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OLG Frankfurt am Main Urteil vom 04.11.2011 - 25 U 77/10 - Mitverschuldensanteil bei Verstoß gegen die Anschnallpflicht und Mitfahrt mit einem alkoholisierten Fahrzeugführer

OLG Frankfurt am Main v. 04.11.2011: Mitverschuldensanteil bei Verstoß gegen die Anschnallpflicht und Mitfahrt mit einem alkoholisierten Fahrzeugführer


Das OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 04.11.2011 - 25 U 77/10) hat entschieden:
Wird eine Beifahrerin, die den Sicherheitsgurt nicht angelegt hat, bei einem Unfall, den der alkoholisierte Fahrzeugführer (BAK 1,79 Promille) verursacht, schwer verletzt, so ist ihr ein Mitverschuldensvorwurf zu machen, der mit 25% zu bemessen ist, wenn die Verletzungen ursächlich auf den Verstoß der Anschnallpflicht zurückzuführen sind und
  1. wenn hinsichtlich der Verletzung der Anschnallpflicht keiner der Ausnahmetatbestände gemäß § 21a Abs. 1 S. 2 StVO vorlag und der Beifahrerin auch keine Ausnahmegenehmigung gemäß § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5b StVO erteilt worden war,

  2. wenn ihr hinsichtlich der Mitfahrt bei einem alkoholisierten Fahrzeugführer kein mitwirkendes Verschulden zur Last fällt, weil äußerlich erkennbare Trunkenheitsanzeichen im Verhalten des Fahrzeugführers oder seiner Fahrweise nicht vorlagen und der Beifahrerin nicht bekannt war oder hätte bekannt sein müssen, wieviel Alkohol der Fahrzeugführer konsumiert hatte.


Siehe auch Alkoholisierter oder übermüdeter Kfz-Führer und Selbstgefährdung des Beifahrers als Mitverschulden an eigenen Verletzungen und Sicherheitsgurt und Anschnallpflicht


Gründe:

I.

Die Klägerin nimmt die Beklagte wegen der Folgen eines Verkehrsunfalls auf materiellen und immateriellen Schadensersatz in Anspruch.

Am ... 2004 gegen 0.25 Uhr verursachte A mit einem bei der Beklagten haftpflichtversicherten Personenkraftwagen einen Verkehrsunfall, bei dem die Klägerin als Beifahrerin schwer verletzt wurde. Im Unfallzeitpunkt wies A eine Blutalkoholkonzentration von mindestens 1,79 Promille auf. Die Klägerin hatte den vorhandenen Sicherheitsgurt nicht angelegt.

Im Übrigen wird wegen des erstinstanzlichen Sach- und Streitstands auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil (Bd. II Bl. 89 ff. d. A.) Bezug genommen.

In erster Instanz hat die Klägerin die Beklagte auf Zahlung eines angemessenen Schmerzensgeldes von mindestens 200.000,00 EUR abzüglich vorprozessual geleisteter 60.000,00 EUR (Klageantrag zu 1) und auf materiellen Schadensersatz in Höhe von 198.541,54 EUR(Klageantrag zu 2) nebst vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten in Höhe von 8.466,85 EUR (Klageantrag zu 4) in Anspruch genommen. Darüber hinaus hat sie die Feststellung begehrt, dass die Beklagte verpflichtet ist, ihr sämtliche materiellen und immateriellen Schäden aus Anlass des Unfallereignisses vom ... 2004 zu ersetzen,soweit kein Anspruchsübergang auf Sozialleistungsträger erfolgt oder erfolgt ist (Klageantrag zu 3).

Mit Teil- und Grundurteil vom 6. April 2010 hat das Landgericht nach Vernehmung von Zeugen und Einholung von Sachverständigengutachten ausgesprochen, dass die Klägerin von der Beklagten dem Grunde nach ein angemessenes Schmerzensgeld unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens von einem Drittel abzüglich vorprozessual geleisteter 60.000,00 EUR verlangen kann und dass die mit den Klageanträgen zu 2 und 4 geltend gemachten Ansprüche auf materiellen Schadensersatz dem Grunde nach zu zwei Dritteln gerechtfertigt sind. Darüber hinaus hat das Landgericht festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden aus Anlass des Unfallereignisses vom ... 2004 zu zwei Dritteln zu ersetzen, soweit kein Anspruchsübergang auf Sozialleistungsträger erfolgt oder erfolgt ist. Die auf Feststellung der Ersatzpflicht für bereits eingetretene materielle Schäden gerichtete Feststellungsklage hat das Landgericht als unzulässig abgewiesen.

