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Landgericht Saarbrücken Urteil vom 26.02.2016 - 13 S 193/15 - Lückenunfall vor einer Tankstelle

LG Saarbrücken v. 26.02.2016: Lückenunfall mit einfahrendem Kfz vor einer Tankstelle


Das Landgericht Saarbrücken (Urteil vom 26.02.2016 - 13 S 193/15) hat entschieden:
Lässt ein Fahrzeugführer (hier: Lkw-Fahrer) im stockenden oder sich stauenden Verkehr vor einer Tankstellenausfahrt eine so große Lücke, dass Fahrzeuge hierdurch von einer angrenzenden Tankstelle auf die Straße einfahren können, muss er nicht nur den ausfahrenden Verkehr vom Tankstellengelände beobachten, sondern sich auch vor dem weiteren Anfahren durch geeignete Maßnahmen vergewissern, dass sich keine einfahrenden Fahrzeuge unmittelbar vor seinem Fahrzeug befinden.


Siehe auch Lückenunfälle an Tankstellen und Tankstelle - Tankstellengelände


Gründe:

I.

Die Klägerin begehrt Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall, der sich am 17.06.2010 auf der B ... in Höhe der Tankstelle ... in ... ereignet hat.

Der Zeuge … beabsichtigte, mit einem Pkw der Klägerin von dem Tankstellengelände kommend auf die linke Fahrspur der dreispurigen B … in Fahrtrichtung ... aufzufahren. Auf der mittleren Fahrspur stand der Zweitbeklagte mit einem Lkw der Erstbeklagten (Sattelkraftfahrzeug) in einer Fahrzeugschlange vor einer Ampel. Zwischen dem Lkw und dem davor haltenden Fahrzeug bestand eine Lücke von mindestens 5 m. Als die Lichtzeichenanlage auf Grün wechselte, fuhr der Zweitbeklagte an und kollidierte dabei mit dem klägerischen Pkw. Die vorsteuerabzugsberechtigte Klägerin hat wegen des an ihrem Fahrzeug entstandenen Schadens in Höhe von 4.277,64 € netto ihre Kaskoversicherung in Anspruch genommen, die unter Berücksichtigung einer Selbstbeteiligung von 300,- € reguliert hat.

Mit ihrer Klage hat die Klägerin neben der Selbstbeteiligung eine unfallbedingte Wertminderung ihres Fahrzeugs von 1.000,- €, Sachverständigenkosten von 324,32 € sowie eine Unkostenpauschale von 26,- €, mithin insgesamt 1.650,32 € nebst Zinsen und vorgerichtlichen Anwaltskosten - auch für die anwaltliche Tätigkeit gegenüber der Kaskoversicherung - geltend gemacht. Zur Begründung hat sie ausgeführt, der Zeuge ... habe sich vor dem Einfahren durch Blickkontakt mit dem Zweitbeklagten, für den das klägerische Fahrzeug erkennbar gewesen sei, verständigt. Der Zeuge habe sich dann im Abstand von 1 bis 1,5 m zum Beklagten-​Lkw auf die dritte Fahrspur vorgetastet.

Die Beklagten haben die Abweisung der Klage beantragt. Sie haben behauptet, der klägerische Pkw sei für den Zweitbeklagten nicht erkennbar in die Straße eingefahren. Sie haben darüber hinaus die Einrede der Verjährung erhoben.

Das Amtsgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme abgewiesen. Zur Begründung hat die Erstrichterin, auf deren tatsächliche Feststellungen ergänzend Bezug genommen wird, ausgeführt, der Anspruch sei zwar nicht verjährt, weil der Lauf der Verjährung gehemmt gewesen sei. Allerdings sei ein Verschulden des Zweitbeklagten nicht nachgewiesen, so dass die Betriebsgefahr des Beklagten-​Lkw hinter das Verschulden des Zeugen ..., der die Pflichten beim Einfahren auf die Straße missachtet habe, zurücktrete.

Hiergegen wendet sich die Klägerin mit der Berufung, mit der sie ihren Anspruch weiterverfolgt.

Die Beklagten verteidigen die erstinstanzliche Entscheidung.

II.

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig. Sie hat auch in der Sache überwiegenden Erfolg.

1. Das Erstgericht ist zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Klägerin als auch die Beklagten grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7 Abs. 1, 17, 18 Straßenverkehrsgesetz (StVG) i.V.m. § 115 Versicherungsvertragsgesetz (VVG) einzustehen haben, weil die Unfallschäden bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeuges entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist, für keinen der unfallbeteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des § 17 Abs. 3 StVG darstellte und der Erstbeklagte auch nicht den Entlastungsbeweis nach § 18 Abs. 1 Satz 2 StVG geführt hat. Das ist zutreffend und wird von den Parteien in der Berufung nicht in Frage gestellt.

2. Im Rahmen der danach gemäß § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der beiderseitigen Mitverursachungs- und -verschuldensanteile hat das Erstgericht auf Seiten der Klägerin einen Verstoß des Zeugen ... gegen die Pflichten beim Einfahren in die Straße nach § 10 Satz 1 StVO angenommen. Auch dies ist zutreffend und wird von der Berufung nicht angegriffen.

