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OLG Köln Urteil vom 22.04.2015 - I-11 U 154/14 - Aktivlegitimation und Beweisanzeichen für einen fingierten Unfall

OLG Köln v. 22.04.2015: Aktivlegitimation, Spurwechsel auf der BAB und Beweisanzeichen für einen fingierten Unfall


Das OLG Köln (Urteil vom 22.04.2015 - I-11 U 154/14) hat entschieden:
  1. Hatte der Kläger unmittelbaren Besitz an dem Fahrzeug, gilt zu seinen Gunsten die Vermutung der Erlangung von Eigenbesitz und damit auch der Eigentümerstellung.

  2. Steht eine Kollision - vorliegend aufgrund des Ausscherens eines LKW im Baustellenbereich einer Autobahn von der rechten auf die linke Fahrspur und des Drängens des klägerischen Fahrzeugs gegen die den linken Fahrstreifen begrenzende Schutzeinrichtung - in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit einem Spurwechsel, spricht der Anscheinsbeweis für eine Missachtung der Sorgfaltspflichten, die für den Spurwechsler gelten.

  3. Unbeherrschbarkeit und Gefahrenträchtigkeit des Unfallherganges können gewichtige gegen einen gestellten Unfall sprechende Umstände sein.

Siehe auch Aktivlegitimation - Anspruchs- und Klagebefugnis - Eigentumsvermutung und Unfallmanipulationen - Unfallbetrug - Berliner Modell


Gründe:

(Von einer Darstellung des Sach- und Streitstandes wird nach §§ 540 Abs. 2, 313 a ZPO abgesehen.)

I.

Die zulässige Berufung ist ganz überwiegend begründet.

Die Beklagte ist dem Kläger aus dem Unfallereignis vom 22.09.2011 nach §§ 7, 18 StVG, 823 BGB, § 115 VVG als den Schaden regulierender Haftpflichtversicherer des Unfallgegners zum Schadensersatz in Höhe von 12.122,54 EUR verpflichtet.

1. Der Kläger ist als Eigentümer des beschädigten Fahrzeuges aktivlegitimiert. Er hat der Beklagten zum Nachweis seines Eigentums einen schriftlichen Kaufvertrag, der ihn als Käufer ausweist, und die auf ihn ausgestellte Zulassungsbescheinigung I (Anl. 2 zur Klageerwiderung, Bl. 43 und 44 d.A.) vorgelegt und im weiteren Verlauf des Verfahrens die ihn ebenfalls als Inhaber aufführende Zulassungsbescheinigung II (Bl. 80 d.A.) zur Akte gereicht. Die Beklagte bestreitet zwar unter Hinweis auf die von ihr vorgelegten Auszüge aus polizeilichen Ermittlungsakten, dass der Kläger das Fahrzeug erworben habe (Schriftsatz vom 22.7.2013, Bl. 92 ff. d.A.). Dies ist aber unerheblich. Ungeachtet der Frage, ob die Überlassung der Ermittlungsakten an die Beklagte datenschutzrechtlich zulässig war und ob sie demnach als Beweismittel überhaupt verwertet werden dürfen, sind die aus ihnen hergeleiteten Bedenken nicht geeignet, die Eigentümerstellung in Frage zu stellen. Unstreitig hatte der Kläger unmittelbaren Besitz an dem Fahrzeug. Zu seinen Gunsten gilt daher nach § 1006 Abs. 1 BGB die Vermutung der Erlangung von Eigenbesitz und damit auch der Eigentümerstellung (vgl. BGH NJW 1975, 1269; NJW 1994, 939, 940; NJW-​RR 1989, 651; NJW 2004, 317, 319; NJW-​RR 2005, 280, 281; Baldus in: Münchener Kommentar, BGB, 6. Aufl., § 1006 Rdn. 35; Baumgärtel/Prütting/Laumen, Handbuch der Beweislast, 3. Aufl., BGB Sachenrecht, § 872 Rdn. 1 und § 1006 Rdn. 16). Zur Eigentümerstellung des Klägers bedarf es daher keines weiteren Beweises; vielmehr hätte die Beklagte das Gegenteil beweisen müssen (BGH NJW 1994, 939, 940; NJW-​RR 2005, 280, 281). Die von ihr unter Bezug auf die Ermittlungsakten angeführten Zweifelsmomente bewegen sich im Bereich der bloßen Spekulation. Sie sind nicht geeignet, die Eigentumsvermutung zu widerlegen. Sonstige Beweise hat die Beklagte nicht angetreten.