Zur Begründung hat das Landgericht ausgeführt, die Beklagte sei der Klägerin zwar gemäß § 7 StVG in Verbindung mit § 3 Nr. 1 und 2PflVG zum Schadensersatz verpflichtet. Der Klägerin falle jedoch ein anspruchsminderndes Mitverschulden gemäß § 254 Abs. 1 BGB zur Last, weil sie gegen die Pflicht zum Anlegen des Sicherheitsgurts gemäß § 21a Abs. 1 StVO verstoßen habe. Die Voraussetzungen für eine Befreiung von der Anschnallpflicht gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1Nr. 5b StVO seien nicht gegeben gewesen, weil das Anlegen des Gurts, auch wenn er nahe am Hals der nur etwa 160 cm großen Klägerin aufgelegen habe, nach den Feststellungen des hinzugezogenen Sachverständigen SV1 keine Gesundheitsgefahren habe befürchten lassen. Der Pflichtverstoß sei für die eingetretenen Verletzungen auch ursächlich geworden, weil sie, wie der Sachverständige SV1 in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt habe, bei angelegtem Sicherheitsgurt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wären. Dagegen könne der Klägerin nicht vorgeworfen werden, dass sie sich einem fahruntüchtigen Fahrzeugführer anvertraut habe. Nach dem Ergebnis der durchgeführten Beweisaufnahme stehe nämlich nicht fest, dass die Klägerin die alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit A gekannt habe oder zumindest habe erkennen müssen. Da das Verschulden A, der sich unter erheblichem Alkoholeinfluss in den Straßenverkehr begeben habe, dasjenige der Klägerin überwiege, seien die Schadensfolgen zu zwei Dritteln von der Beklagten und zu einem Drittel von der Klägerin zu tragen. Soweit die Feststellungsklage bereits eingetretene materielle Schäden der Klägerin umfasse, sei sie wegen des Vorrangs der Leistungsklage mangels Feststellungsinteresses unzulässig.

Die Klägerin hat gegen das ihr am 14. April 2010 zugestellte Urteil am 12. Mai 2010 Berufung eingelegt und diese sogleich begründet. Sie meint, der ihr gegenüber erhobene Vorwurf mitwirkenden Verschuldens sei nicht gerechtfertigt. Soweit sich das Landgericht zur Feststellung des Ursachenzusammenhangs zwischen dem unterlassenen Anschnallen und den eingetretenen Verletzungen auf das eingeholte Sachverständigengutachten berufen habe, habe es dieses nicht hinreichend kritisch gewürdigt. Außerdem habe das Landgericht nicht berücksichtigt, dass diese oder ähnlich schwere Verletzungen nach den Ausführungen des Sachverständigen möglicherweise auch bei angelegtem Sicherheitsgurt hätten eintreten können, insbesondere, wenn die hinter der Klägerin sitzende unangeschnallte Zeugin B gegen deren Hinterkopf geprallt wäre. Damit habe die Beklagte den ihr obliegenden Kausalitätsbeweis nicht erbracht. Da die Klägerin nicht habe erkennen können, dass der eng an ihrem Hals anliegende Sicherheitsgurt objektiv keine Gesundheitsgefahr darstellte, habe sie die Anschnallpflicht, wenn überhaupt, jedenfalls nicht schuldhaft verletzt. Selbst wenn man ein Mitverschulden der Klägerin bejahte, träte dies hinter dem groben Verschulden A vollständig zurück. Die Feststellungsklage sei entgegen der Auffassung des Landgerichts in vollem Umfang zulässig. Bei einem in der Entwicklung begriffenen Schaden bestehe auch in Bezug auf bereits eingetretene und bezifferbare Schadenspositionen ein Feststellungsinteresse.

