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OLG Hamm Urteil vom 02.03.2012 - 9 U 193/11 - Kollision eines linksabbiegenden Traktors mit einem überholenden Motorrad

OLG Hamm v. 02.03.2012: Kollision eines linksabbiegenden Traktors mit einem überholenden Motorrad


Das OLG Hamm (Urteil vom 02.03.2012 - 9 U 193/11) hat entschieden:
Biegt ein Traktor links ab und kollidiert dabei mit einem überholenden Motorrad, so ist eine Haftungsquote von 40 zu 60 zu Gunsten des Motorradfahrers angemessen, wenn der Linksabbieger der doppelten Rückschaupflicht vor dem Abbiegen nicht in ausreichendem Maße nachgekommen ist und der Motorradfahrer in der konkreten Verkehrssituation unter Beachtung des allgemeinen Rücksichtnahmegebots den Überholvorgang vernünftigerweise hätte zurückstellen müssen.


Siehe auch Unfälle mit Kradbeteiligung - Motorradunfälle und Unfälle zwischen Überholer und vorausfahrendem Linksabbieger


Gründe:

I.

Der Kläger macht Schmerzensgeld und vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten sowie die Feststellung der Haftung der Beklagten für zukünftige Schäden aus einem Verkehrsunfall am 23.9.2006 in B geltend.

Unfallbeteiligt waren der Kläger mit seinem Motorrad ... und der Beklagte zu 1) mit seinem bei dem Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Traktor. Als der Beklagte zu 1) von der F-​Straße nach links in die Straße T2 abbiegen wollte, kollidierte er mit dem von hinten herannahenden, im Überholvorgang befindlichen Kläger.

Mit dem angefochtenen Grund- und Teilurteil, auf das gemäß § 540 Abs. 1 Nr.1 ZPO zur näheren Sachdarstellung Bezug genommen wird, hat das Landgericht den Klageantrag zu 1) auf Zahlung von Schmerzensgeld und außergerichtlichen Anwaltskosten dem Grunde nach unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens des Klägers von 60% für begründet erachtet und festgestellt, dass die Beklagten vorbehaltlich eines Anspruchsübergangs auf Sozialversicherungsträger als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger 40% der aus dem streitgegenständlichen Unfall noch entstehenden Schäden zu ersetzen.

Nach Beweisaufnahme durch Vernehmung der Zeugen W, U und X hat das Landgericht ein beiderseitiges Fehlverhalten der Unfallparteien angenommen. Dem Beklagten zu 1) sei ein Verstoß gegen die Rückschaupflicht beim Abbiegen vorzuwerfen, während der Kläger trotz unklarer Verkehrslage überholt habe. Die Abwägung der Verursachungsbeiträge führe zu einer stärkeren Belastung des Klägers, der versucht habe, eine Kolonne von drei Fahrzeugen zu überholen.

Dagegen richtet sich die Berufung des Klägers, der geltend macht, das Landgericht habe aufgrund fehlerhafter Beweiswürdigung seiner Entscheidung einen unzutreffenden Sachverhalt zu Grunde gelegt.

Tatsächlich habe er freie Sicht gehabt, so dass die Situation für ihn nicht unklar gewesen sei; die nach links abzweigende Straße sei für ihn als Ortsfremden nicht erkennbar gewesen. Die Aussagen der Zeugen W und U seien insgesamt nicht überzeugend gewesen, während der von der Person her glaubwürdige Zeugen X glaubhaft und widerspruchsfrei den klägerischen Vortrag bestätigt habe, der Beklagte zu 1) habe nicht geblinkt. Jedenfalls stehe fest, dass der Unfallgegner seine Rückschaupflicht verletzt habe.

Der Kläger beantragt,
  1. unter Abänderung des Grund- und Teilurteils der 8. Zivilkammer des Landgerichts Münster vom 28.11. 2011 festzustellen, dass die Klage hinsichtlich des Klageantrags zu 1) dem Grunde nach zu 100 % gerechtfertigt ist,

  2. festzustellen, dass die Beklagten und Berufungsbeklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger den weiteren künftigen materiellen sowie jeden zukünftigen, nicht vorhersehbaren immateriellen Schaden aus dem Unfall vom 23.09. 2006 in vollem Umfang zu ersetzen, soweit der Anspruch nicht gemäß § 116 SGB X auf Sozialversicherungsträger übergegangen ist.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen das erstinstanzliche Urteil, insbesondere die vorgenommene Beweiswürdigung, als richtig.


II.

Auf die zulässige Berufung des Klägers war das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass die Beklagten gemäß §§ 7,17,18 StVG, 823 BGB, 3 Nr.1 PflVG a.F. mit einer Quote von 60%, der Kläger hingegen mit einer solchen von 40% für die Unfallfolgen haften.

Im Rahmen der nach § 17 Abs. 1 und 2 StVG gebotenen Abwägung der feststellbaren Verursachungsbeiträge der Unfallbeteiligten - ein unabwendbares Ereignis liegt unzweifelhaft für keinen der Beteiligten vor, weil ein jeweils gedachter Idealfahrer den Unfall hätte vermeiden können - ist von einem die Betriebsgefahr erhöhenden, schuldhaften Fehlverhalten beider unfallbeteiligten Fahrer auszugehen. Dabei überwiegt der Verantwortungsbeitrag des Beklagten zu 1) etwas, was zu der tenorierten Haftungsverteilung führt.

