt, wenn der Rechtsabbieger beweisen kann, dass er vor dem beabsichtigten Abbiegen den rechten Fahrtrichtungsanzeiger bestätigt hat. Soweit sich der Kläger gegen eine Mithaftung nach einer Quote von ¾ wehrt, ist dies nicht nachvollziehbar und vielleicht irrtümlich erfolgt; jedenfalls findet eine solche Quote keine Grundlage in der angefochtenen Entscheidung.
4. Die vom Landgericht vorgenommene Berechnung sowie die Höhe des Schmerzensgeldes sind mit der Berufung nicht angegriffen worden.
III.
Es wird angeregt, die Fortführung der Berufung zu überdenken.
Es ist beabsichtigt, den Streitwert für das Berufungsverfahren auf 8.454,43 EUR festzusetzen.