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OLG Dresden Urteil vom 18.02.2015 - 7 U 1047/14 - Unfall beim überholen einer Kolonne und Kollision mit Linksabbieger
OLG Dresden v. 18.02.2015: Unfall beim überholen einer Kolonne und Kollision mit Linksabbieger
Das OLG Dresden (Urteil vom 18.02.2015 - 7 U 1047/14) hat entschieden:
- Leitet ein Kradfahrer in einer Fahrzeugkolonne einen Überholvorgang ein, obwohl die vor ihm befindliche Fahrzeugschlange ihre Geschwindigkeit bereits verkehrsbedingt vermindert hatte, ist von einem Überholen bei unklarer Verkehrslage auszugehen.
- Die Grundsätze des Anscheinsbeweises wegen schuldhafter Verletzung der zweiten Rückschaupflicht finden keine Anwendung, wenn der Überholer dem Linksabbieger nicht unmittelbar gefolgt war, sondern zumindest noch ein weiteres Fahrzeug überholte und sodann mit dem abbiegenden Fahrzeug der Kolonnenspitze zusammengestoßen ist. In Fällen, in denen kein Anschein gegen den Linksabbieger spricht, bleibt es bei der allgemeinen Grundregel, dass der die Kolonne überholende Kfz-Führer allein haftet, da die Betriebsgefahr des abbiegenden Fahrzeuges demgegenüber zurücktritt.
Siehe auch Überholen einer Kolonne und Unfälle zwischen Überholer und vorausfahrendem Linksabbieger
Gründe:
A.
Von der Wiedergabe des Tatbestandes wird gemäß den §§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO abgesehen.
B.
Die zulässige Berufung der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg.
Das Landgericht Chemnitz hat in seinem sorgfältig begründeten Urteil ohne Rechtsfehler ein grob fahrlässiges unfallursächliches Verhalten des im Unfallzeitpunkt 75 Jahre alten Versicherten der Klägerin, W. N., angenommen und dahinter die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeuges der Beklagten zu 1) zurücktreten lassen. Insoweit kann zunächst auf die durchweg überzeugenden Urteilsgründe des Landgerichts verwiesen werden.
Ergänzend hierzu hält der Senat im Hinblick auf das Berufungsvorbringen der Klägerin lediglich noch folgende Ausführungen für veranlasst:
1. Nach dem Ergebnis der vom Landgericht durchgeführten Beweisaufnahme ist ein unfallursächlicher Verstoß des bei der Klägerin versicherten Kradfahrers gegen § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO (Überholen bei unklarer Verkehrslage) zu bejahen. Denn als der Kradfahrer seinen Kolonnenüberholvorgang einleitete, hatte die vor ihm befindliche Fahrzeugschlange ihre Geschwindigkeit bereits vermindert. Selbst bei Zugrundelegung der klägerischen Unfallversion ist nach dem vom Landgericht eingeholten schriftlichen Sachverständigengutachten vom 03.02.2014 (dort Seite 24) davon auszugehen, dass bereits kurz vor dem Ausscheren des Krades der vor diesem befindliche Pkw des Zeugen B. mit der Betriebsbremsung begonnen hatte. Die hierdurch bewirkte - weitere - Geschwindigkeitsverminderung der vor ihm befindlichen Fahrzeugkolonne sowie auch das Aufleuchten der Bremslichter des vor ihm befindlichen Pkw hätten deshalb den Kradfahrer veranlassen müssen, sich zunächst über die Ursache dieses innerörtlichen Abbremsvorgangs zu vergewissern, anstatt dessen ungeachtet einen Überholversuch unter starker Beschleunigung einzuleiten.
Vor Einleitung des Überholvorgangs hatte der Kradfahrer aus seiner Position hinter dem Pkw des Zeugen B. keine freie Sicht auf den an der Spitze der Kolonne fahrenden Pkw der Beklagten zu 1), welcher nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zu dieser Zeit bereits blinkte und sich zur Mitte hin einordnete. In dieser Situation bestand aber für den Kradfahrer eine Verkehrslage, in welcher sich für ihn nicht verlässlich beurteilen ließ, was der an der Spitze der Kolonne befindliche Vorausfahrende jetzt gleich tun werde. Damit aber war für den Kradfahrer eine "unklare Verkehrslage" i.S.v. § 5 Abs. 3 Nr. 1 StVO gegeben, weil er mit einem gefahrlosen Überholen zu diesem Zeitpunkt nicht rechnen durfte (vgl. hierzu Hentschel-König, Straßenverkehrsrecht, 42. Aufl., § 5 StVO, Rn. 34 m.w.N.).