1) Der Beklagte zu 1) ist der ihm als Linksabbieger nach § 9 Abs.1 S. 4 StVO obliegenden doppelten Rückschaupflicht vor dem Abbiegen nicht in ausreichendem Maße nachgekommen, was im Berufungsverfahren nicht mehr im Streit ist.

Das Landgericht hat nach den Angaben der Zeugen und im Hinblick auf die Örtlichkeiten zutreffend angenommen, dass der Beklagte zu 1) seiner Rückschaupflicht, speziell der sogenannten zweiten Rückschaupflicht unmittelbar vor dem Abbiegen (vgl. König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 9 StVO, Rn 20 ff) nicht in ausreichender Weise nachgekommen ist. Diese Würdigung wird von der Beklagtenseite auch nicht in Zweifel gezogen.

Dass der Beklagte zu 1) darüber hinaus entgegen § 9 Abs.1 S.1 StVO den Fahrtrichtungsanzeiger nicht gesetzt hätte, lässt sich zu Gunsten des insoweit beweispflichtigen Klägers nicht mit der zur Überzeugungsbildung im Sinne von § 286 ZPO notwendigen Gewissheit feststellen.

Allein aufgrund der Aussage des Zeugen X ist diese Feststellung nicht mit der gebotenen Sicherheit möglich.

Das Landgericht, auf dessen Ausführungen insoweit Bezug genommen wird, hat die Bedenken gegenüber der Aussage des Zeugen X nachvollziehbar und stimmig dargestellt. Unter Berücksichtigung der dem Zeugen X inhaltlich entgegenstehenden, wenn auch ihrerseits mit Unsicherheiten und Mängeln behafteten Bekundungen der Zeugen U und W und unter Berücksichtigung der zumindest indiziellen Wirkung der nach dem Unfall nach links eingerasteten Blinkerstellung, kann jedenfalls die erforderliche Überzeugung von der Richtigkeit der Behauptung des Klägers, der Traktor habe nicht geblinkt, nicht gewonnen werden.

2) Der Kläger muss sich ebenfalls ein schuldhaftes Fehlverhalten am Zustandekommen des Unfalls vorwerfen lassen.

Auch wenn nach der Überzeugung des Senats die zum Unfallgeschehen möglichen Feststellungen nicht ausreichen, dem Kläger den begründeten Vorwurf zu machen, trotz unklarer Verkehrslage überholt zu haben (§ 5 Abs.3 Nr.1 StVO), hätte er in der konkreten Verkehrssituation unter Beachtung des allgemeinen Rücksichtnahmegebots nach § 1 Abs. 1 und 2 StVO den Überholvorgang vernünftigerweise zurückstellen müssen.

a) Letztlich lässt sich nicht ausreichend sicher feststellen, dass der Kläger bei unklarer Verkehrslage versucht hat, den Traktor zu überholen.

Unklar ist die Lage, wenn nach den objektiven Umständen mit einem gefahrlosem Überholen nicht gerechnet werden darf, beispielsweise weil sich nicht verlässlich beurteilen lässt, was der Vorausfahrende sogleich tun wird (König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 5 StVO, Rn 13; OLGR Hamm 2001, 221).

Die hier feststellbaren Umstände begründen die Annahme einer in diesem Sinne unklaren Verkehrslage nicht ausreichend zuverlässig.

Die Tatsache, dass im Überholbereich links eine untergeordnete Straße abzweigt, führt für sich genommen ebenso wenig zur Annahme einer unklaren Verkehrslage, wie das unstreitig langsame Fahren eines voran fahrenden Fahrzeugs (vgl. OLG Celle, Schaden-​Praxis 2008, 176).

Es steht, entgegen der Würdigung des Landgerichts auch nicht fest, dass der Beklagte zu 1) den Blinker gesetzt hatte und der Kläger deshalb nicht sicher sein konnte, den Traktor noch gefahrlos überholen zu können.

Die im Rahmen des Nachweises eines Fehlverhaltens des Klägers für das Setzen des Blinkers beweisbelasteten Beklagten haben ihrerseits diesen Beweis nicht führen können. Es muss letztlich offen bleiben, ob der Beklagte zu 1) geblinkt hat oder nicht.

Die Stellung des Blinkerhebels nach dem Unfall begründet naturgemäß keinen zwingenden Rückschluss auf ein rechtzeitiges Betätigen des Blinkers vor dem Abbiegen. Auch die Würdigung der Aussagen der vom Landgericht vernommenen Zeugen führt nicht zu einer entsprechenden Überzeugungsbildung.

Soweit das Landgericht den Aussagen der Zeugen U und W den Vorzug vor derjenigen des Zeugen X gegeben hat, ist der Senat insoweit an die daraus hergeleiteten Feststellungen nicht gem. § 529 Abs.1 Ziffer 1 ZPO gebunden, weil konkreter Anlass besteht, an der Richtigkeit dieser Feststellungen zu zweifeln.