2. Die Beklagte haftet dem Grunde nach in vollem Umfang.

a) Der Unfall geschah dadurch, dass der bei der Beklagten versicherte LKW auf der BAB 1 in Fahrtrichtung L in Höhe km 384,6 in einem Baustellbereich vom rechten in Richtung des linken Fahrstreifens ausscherte und das dort in gleicher Fahrtrichtung fahrende Fahrzeug des Klägers gegen die den linken Fahrstreifen begrenzende Schutzeinrichtung drängte. Nach § 7 Abs. 5 StVO darf ein Fahrstreifen nur gewechselt werden, wenn eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist. Wegen der hohen Sorgfaltsanforderungen des § 7 Abs. 5 StVO ist grundsätzlich von einer vollen Haftung des Spurwechslers auszugehen. Steht die Kollision - wie hier - in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Spurwechsel, so spricht der Anscheinsbeweis für die Missachtung der Sorgfaltspflichten, die für den Spurwechsler gelten (vgl. Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl., § 7 StVO Rdn. 25 m.w.N.).

b) Die Beklagte bestreitet den äußeren Unfallhergang nicht konkret, insbesondere stellt sie den Zusammenstoß der Fahrzeuge nicht in Abrede, wendet aber ein, der Unfall sei vom Kläger bewusst herbeigeführt worden. Das Landgericht ist dem gefolgt und hat deshalb die Klage abgewiesen. Dagegen wendet sich der Kläger mit Erfolg. Dass er den Unfall vorsätzlich herbeigeführt hätte, hat die hierfür darlegungs- und beweispflichtige Beklagte nicht schlüssig dargetan.

Eine Unfallverabredung oder das sonstige bewusste Herbeiführen eines Unfalles durch den KFZ-​Eigentümer schließt als Einwilligung in die Sachbeschädigung einen Ersatzanspruch sowohl aus § 823 BGB als auch aus § 7 StVG aus (BGHZ 71, 339, 340; VersR 1978, 865). Hinsichtlich der Beweislast und Beweisführung gelten insofern folgende Grundsätze: Der geschädigte Anspruchsteller hat das äußere Unfallgeschehen, also den Zusammenstoß der beteiligten Fahrzeuge nachzuweisen. Steht das äußere Unfallgeschehen fest, so müssen der Schädiger und sein Versicherer den Nachweis führen, dass der Geschädigte in die Beschädigung seines Fahrzeuges eingewilligt hat (BGHZ 71, 339, 343; VersR 1978, 865; 1979, 281 und 514). Aufgrund der Indizien muss zur Überzeugung des Gerichts ein Unfallhergang festgestellt werden können, der auf eine einverständliche Schädigung hindeutet. Hierbei kommt es nicht darauf an, ob einzelne Gesichtspunkte für sich genommen einen gestellten Unfall beweisen. Einzelne Indizien können vielmehr ein Mosaik bilden, welches im Gesamtbild erkennen lässt, dass der Unfall fingiert ist (OLG Köln VersR 2014, 996; DAR 2000, 67; VersR 1996, 1292; Senat Beschl. v. 28.1.2004 - 11 U 149/11, BeckRS 2010, 06359). Häufen sich in auffälliger Weise Merkmale, die für gestellte Unfälle typisch sind, und bestehen hierauf deutende gewichtige Verdachtsgründe, so sind an den Indizienbeweis keine zu strengen Anforderungen zu stellen (OLG Köln VersR 2014, 996; DAR 2000, 67; OLG Celle VRS 102 (2002), 258; OLG Düsseldorf Urt. v. 28.5.2013 - 1 U 132/12, BeckRS 2014, 0128 = Schaden-​Praxis 2013, 351; Geigel/Kunschert, Der Haftpflichtprozess, 26. Aufl., 25. Kapitel Rdn. 12). Es bedarf keines lückenlosen Nachweises. Vielmehr reicht die erhebliche Wahrscheinlichkeit einer Manipulation durch das Aufzeigen einer Vielzahl von Beweisanzeichen aus, die aufgrund ihrer ungewöhnlichen Häufung für einen verabredeten Unfall sprechen (etwa Senat Urteil vom 2.4.2004 - 11 U 213/02; Beschl. v. 13.2.2005 - 11 U 186/05; OLG Köln VersR 2014, 996; VersR 1999, 121 = OLGR 1998, 109; OLGR 1993, 22).