Die Beklagte hat gegen das ihr am 13. April 2010 zugestellte Urteil am 10. Mai 2010 Berufung eingelegt und diese am 7. Juni 2010begründet. Sie meint, die Klägerin müsse sich ein Mitverschulden von mindestens 60 % anrechnen lassen. Die Klägerin habe nicht nur gegen die Anschnallpflicht verstoßen, wobei aufgrund des vom Landgericht eingeholten Sachverständigengutachtens feststehe, dass sämtliche eingetretenen Verletzungen hierauf zurückzuführen seien. Darüber hinaus sei der Klägerin, wie sich aus der Aussage des erstinstanzlich vernommenen Zeugen C ergebe, bekannt gewesen, dass A in erheblichem Umfang Alkohol konsumiert hatte. Gleichwohl sei sie ohne weitere Nachfrage zu ihm ins Auto gestiegen, was ebenfalls den Vorwurf mitwirkenden Verschuldens begründe.

Die Klägerin beantragt,
  1. das erstinstanzliche Urteil abzuändern und

    1. auszusprechen, dass die Klägerin dem Grunde nach von der Beklagten ein angemessenes Schmerzensgeld abzüglich vorprozessual geleisteter 60.000,00 EUR verlangen kann,

    2. auszusprechen, dass die Klage hinsichtlich der Klageanträge zu 2 und 4 – bezifferter materieller Schadensersatzanspruch – dem Grunde nach gerechtfertigt ist und

    3. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin alle sonstigen gegenwärtigen und zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden aus Anlass des Verkehrsunfallereignisses vom ... 2004 zu ersetzen, soweit kein Leistungsübergang auf Sozialleistungsträger erfolgt oder erfolgt ist.

  2. die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
  1. das erstinstanzliche Urteil abzuändern

    1. soweit ausgeurteilt ist, dass die Klägerin von der Beklagten ein angemessenes Schmerzensgeld unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens von nur einem Drittel verlangen kann und insoweit auszusprechen, dass die Klägerin von der Beklagten ein angemessenes Schmerzensgeld unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens von 60% abzüglich vorprozessual geleisteter 60.000,00 EUR verlangen kann,

    2. soweit es die Klageanträge zu 2 und 4 dem Grunde nach zu zwei Dritteln für gerechtfertigt erklärt hat und insoweit auszusprechen,dass die Klageanträge zu 2 und 4 dem Grunde nach zu 40 %gerechtfertigt sind,

    3. soweit festgestellt wird, dass die Beklagte der Klägerin sämtliche zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden aus Anlass des Verkehrsunfallereignisses vom ... 2004 zu zwei Dritteln zu ersetzen hat und auszusprechen, dass festgestellt wird, dass die Beklagte verpflichtet ist, der Klägerin sämtliche zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden aus Anlass des Verkehrsunfallereignisses vom ... 2004 zu 40 % zu ersetzen, soweit kein Leistungsübergang auf Sozialleistungsträger erfolgt oder erfolgt ist,

  2. die Berufung der Klägerin zurückzuweisen.
Mit nicht nachgelassenem Schriftsatz vom 17. Oktober 2011 hat die Klägerin behauptet, die Mitfahrerin B könne bestätigen, dass sie selbst und die Klägerin den Fahrer A zum Anhalten aufgefordert hätten, nachdem dieser mit überhöhter Geschwindigkeit zu fahren begonnen habe.


II.

Die Berufungen der Klägerin und der Beklagten sind jeweils zulässig, insbesondere frist- und formgerecht eingelegt und begründet worden.

In der Sache selbst hat allerdings nur die Berufung der Klägerin teilweise Erfolg. Die Berufung der Beklagten ist dagegen unbegründet.

1. Zwischen den Parteien steht außer Streit, dass die Beklagte als Haftpflichtversicherer für die Folgen des von A am ... 2004verursachten Verkehrsunfalls einzustehen hat, bei dem die Klägerin erheblich verletzt worden ist (§§ 7 Abs. 1, 11, 18 Abs. 1 Satz 1StVG, §§ 823, 249, 253 BGB, § 3 Nr. 1 und 4 PflVG in der bis zum 31. Dezember 2007 geltenden Fassung).