Die Wertung des Landgerichts, die Aussage des Zeugen W sei deshalb besonders glaubwürdig, weil er sich nicht zu 100% an ein Blinken habe erinnern können, überzeugt nicht. Das Landgericht verkennt dabei, dass der Zeuge letztlich das Blinken eben nicht hat bestätigen können und nur meinte, der Traktor habe geblinkt. Mag die Aussage des Zeugen besonders ehrlich und glaubhaft sein, bestätigt sie aber inhaltlich gerade nicht den Vortrag der Beklagten mit der erforderlichen Überzeugungskraft. Es ist vielmehr nicht auszuschließen, dass der Zeuge aus anderen Gründen glaubte, der Trecker werde abbiegen.

Die Aussage des Zeugen U ist unabhängig von seiner persönlichen Beziehung zu dem Beklagten zu 1) als seinem Vater schon deshalb insgesamt wenig überzeugend, weil er selbst trotz der behaupteten ständigen Rückschau den unzweifelhaft herannahenden Kläger mit seinem Motorrad vor dem Unfall gar nicht wahrgenommen haben will.

Es lässt sich darüber hinaus auch nicht mit der für eine Überzeugungsbildung nötigen Sicherheit feststellen, dass der Traktor sich erkennbar schon so weit zur Straßenmitte hin eingeordnet hatte, dass daraus auf einen unmittelbar bevorstehenden Abbiegevorgang hätte geschlossen werden können. Angesichts der Tatsache, dass jede Fahrbahnhälfte nur ca. 3 Meter breit ist und der Traktor ohnehin den Großteil dieser Breite einnimmt, können hierzu konkrete Feststellungen zu Lasten des Klägers nicht getroffen werden.

Dem Kläger kann schließlich auch nicht zum Vorwurf gemacht werden, zum Überholen einer ganzen Kolonne von Fahrzeugen angesetzt zu haben, denn auch das ist grundsätzlich zulässig, wenn die Verkehrssituation es zulässt (König in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 41. Aufl., § 5 StVO, Rn 40).

b) In der konkreten Situation hat der Kläger allerdings schuldhaft gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot nach § 1 Abs.1 und 2 StVO verstoßen und damit einen Verursachungsbeitrag für den streitgegenständlichen Unfall gesetzt.

Nach dieser Grundregel des Straßenverkehrs muss jeder Verkehrsteilnehmer bei ständiger Vorsicht und Rücksichtnahme sich so verhalten, dass kein anderer gefährdet wird.

Jedenfalls im Rahmen dieser allgemeinen Verkehrspflichten hätte der Kläger angesichts der Verkehrssituation nicht einfach darauf vertrauen dürfen, es werde schon nichts passieren und ohne Rücksicht auf das Verhalten der übrigen Verkehrsteilnehmer überholen dürfen. Unter den gegebenen Umständen war es ihm vielmehr vernünftigerweise zuzumuten, den Überholvorgang entweder zurückzustellen oder mit einem so geringen Geschwindigkeitsüberschuss zu überholen, dass ein jederzeitiger Abbruch des Vorgangs möglich war.

Wie die Lichtbilder in der Ermittlungsakte zeigen, befuhr der ortsfremde Kläger bei freier Sicht und am helllichten Tage außerorts eine schmale, alleeartige Landstraße mit unbefestigtem Seitenstreifen, auf der keine Geschwindigkeitsbegrenzung angeordnet war. Die Bilder lassen auch hinreichend deutlich die von links einmündende Straße mit einem in diesem Bereich aufgestellten Vorfahrtsschild (Zeichen 306 zu § 42 Abs. 2 StVO) erkennen. Angesichts des Umstandes, dass die vor ihm fahrenden PKW in dieser Situation trotz fehlenden Gegenverkehrs keine Anstalten machten, den langsam vorausfahrenden Traktor zu überholen und eingedenk der allgemein bekannten Tatsache, dass Trecker in ländlichen Gebieten häufig nur kurze Strecken auf einer Hauptstraße bleiben, wäre es Sache des Klägers gewesen, in der bereits erwähnten Weise defensiv zu fahren und zumindest das Passieren der Einmündung der Seitenstraße vor dem Überholen des Traktors abzuwarten. Stattdessen verhielt sich der Kläger ungeduldig und dränglerisch, wie es der Zeuge W anschaulich beschrieben hat.

3) Die Abwägung der durch die jeweiligen Verschuldensbeiträge erhöhten Betriebsgefahren der beteiligten Fahrzeuge führt zu einem im Verhältnis zum Kläger leicht erhöhten Haftungsanteil der Beklagten.

Da der Verstoß des Beklagten zu 1) gegen die den rückwärtigen Verkehr schützende zweite Rückschaupflicht schwerer wiegt als der Verstoß des Klägers gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot, hält der Senat nach Abwägung aller Umstände, die zum Entstehen des Unfalls beigetragen haben, eine Haftungsquote von 40 zu 60 zu Gunsten des Klägers für angemessen.

4) Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 543 Abs. 2 ZPO bestehen nicht.