Die vom Landgericht angeführten Indizien rechfertigen weder für sich noch in ihrer Gesamtheit die Annahme, der Kläger habe den Unfall verabredet oder bewusst herbeigeführt. Soweit in der Klageschrift die Fahrtrichtung unzutreffend angegeben wurde, handelte es sich erkennbar um ein auf der insoweit falschen polizeilichen Unfallmitteilung (Bl. 7 d.A.) beruhendes Versehen des Prozessbevollmächtigten, das der Kläger umgehend korrigiert hat. Dass er keine genauen Angaben zu dem LKW des Unfallgegners machen konnte, hat ebenfalls keine Beweisbedeutung, da die Unfallbeteiligung des LKW unbestritten ist. Ebenso wenig Bedeutung kommt dem Umstand zu, ob und in welchem Umfang der Kläger sich mit dem polnischen Fahrer unterhalten hat. Daraus, dass es sich um einen PKW der Oberklasse handelte, der Kläger nach dem streitgegenständlichen Unfall mit dem Fahrzeug noch weitere Unfälle erlitten hat und dass er den Schaden auf Gutachtenbasis abrechnet, kann ebenfalls nicht auf eine Unfallmanipulation geschlossen werden. Dass das Fahrzeug einen reparierten Vorschaden aufwies und der Tachostand manipuliert worden war, ergab sich erst aus dem von der Beklagten vorgelegten Leasingübergabeprotokoll der Vorbesitzerin (Bl. 50 d.A.), das dem Kläger nicht bekannt sein musste.

Im Übrigen fehlen wesentliche für einen fingierten Unfalls typische Beweisanzeichen (dazu etwa OLG Köln VersR 2014, 996; OLG Düsseldorf a.a.O.; Geigel/Kunschert a.a.O. Rdn. 13): Der Unfall geschah am frühen Abend im fließenden Berufsverkehr. Es waren somit Zeugen vorhanden, die nicht dem "Umfeld" des Klägers zuordnen sind. Vor allem wurde die Kollision durch ein nicht vom Kläger eingeleitetes, gefährliches Fahrmanöver herbeigeführt. Das hat der Zeuge I bei seiner Vernehmung durch das Landgericht eindrucksvoll und glaubhaft geschildert: Er habe beobachtet, wie der LKW zu schlingern anfing und den PKW, der sich am hinteren Ende des Lkw befunden habe, in Richtung Mittelplanke touchiert und gedrängt habe. Er habe bereits durch die Beobachtung einen mächtigen Schock bekommen, die Situation sei extrem knapp gewesen. Er habe aus Angst um den Fahrer kurz angehalten und mit dem Fahrer des PKW - also dem Kläger - kurz gesprochen. Dieser sei zwar handlungsfähig, aber sichtlich mitgenommen gewesen. Für einen gestellten Unfall ist aber typisch, dass er nicht schwer beherrschbar und nicht mit der vom Zeugen berichteten und nach der Art der Unfallumstände - Durchfahren einer Autobahnbaustelle während des Berufsverkehrs auf dem der Gefahr eines Zusammenstoßes mit dem Gegenverkehr in besonderem Maße ausgesetzten linken Fahrstreifen - offensichtlichen und erheblichen Gefahr für Leben oder Gesundheit des beteiligten Fahrers verbunden ist (vgl. OLG Frankfurt Schaden-​Praxis 2010, 106; Geigel/Kunschert a.a.O.). Die Unbeherrschbarkeit und besondere Gefahrenträchtigkeit des Unfallherganges ist im Gegenteil ein ganz gewichtiger Umstand, der für einen nicht gestellten Unfall spricht. Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit des Zeugen I sind nicht ersichtlich und werden auch von der Beklagten nicht erhoben. Er ist zufällig Zeuge des Unfallgeschehens geworden und stand in keiner persönlichen Beziehung zum Kläger. Auch ist der vom Landgericht beauftragte Sachverständige N. zu dem Ergebnis gelangt, dass sich aus technischer Hinsicht der Unfall so ereignet haben könne, wie der Kläger vorgetragen habe. Zudem hegt der Senat nach dem persönlichen Eindruck, den er in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, keine durchgreifenden Zweifel an Glaubwürdigkeit des Klägers.