2. Der Streit der Parteien betrifft allein die Frage, ob der Klägerin gemäß § 9 StVG, § 254 Abs. 1 BGB ein Mitverschulden zur Last gelegt werden kann und wie hoch dieses gegebenenfalls zu bemessen ist.

a) Die Klägerin hat die bei dem Verkehrsunfall erlittenen Verletzungen und die daraus resultierenden materiellen und immateriellen Schäden mitverschuldet, weil sie den im Unfallfahrzeug vorhandenen Sicherheitsgurt nicht angelegt hat.

aa) Die Klägerin war gemäß § 21a Abs. 1 Satz 1 StVO dazu verpflichtet, den Sicherheitsgurt während der Fahrt anzulegen, da keiner der gesetzlichen Ausnahmetatbestände gemäß § 21a Abs. 1 Satz 2 StVO vorlag und ihr auch keine Ausnahmegenehmigung gemäß § 46Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b StVO erteilt worden war. Durch das Nichtanlegen des Sicherheitsgurts hat die Klägerin eine Ordnungswidrigkeit gemäß § 49 Abs. 1 Nr. 20a Alt. 1 StVO begangen. Da die Klägerin ihre Anschnallpflicht kannte, hat sie vorsätzlich gehandelt.

Die Verletzung der Anschnallpflicht könnte der Klägerin nur dann nicht als Mitverschulden angelastet werden, wenn ihr von der Straßenverkehrsbehörde auf einen entsprechenden Antrag hin eine Ausnahmegenehmigung gemäß § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b StVO hätte erteilt werden müssen (vgl. BGH, NJW 1993, 53). Voraussetzung für die Erteilung einer derartigen Ausnahmegenehmigung ist, dass mit dem Anlegen des Sicherheitsgurts für den Betroffenen konkret ernsthafte Gesundheitsschäden verbunden sind, denen auf anderem Wege nicht vorgebeugt werden kann (BGH, NJW 1993, 53, 54). Diese Voraussetzung hat das Landgericht nicht festgestellt, ohne dass dies von der Klägerin gerügt worden wäre. Tatsächlich hat der Sachverständige Prof. Dr. SV1 in dem vom Landgericht eingeholten interdisziplinären Gutachten ausgeführt, Nachteile durch den nahe an der rechten Halsseite aufsitzenden Gurt seien auch für eine Beifahrerin von der Körpergröße der Klägerin medizinisch nicht zu begründen.

Es würde die Klägerin nicht entschuldigen, wenn sie, wie in der Berufungsbegründung vorgetragen, darüber im Zweifel gewesen sein sollte, ob die Gefahr unfallbedingter Verletzungen durch den an ihrem Hals eng anliegenden Sicherheitsgurt erhöht oder vermindert wurde. Selbst wenn das Anlegen des Sicherheitsgurts tatsächlich zu Gesundheitsschäden hätte führen können, wäre die Klägerin ohne eine behördliche Ausnahmegenehmigung nicht von der Anschnallpflicht befreit gewesen. Denn das auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung gerichtete Verwaltungsverfahren dient gerade der Prüfung, ob derartige Gesundheitsgefahren vorliegen oder nicht. Da die Klägerin wusste, dass ihr keine Ausnahmegenehmigung erteilt worden war,hätte sie, um die von ihr befürchtete Gesundheitsgefahr zu vermeiden, auf die Fahrt im Wagen A verzichten können und müssen. Handelt es sich, wie hier, um rein subjektive Ängste, die mit dem Anlegen des Sicherheitsgurts verbunden sind, dann können sie die vom Geschädigten im Verhältnis zum Schädiger zu fordernde Sorgfalt gegen sich selbst, ohnehin nicht beeinflussen (BGHZ 74, 25, juris Rdn. 25; BGH, VersR 1981, 548, juris Rdn. 18).

bb) Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen sind sämtliche Verletzungen, die die Klägerin unfallbedingt erlitten hat, und damit auch die daraus resultierenden materiellen und immateriellen Schäden ursächlich auf den Verstoß gegen die Anschnallpflicht zurückzuführen. Konkrete Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der diesbezüglichen Feststellungen, die gemäß § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO eine erneute Tatsachenfeststellung in der Berufungsinstanz gebieten würden, sind weder dargetan noch sonst ersichtlich. Insoweit hat sich das Landgericht zu Recht auf die überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. SV1 gestützt, der in seinem schriftlichen Gutachten festgestellt hat, dass die eingetretenen Verletzungen mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ausgeblieben wären,wenn die Klägerin den Sicherheitsgurt angelegt hätte. Dass und warum die Feststellungen des Sachverständigen unzutreffend sein sollen, hat die Klägerin in der Berufungsbegründung nicht aufgezeigt.

