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Amtsgericht Burgwedel Urteil vom 02.10.2014 - 73 C 1269/14 -

AG Burgwedel v. 02.10.2014:


Das Amtsgericht Burgwedel (Urteil vom 02.10.2014 - 73 C 1269/14) hat entschieden:
Auf dem Beschleunigungsstreifen der Autobahn findet das sog. Reißverschlussverfahren keine Anwendung. Bei der Kollision eines auffahrenden mit einem die durchgehende Fahrbahn benutzenden Kraftfahrzeug ist daher von einer Haftungsquote von 70% zu 30% zu Lasten des Einfahrenden auszugehen.


Siehe auch Einfahren in die Autobahn und Reißverschlussverfahren


Tatbestand:

Die Klägerin begehrt von den Beklagten die Zahlung restlichen Schadensersatzes nach einem Verkehrsunfall, der sich am 12.02.2013 auf der Bundesautobahn 37 zwischen dem Kreuz Hannover Kirchhorst und dem Kreuz Hannover Buchholz ereignete.

Die Klägerin war zum Unfallzeitpunkt Eigentümerin des Pkws Opel Corsa B mit dem amtl. Kennzeichen ... . Der Beklagte zu 1.) führte den im Eigentum des Beklagten zu 2.) stehenden Lkw, Daimler-Benz Actros, mit dem amtl. Kennzeichen …, das zum Unfallzeitpunkt bei der Beklagten zu 3.) haftpflichtversichert war.

Fahrerin des Pkws der Klägerin war die Zeugin ... Der Zusammenstoß der Fahrzeuge ereignete sich im Zusammenhang mit einem von der Zeugin … durchgeführten Wechsel von der Beschleunigungsspur auf die rechte Fahrbahn der BAB 37.

Zum Unfallzeitpunkt herrschte ein reger Verkehr, viele Pkw von der Beschleunigungsspur versuchten, auf die rechte Fahrbahn der Autobahn zu wechseln.

Die Beklagte zu 3.) hat vorprozessual bestätigt, zu 30 % zu haften und dementsprechend gegenüber der Klägerin am 18.07.2013 in Höhe von 378,63 € reguliert.

Die Klägerin begehrt eine weitergehende Schadensregulierung nach einer Haftungsquote von 80 % auf Seiten der Beklagten.

Der zwischen den Parteien unstreitig entstandene Schaden der Klägerin in Höhe von 1.267,11 € setzt sich wie folgt zusammen:

Unkostenpauschale 25,00 €
Sachverständigenkosten 392,11 €
Wiederbeschaffungswert abzügl. Restwert 850,00 €


Die Klägerin macht den weitergehenden Schadensbetrag in Höhe von 635,06 € geltend.

Die Klägerin behauptet, die Zeugin … habe sich vergewissert, dass der Beklagte zu 1.) mit seinem Lkw stand und sei dann in die Lücke, die sich vor dem von dem Beklagten zu 1.) geführten Lkw auftat, gezogen. Als sie erkannt habe, dass der Beklagte zu 1.) anfährt, habe sie gehupt, um den Zusammenstoß zu verhindern, was ihr jedoch nicht gelungen sei. Sie ist der Ansicht, dass lediglich eine Haftungsquote von 20 % auf ihrer Seite angemessen sei. Es handele sich um eine nach § 7 Abs. 4 StVO zu beurteilende Situation. Die Klägerin beantragt,
die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an den Kläger 635,06 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz auf einen Betrag von 1.013,69 € ab dem 14.06.2013 bis zum 16.05.2014 sowie auf einen Betrag von 635,06 € seit dem 17.05.2014 und ferner die außergerichtlichen Rechtsverfolgungskosten in Höhe von 120,67 € zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beklagten behaupten, die Zeugin … habe den Beklagten zu 1.) geschnitten. Sie sei von der Beschleunigungsspur in eine viel zu kleine Lücke auf der rechten Fahrbahn vor dem von dem Beklagten zu 1.) geführten Lkw gezogen. Sie habe sich dabei in den toten Winkel des Beklagten zu 1.) befunden und sei von diesem nicht wahrgenommen worden.

Sie sind der Ansicht, dass die Klägerin zu 70 % und die Beklagten zu 30 % haften würden. Sie berufen sich hierfür insbesondere auf § 18 Abs. 3 StVO.

Das Gericht hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 04.09.2014. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 04.09.2014 (Bl. 61 ff. d. A.) Bezug genommen.

Wegen des weiteren Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.


Entscheidungsgründe:

I.

Die zulässige Klage ist unbegründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagten aufgrund des streitgegenständlichen Verkehrsunfalls keinen Anspruch aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG, 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG, 823 BGB auf Zahlung von Schadensersatz in Höhe von 635,06 €. Der ihr zustehende Anspruch in Höhe von 378,63 € ist durch die vorgerichtliche Zahlung der Beklagten zu 3.) bereits vollständig erfüllt, § 362 Abs. 1 BGB. Nach § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG bzw. nach § 254 Abs. 1 BGB haften die Beklagten nur in Höhe von 30 %.

Die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie deren Umfang hängen nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG bzw. nach § 254 Abs. 1 BGB von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Die danach gebotene Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge ist aufgrund aller festgestellten, d. h. unstreitigen, zugestandenen oder nach § 286 ZPO bewiesenen Umständen des Einzelfalles vorzunehmen, wenn sie sich auf den Unfall ausgewirkt haben; in erster Linie ist hierbei das Maß der Verursachung von Belang, indem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (BGH, Urteil vom 07.02.2012, VI ZR 133/11).