3. Der Höhe nach sind die vom Kläger geltend gemachten Schäden mit geringen Abstrichen zu ersetzen.

Die geltend gemachten Reparaturkosten in Höhe von 9.991,14 EUR hat der Kläger durch Vorlage des Gutachtens des Sachverständigen O vom 27.9.2011 (Anl. K 2, Bl. 8 ff. d.A.) belegt. Die Unfallbedingtheit der dort aufgeführten Schäden und die für ihre Beseitigung anfallenden Kosten hat die Beklagte - worauf der Senat der mündlichen Verhandlung auch anhand der Fotos aus dem Unfallrekonstruktionsgutachten (Bl. 259 ff. d.A.) und unter Berücksichtigung des von der Prozessbevollmächtigten der Beklagten zitierten Passage aus dem Gutachten der E hingewiesen hat - nicht konkret bestritten. Das gilt auch in Bezug auf die Schäden an der linken Fahrzeugseite. Der gerichtliche Sachverständige hat in seinem Unfallrekonstruktionsgutachten keine Zweifel daran geäußert, dass diese Schäden gleichermaßen auf das Unfallgeschehen zurückzuführen sind. Dass das Gutachten des Sachverständigen O keine Angaben zum Restwert enthält, ist unerheblich, weil ein wirtschaftlicher Totalschaden in Anbetracht des geringen Fahrzeugalters und des vom Sachverständigen veranschlagten Wertes vergleichbarer Fahrzeuge von 22.500,00 EUR offenkundig ausschied.

Der Sachverständige O hat eine Wertminderung des Fahrzeuges in Höhe von 1.200,00 EUR angenommen. Diese Wertminderung sei trotz der hohen Laufleistung gerechtfertigt und könne keinesfalls unter Hinweis auf die Kilometerleistung ausgeschlossen werden. Der Sachverständige hat dabei den vom Tacho abgelesenen Kilometerstand von 180.224 km zugrundegelegt. Allerdings wies das Fahrzeug unstreitig eine um 33.500 km höhere Laufleistung auf (zur Zeit des Kaufes: 213.500 gegenüber 179.000 km). Unter deren Berücksichtigung schätzt der Senat die Wertminderung auf 1.000,00 EUR (§ 287 ZPO).

Nicht begründet ist der Anspruch auf Ersatz von Nutzungsausfall. Der Anspruch besteht nicht, wenn der Einsatz eines Zweitfahrzeuges möglich und zumutbar ist (Palandt/Grüneberg, BGB, 74. Aufl., § 249 Rdn. 42). Der Kläger ist dem Vortrag der Beklagten in der Klageerwiderung, dass er Halter von zwei weiteren Fahrzeugen sei (Bl. 41 d.A.), nicht entgegengetreten.

Damit ergibt sich unter Einbeziehung der Gutachterkosten und der allgemeinen Kostenpauschale ein ersatzfähiger Gesamtschaden von 12.122,54 EUR (Reparaturkosten 9.991,14 EUR, Wertminderung 1.000,00 EUR Gutachterkosten 1.106,40 EUR, allgemeine Kostenpauschale 25,00 EUR).

4. Der Anspruch auf Ersatz der vorgerichtlichen Anwaltskosten und der Zinsanspruch sind aus dem Gesichtspunkt des Verzuges begründet (§§ 286, 288 BGB).

II.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 708 Nr. 10, 713 ZPO.

Die Revision wird nicht zugelassen, weil die dafür erforderlichen Voraussetzungen nach § 543 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 ZPO nicht vorliegen.


Berufungsstreitwert: 13.393,54 EUR