Die grobe Fahrlässigkeit des unfallursächlichen Verkehrsverstoßes des Kradfahrers hat das Landgericht schlüssig und nachvollziehbar sowohl auf dessen sorg- und gedankenlose Fahrweise gestützt als auch auf die nicht ordnungsgemäße Befestigung des von ihm getragenen Sturzhelms, welcher sich gleich nach der Kollision löste, weshalb der Kradfahrer mit dem ungeschützten Kopf an das Brückengeländer prallte. Grob fahrlässig war auch die zu starke Beschleunigung - entgegen § 3 Abs. 1 S. 1, 2 und 4 StVO - bei dem verkehrswidrigen Überholversuch der verlangsamenden Kolonne, welcher darüber hinaus auch vor einer unübersichtlichen Linkskurve erfolgte und damit einem "Blindflug" gleichkam.
Der Kradfahrer hätte hingegen schon bei einem leichten Überfahren der Mittellinie vor Beginn des Überholens unschwer feststellen können, dass der Pkw der Beklagten zu 1) bereits blinkte, sich zur Mitte eingeordnet hatte und Anstalten traf, in eine linksseitig gelegene Einfahrt hineinzufahren. Dies hätte unfallvermeidend selbst dann noch festgestellt werden können, wenn der Kradfahrer seinen Überholversuch mit einer moderaten Beschleunigung "auf Sicht" begonnen hätte, weil er in diesem Fall den Überholversuch noch rechtzeitig vor der Kollision wieder hätte abbrechen können.
Das waghalsige Verhalten des 75-jährigen Kradfahrers stellte hier auch kein sog. "Augenblicksversagen" dar, sondern fügt sich nahtlos in das vom Landgericht ausführlich dargelegte grob verkehrswidrige Vorverhalten ein, das die vernommenen Unfallzeugen bekundet haben: Missachtung eines Stopp-Schildes, Nichteinhaltung des Sicherheitsabstandes, "drängelige" Fahrweise, wiederholte Überholversuche an unübersichtlichen Stellen.
2. Zu Recht hat das Landgericht auch davon abgesehen, gegenüber der Beklagten zu 1) die Grundsätze des Anscheinsbeweises wegen schuldhafter Verletzung der zweiten Rückschaupflicht heranzuziehen. Diese Grundsätze finden nämlich keine Anwendung, wenn - wie hier - der Überholer dem Linksabbieger nicht unmittelbar gefolgt war, sondern zumindest noch ein weiteres Fahrzeug überholte und sodann mit dem abbiegenden Fahrzeug der Kolonnenspitze zusammengestoßen ist. Insoweit fehlt es bereits an einem typischen Geschehensablauf; hinzu tritt vorliegend, dass auch kein "ordnungsgemäßer Überholvorgang" des Kradfahrers festzustellen war, welcher regelmäßig Voraussetzung für die Anwendung des Anscheins gegen den Linksabbieger ist (vgl. hierzu Hentschel-König, a.a.O., § 9 StVO, Rn. 55; KG NZV 2005, 413; OLG Hamm, MDR 2014, 28).
Selbst wenn man - mit der Rechtsauffassung der Klägerin - vorliegend einen Anschein gegen die nach links abbiegende Beklagte zu 1) wegen Verletzung der zweiten Rückschaupflicht zunächst bejahen würde, so wäre dieser nach dem Ergebnis des vom Landgericht eingeholten unfallanalytischen Sachverständigengutachtens jedenfalls erschüttert. Denn danach bestand die konkrete Möglichkeit, dass der Kradfahrer für die Beklagte zu 1) im Zeitpunkt ihrer zweiten Rückschaupflicht noch nicht erkennbar gewesen war (vgl. Seite 30 des Sachverständigengutachtens vom 03.02.2014).