cc) Das Landgericht hat nicht festgestellt, dass die Klägerin,wie von ihr behauptet, auch bei angelegtem Sicherheitsgurt dieselben oder gleich schwer wiegende Verletzungen erlitten hätte. Auch insoweit gibt es keine Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der diesbezüglichen Feststellungen. Der Sachverständige Prof. Dr. SV1 hat in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, dass es, wäre die Klägerin angeschnallt gewesen, möglicherweise zu schweren Verletzungen an ihrem Kopf und an ihrer Halswirbelsäule hätte kommen können, wenn die hinter ihr sitzende unangeschnallte Zeugin B massiv – womöglich mit dem Kopf – direkt gegen den Hinterkopf der Klägerin geprallt wäre. Die bloße Möglichkeit eines derartigen hypothetischen Kausalverlaufs genügt jedoch nicht, um ihn als feststehend der Entscheidung zugrunde zu legen. Dies gilt umso mehr, als der Sachverständige darauf hingewiesen hat, dass die am vorderen Beifahrersitz angebrachte Kopfstütze einen relativen Schutz für die nur etwa 160 cm große Klägerin dargestellt hätte, wodurch der mögliche Anprall gegen deren Kopf aller Voraussicht nach deutlich abgemildert worden wäre.

Die verbleibenden Zweifel gehen zu Lasten der Klägerin. Während die Beweislast dafür, dass der Verstoß gegen die Anschnallpflicht für die tatsächlich eingetretenen Schäden ursächlich war, der Schädiger trägt (BGH, NJW 1980, 2125, 2126; OLG Naumburg, OLGR2008, 537, 538; OLG Celle, OLGR 2009, 948, 949), ist die Behauptung des Geschädigten, bei angelegten Gurt wären entweder dieselben oder andere Verletzungen in vergleichbarer Schwere entstanden, als Replik auf den Mitverschuldenseinwand von diesem zu beweisen (BGH,NJW 1980, 2125, 2126; OLG Karlsruhe, NZV 1989, 470; Janker, in Burmann/Heß/Jahnke/Janker, StVR, 21. Aufl., § 21a Rdn. 6). Diesen Nachweis hat die Klägerin nicht erbracht.

b) Entgegen der Auffassung der Beklagten fällt der Klägerin ein mitwirkendes Verschulden nicht deshalb zur Last, weil sie sich einem erkennbar fahruntüchtigen Kraftfahrzeugführer anvertraut hat.

Zwar kann der Vorwurf des Mitverschuldens gerechtfertigt sein,wenn ein Mitfahrer trotz erkennbarer Trunkenheit des Fahrzeugführers an der Fahrt teilnimmt (BGH, VersR 1979, 1007,1008; NJW 1988, 2365; OLG Karlsruhe, OLGR 2009, 311, 312). Das Landgericht hat jedoch nicht festgestellt, dass die Klägerin die Fahruntüchtigkeit A bei gehöriger Sorgfalt hätte erkennen können. Auch insoweit bestehen keine Anhaltspunkte für Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der im angefochtenen Urteil getroffenen Feststellungen.