Der Verursachungsbeitrag der Klägerin ist als schwerwiegender zu bewerten als derjenige des Beklagten zu 1.). Der von der ihr zuzurechnenden Fahrerin begangene Verkehrsverstoß fällt sehr viel stärker ins Gewicht als der Verkehrsverstoß des Beklagten zu 1.).

Die Klägerin beruft sich zu Unrecht darauf, dass der Beklagte zu 1.) nach dem Reißverschlussverfahren verpflichtet gewesen sei, die Zeugin … von der Beschleunigungsspur auf die rechte Fahrbahn der Autobahn einfädeln zu lassen. Das sog. Reißverschlussverfahren ist in § 7 Abs. 4 StVO geregelt und hier nicht anwendbar. Das Reißverschlussverfahren findet keine Anwendung auf dem Beschleunigungsstreifen der Autobahn. Hier gilt vielmehr § 18 Abs. 3 StVO. Nach dieser Vorschrift hat auf Autobahnen und Kraftfahrstraßen der Verkehr auf der durchgehenden Fahrbahn – dazu gehören die Beschleunigungsstreifen nicht – Vorfahrt (OLG Köln, Urteil vom 24.10.2005, 16 O 24/05). Auf die Beachtung dieser Regelung darf der Benutzer der durchgehenden Fahrbahn auch vertrauen. Der einfahrende Verkehr ist wartepflichtig und darf nur so einfahren, dass er den durchgehenden Verkehr nicht gefährdet oder behindert. Alle Einfahrenden müssen sich mit größter Sorgfalt eingliedern (OLG Köln a.a.O.). Wenn es in dieser Situation zu einem Zusammenstoß zwischen einem die durchgehende Fahrbahn benutzenden Kraftfahrzeug und einem einfädelnden Verkehrsteilnehmer kommt, spricht für das Verschulden des Einfädelnden der Beweis des ersten Anscheins (OLG Köln, a.a.O.).

Diesen Anscheinsbeweis hat die Klägerin nicht entkräftet. Ihre Behauptung, dass zwischen dem Lkw des Beklagten zu 1.) und dem vorausfahrenden Lkw ein für das Einfahren genügend großer Abstand bestanden habe und dass der Unfall nur dadurch zustande gekommen sei, dass der Beklagte zu 1.) den von ihm geführten Lkw vorsätzlich oder fahrlässig beschleunigt habe, ist nicht bewiesen. Für sie spricht nur die von der Zeugin im Rahmen der Beweisaufnahme abgegebene Unfalldarstellung, dieser steht jedoch der anders lautende und gegenüber dem Vorbringen der Klägerin in sich nicht weniger plausible Sachvortag der Beklagten, bestätigt von dem Beklagten zu 1.) im Rahmen seiner Anhörung (§ 141 ZPO), entgegen. Nach ständiger Rechtsprechung ist das Gericht nicht gehindert, im Rahmen der Würdigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses der Beweisaufnahme einer Parteierklärung, auch wenn sie außerhalb einer förmlichen Parteivernehmung erfolgt ist, den Vorzug vor den Bekundungen eines Zeugen zu geben (BGH, Urteil vom 16.07.1998, I ZR 32/96).

Dies folgt aus dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung nach § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Das Gericht vermochte in diesem Fall nicht zu entscheiden, welche der beiden sich widersprechenden Aussagen zutrifft. Beide sind gleichermaßen lebensnah. Objektive Kriterien, an denen der Wahrheitsgehalt der Aussagen gemessen werden könnte, bestehen nicht. Der Vorfall kann sich ebenso gut so zugetragen haben, wie ihn die Zeugin … oder wie ihn der Beklagte zu 1.) geschildert hat. Bei beiden waren Wahrnehmungsbereitschaft, -fähigkeit und Wahrnehmungsmöglichkeit in gleichem Maße gegeben. Das Gericht sieht sich auch außer Stande, einen der beiden gegenüber dem anderen für glaubwürdiger zu erachten. Die Zeugin … steht der Klägerin sehr nahe, ihr Eigeninteresse an dem Ausgang des Verfahrens ist dem des Beklagten zu 1.) gleichzusetzen.

Bei der Abwägung der Verursachungs- bzw. Verschuldensanteile ist somit auf Seiten der Klägerin der erhebliche Verstoß gegen § 18 Abs. 3 StVO anzusetzen, auf Seiten der Beklagten mag allenfalls ein Verstoß gegen die allgemeine Sorgfaltspflicht aus § 1 Abs. 2 StVO angenommen werden. Allerdings ist zu berücksichtigen, dass auf Seiten der Beklagten ein in den Besonderheiten des Fahrzeugs begründete Betriebsgefahr vorliegt, welche nicht völlig durch das Verschulden der Klägerin verdrängt werden kann. Daraus ergibt sich eine Haftungsquote von 70 % zu 30 % zu Lasten der Klägerin.

II.

Da der Klägerin der mit dem Klageantrag geltend gemachte Schadensersatzanspruch nicht zusteht, bleiben auch die geltend gemachten Nebenforderungen aus den o.g. Gründen ohne Erfolg.

III.

Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 708 Nr. 11, 711 ZPO.