Ohne Rechtsfehler hat das Landgericht auch im Übrigen ein Verschulden der Beklagten zu 1) im Rahmen des einschlägigen Sorgfaltsmaßstabes nach § 9 Abs. 5 StVO nicht für bewiesen erachtet.
Zwar war die Beklagte zu 1) hier in eine Grundstückseinfahrt abgebogen, weshalb sie bei ihrem Abbiegevorgang die Gefährdung anderer auszuschließen hatte. Derartiges erfordert höchstmögliche Sorgfalt bzw. größtmögliche Vorsicht (vgl. Hentschel-König, a.a.O., § 9 StVO, Rn. 52 m.w.N.). Gleichwohl bedeutet dies nicht - wie es die Klägerseite insinuieren will -, dass sich in solchen Fällen der Linksabbieger dafür exkulpieren muss, er habe in sämtlichen Bereichen die höchstmögliche Sorgfalt walten lassen. Vielmehr verbleibt es in den Fällen, in denen - wie hier - kein Anschein gegen den Linksabbieger spricht, bei der allgemeinen Grundregel, dass für ein Verschulden (hier: nach dem Sorgfaltsmaßstab des § 9 Abs. 5 StVO) nur unstreitige bzw. von der Gegenseite bewiesene Tatsachen herangezogen werden können. Beweisbelastet für ein Verschulden der Beklagten zu 1) ist somit die Klägerin.
Im Ergebnis der erstinstanzlich durchgeführten Beweisaufnahme wurde aber gerade nicht bewiesen, dass die Beklagte zu 1) nicht rechtzeitig geblinkt hat, sich nicht rechtzeitig zur Mitte hin eingeordnet und sodann ihre zweiten Rückschaupflicht verletzt hat.
Die vom Landgericht vernommenen Zeugen haben vielmehr bekundet, sie hätten sich rechtzeitig und ohne Gefahrenbremsung auf das frühzeitig angekündigte Linksabbiegemanöver des Beklagtenfahrzeuges einstellen können. So hat etwa der Zeuge K.r ausgesagt:
"Meines Erachtens hat die Pkw-Fahrerin ordnungsgemäß gebremst und geblinkt."
Auch die Beklagte zu 1) selbst hat im Rahmen ihrer ausführlichen Anhörung durch das Landgericht ihren Abbiegevorgang im Einklang mit den Anforderungen des § 9 Abs. 1 bzw. Abs. 5 StVO geschildert.
Die Klägerseite ist für ihre abweichende Unfalldarstellung - und damit für ein Verschulden der Beklagten zu 1) - beweisfällig geblieben.
Unabhängig davon wäre vorliegend selbst eine unterstellte Pflichtverletzung der Beklagten zu 1) im Hinblick auf ein rechtzeitiges Blinken und Einordnen zur Mitte hin wohl nicht unfallursächlich geworden. Denn der bei der Klägerin versicherte Kradfahrer fuhr in der hierfür relevanten Zeitspanne unmittelbar vor seinem Überholversuch nach den Feststellungen des Gerichtssachverständigen noch hinter dem Pkw des Zeugen B. und hatte deshalb keinerlei Sicht auf den an der Kolonnenspitze befindlichen Pkw der Beklagten zu 1).
3. Angesichts der festzustellenden unfallursächlichen groben Verkehrsverstöße des Versicherten der Klägerin hat das Landgericht in seiner Abwägung nach § 17 StVG auch rechtsfehlerfrei die - obgleich durch den Linksabbiegevorgang erhöhte - Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges zurücktreten lassen und insoweit zutreffend auf die einschlägige obergerichtliche Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen verwiesen. Hingegen betrifft die von der Klägerseite zitierte obergerichtliche Rechtsprechung Unfallkonstellationen, in denen entweder eine Verletzung der zweiten Rückschaupflicht durch den Linksabbieger festgestellt wurde oder aber jedenfalls keine grobe Fahrlässigkeit des Kolonnenüberholers festzustellen war.
C.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Zulassungsvoraussetzungen des § 543 ZPO nicht gegeben sind.