Soweit das Landgericht äußerlich erkennbare Trunkenheitsanzeichen im Verhalten A oder in dessen Fahrweise vor dem Unfall nicht festzustellen vermocht hat, wird dies von der Beklagten mit der Berufung nicht angegriffen. Sie macht vielmehr geltend, die Klägerin habe mit einer alkoholbedingten Einschränkung der Fahrtüchtigkeit A deshalb rechnen müssen, weil ihr unter Zugrundelegung der Aussage des Zeugen C bekannt gewesen sei, dass A in erheblichem Umfang Alkohol konsumiert hatte. Dies trägt den Mitverschuldenseinwand jedoch nicht. Der Zeuge C hat bei seiner Vernehmung durch das Landgericht bekundet, die Klägerin habe „bestimmt“ gesehen, dass A „Bierchen getrunken“ habe, denn das Bierglas auf dem Tisch sei „wohl“ nicht zu übersehen gewesen. Selbst wenn man aufgrund dieser Angaben annähme, die Klägerin habe gesehen,dass A Bier trank, bliebe vollständig offen, welche Biermenge er nach den Beobachtungen der Klägerin getrunken hatte. Aus eigener Anschauung konnte der Klägerin die Menge des von A konsumierten Alkohols schon deshalb nicht bekannt sein, weil sie sich auch nach der Aussage des Zeugen C nur hin und wieder zu dem Tisch begeben hat, an dem die beiden Männer saßen. Berücksichtigt man, dass nach den Ausführungen im Ergänzungsgutachten des Sachverständigen Prof. Dr. SV1 vom 29. Oktober 2009 die Blutalkoholkonzentration A selbst dann noch geringer als 0,3Promille gewesen wäre, wenn er im Verlauf des Abends 1,8 l Bier oder 11 kleine Wodka getrunken hätte, dann ließ der der Klägerin möglicherweise bekannte Umstand, dass A Bier getrunken hatte, nicht auf eine Einschränkung seiner Fahrtüchtigkeit schließen, wenn – wovon nach den Feststellungen des Landgerichts auszugehen ist – keine darauf hindeutenden Trunkenheitszeichen bemerkbar waren. Unter diesen Umständen oblag es der Klägerin auch nicht, A nach der Menge des von ihm konsumierten Alkohols zu befragen. Unabhängig hiervon hat die Beklagte nicht dargelegt, was A auf eine solche Frage geantwortet hätte.

c) Fällt dem Geschädigten, wie hier der Klägerin, ein Mitverschulden zur Last, dann hängt gemäß § 254 Abs. 1 BGB die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist. Danach kommt es für die Haftungsverteilung entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten den Eintritt des Schadens in wesentlich höherem Maß wahrscheinlich gemacht hat (BGH, NJW-RR 1988, 1373).

Es ist nicht zweifelhaft, dass die unfallbedingten Verletzungen der Klägerin in erster Linie darauf zurückzuführen sind, dass A als Führer des bei der Beklagten haftpflichtversicherten Kraftfahrzeugs ein grober Fahrfehler unterlaufen ist, der sich allein dadurch erklären lässt, dass er infolge vorangegangenen übermäßigen Alkoholkonsums fahruntüchtig war. Das Verschulden A wiegt vor allem deshalb besonders schwer, weil er es von vornherein übernommen hatte, die Klägerin und die Zeugen C und B nach dem Gaststättenbesuch wieder nach Hause zu fahren. Dadurch, dass er gleichwohl Alkohol in erheblichem Umfang zu sich nahm, handelte er schlechthin verantwortungslos.

Andererseits hat auch der Schadensbeitrag der Klägerin ein nicht unerhebliches Gewicht, weil sie durch das Nichtangurten nicht nur ihre eigenen Schutzinteressen vernachlässigt, sondern zugleich gegen eine Rechtspflicht verstoßen und ordnungswidrig gehandelt hat. Zwar ist auch in derartigen Fällen eine vollständige Haftungsfreistellung des Geschädigten nicht von vornherein ausgeschlossen; eine Abwägung, bei der der Schadensbeitrag des Geschädigten zurücktritt, bedarf in solchen Fällen allerdings besonderer Rechtfertigung (BGH, NJW 1998, 1137, 1138). Ein solcher Ausnahmefall kann etwa vorliegen, wenn ein betrunkener Kraftfahrer bei Dunkelheit mit voller Geschwindigkeit auf der Gegenfahrbahn mit einem entgegenkommenden Kraftfahrzeug kollidiert, dessen Insassen nicht angeschnallt sind, weil dann zu dem als grobes Verschulden zu bewertenden Alkoholkonsum die ungewöhnlich hohe Betriebsgefahr des unfallverursachenden Kraftfahrzeugs hinzutritt (vgl. OLG Naumburg,OLGR 2008, 537, 538). Anhaltspunkte für eine derart gesteigerte Betriebsgefahr des von A geführten Kraftfahrzeugs sind dagegen nicht ersichtlich. Es ist deshalb nach Auffassung des Senats nicht gerechtfertigt, den Schadensbeitrag der Klägerin vollständig unberücksichtigt zu lassen. Dieser ist allerdings angesichts des schwerwiegenden Verschuldens A nur mit einem Viertel zu bemessen.

3. In Bezug auf die bereits eingetretenen materiellen Schäden hat das Landgericht die Feststellungsklage zu Unrecht als unzulässig abgewiesen.

Es entspricht allgemeiner Auffassung, dass es der Zulässigkeit einer Feststellungsklage nicht entgegensteht, wenn der einen Schadensersatzanspruch verfolgende Kläger einen Teil seines Schadens bereits bei Klageerhebung beziffern kann. Vermag der Kläger seinen Schadensersatzanspruch insgesamt noch nicht zu beziffern, insbesondere, weil sich dieser in der Entwicklung befindet, dann darf er, auch wenn ein Teil des Schadens bereits entstanden ist, die Entstehung weiteren Schadens aber noch zu erwarten ist, in vollem Umfang Feststellungsklage erheben (BGH, NJW1988, 3268 m. w. Nachw.; OLG Köln, VersR 1992, 764;Musielak/Foerste, ZPO, 8. Aufl., § 256 Rdn. 29). Unter diesen Voraussetzungen ist es dem Kläger allerdings auch nicht verwehrt,einen Teil seines bezifferbaren Schadens im Wege der Leistungsklage geltend zu machen und im Übrigen Feststellungsklage zu erheben (OLG Hamm, NZV 1995, 26, 27). Für eine neben einer Leistungsklage erhobene Feststellungsklage ist das Feststellungsinteresse immer dann gegeben, wenn der entstandene oder noch entstehende Schaden nicht bereits in vollem Umfang durch den Antrag auf Zahlung erfasst wird (BGH, NJW-RR 1986, 1026, 1028; MünchKomm-ZPO/Becker-Eberhard,3. Aufl., § 256 Rdn. 53). So liegen die Dinge hier. Denn nach dem Vorbringen der Klägerin sind zukünftig weitere Schäden – etwa krankheits- und behinderungsbedingter Mehrbedarf, Verdienstausfall,Haushaltsführungsschaden – zu erwarten.

4. Soweit sich die Feststellungsklage auch auf bereits eingetretene immaterielle Schäden erstreckt, ist sie allerdings mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, weil diese Schäden bereits von dem Leistungsantrag zu 1 erfasst werden. Soweit immaterielle Schadensfolgen bereits eingetreten sind, sind sie bei der Bemessung der Höhe des von der Klägerin verlangten Schmerzensgeldes vollumfänglich zu berücksichtigen.

5. Das neue Vorbringen der Klägerin in dem nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 17. Oktober 2011 ist zum einen verspätet und deshalb gemäß §§ 525 Satz 1, 296a ZPO nicht mehr zu berücksichtigen. Unabhängig hiervon ist es aber auch sachlich unerheblich. Da die Klägerin im vorliegenden Rechtsstreit niemals behauptet hat, A sei wegen überhöhter Geschwindigkeit zum Anhalten aufgefordert worden, ist es ohne Belang, ob die Mitfahrerin B diese nicht vorgetragene Tatsache als Zeugin bestätigen kann und ob die Klägerin hiervon erst nach der mündlichen Verhandlung vor dem Senat erfahren hat. Im Übrigen ist bei der Abwägung der beiderseitigen Mitverursachungsanteile maßgeblich berücksichtigt worden, dass A den Verkehrsunfall durch alkoholbedingte Fahrfehler verursacht hat. Sollte er von seinen Mitfahrern zum Anhalten aufgefordert worden sein, würde dies das Abwägungsergebnis nicht beeinflussen. Anlass zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gemäß § 156 ZPO besteht damit nicht.


III.

Da über die Klage noch wegen der Anspruchshöhe zu verhandeln und zu entscheiden ist, bleibt die unter Berücksichtigung des endgültigen Obsiegens und Unterliegens der Parteien zu treffende Kostenentscheidung dem Schlussurteil des Landgerichts vorbehalten.

Ein Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit war entbehrlich,da die vorliegende Berufungsentscheidung keinen vollstreckungsfähigen Inhalt hat.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung hat, noch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).