3. Auf Beklagtenseite hat das Erstgericht einen Verkehrsverstoß verneint, weil nicht nachgewiesen sei, dass der Zweitbeklagte das klägerische Fahrzeug erkannt hat oder erkennen musste. Hiergegen wendet sich die Berufung zu Recht.

Anders als die Erstrichterin meint, können sich die Beklagten unter den gegebenen Umständen nicht darauf berufen, der Zweitbeklagte als Fahrer des Beklagten-​Lkw sei nicht in der Lage gewesen, ein vor ihm einfahrendes Fahrzeug zu erkennen. Dies gilt unabhängig davon, ob die Grundsätze der sog. Lückenrechtsprechung vorliegend Anwendung finden (vgl. hierzu Kammer, Urteil vom 16.11.2012 - 13 S 117/12, NZV 2013, 494; für eine Anwendung der Lückenrechtsprechung bei Tankstellen zuletzt OLG Köln, VersR 2015, 1135 m.w.N.). Denn ein aufmerksamer Fahrer muss im Rahmen der gebotenen Rücksichtnahme gemäß § 1 Abs. 2 StVO auch einen sog. „toten Winkel“ seines Fahrzeuges berücksichtigen und Maßnahmen treffen, um sich ggfs. durch Spiegel oder Einsatz von Beifahrern Einblick in nicht zugängliche Sichtbereiche zu verschaffen zu können, zumindest wenn er damit rechnen muss, dass Fahrzeuge beim Einfahren sich in einem solchen „toten Winkel“ befinden könnten (so bereits Kammer, Urteil vom 31.07.2015 - 13 S 70/15). Dass der Zweitbeklagte hier konkreten Anlass hatte, mit einfahrenden Fahrzeugen zu rechnen, ergibt sich bereits daraus, dass sich vor ihm eine Fahrzeugschlange gebildet und er selbst in dieser Fahrzeugschlange eine Lücke von mindestens 5 m gelassen hatte, die dem von der Tankstelle abfahrenden Verkehr ohne weiteres die Möglichkeit eröffnete, über diese Lücke auf die Straße einzufahren. Dies gilt insbesondere, weil der Verkehr vor der roten Ampel vollständig zum Halten gekommen war. Denn in einer solchen Situation entspricht es durchaus der Lebenserfahrung, dass sich Fahrzeuge von angrenzenden Tankstellen durch Lücken, die die Fahrzeuge in der Schlange gebildet haben, in den sich stauenden bzw. stockenden Verkehr eingliedern. Der Zweitbeklagte musste daher als derjenige, der selbst die Lücke eröffnet hatte, nicht nur den ausfahrenden Verkehr vom Tankstellengelände beobachten, sondern sich auch vor dem weiteren Anfahren durch geeignete Maßnahmen vergewissern, dass sich keine einfahrenden Fahrzeuge unmittelbar vor seinem Lkw befanden. Dies hat der Zweitbeklagte nicht getan, da er ansonsten - wie auch die Feststellungen des gerichtlichen Sachverständigen zur Erkennbarkeit des klägerischen Pkw belegen - den Zeugen … bereits beim Ausfahren aus der Tankstelle erkannt hätte, jedenfalls aber durch einen sorgfältigen Blick in die am Lkw vorhandenen Spiegel hätte erkennen können.

4. Im Rahmen der Haftungsverteilung nach 17 StVG kommt dem Umstand, dass der Zweitbeklagte bevorrechtigt war und der Zeuge ... gegen die höchstmögliche Sorgfalt nach § 10 Satz 1 StVO verstoßen hat, entscheidende Bedeutung zu. Die Klägerin trifft danach eine überwiegende Haftung, die die Kammer im Hinblick auf das zu berücksichtigende Mitverschulden des Zweitbeklagten mit einer Quote von 70% bemisst (vgl. Kammer, Urteil vom 31.07.2015 - 13 S 70/15). Diese Haftungsverteilung entspricht auch der ganz überwiegenden instanzgerichtlichen Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen (vgl. OLG Hamm NZV 2013, 247 und NJW-​RR 2001, 165; KG NZV 2008, 244, jeweils m.w.N.).

5. Unter Berücksichtigung des aus § 86 Abs. 1 VVG resultierenden Quotenvorrechts (vgl. BGHZ 82, 338; BGH, Urteil vom 25.11.2009 - XII ZR 211/08, DAR 2010, 85 f.) kann die Klägerin zunächst den als mit dem Kaskoversicherungsschutz deckungsgleichen Schaden (sogenannter kongruenter Schaden) ersetzt verlangen, und zwar unabhängig davon, ob dieser im Einzelfall von der Kaskoversicherung ersetzt wurde. Dazu zählen die Reparaturkosten in Höhe der Selbstbeteiligung (300,00 €; vgl. BGHZ 47, 308, 310; OLG Celle, NZV 2011, 505), die Wertminderung (1.000,- €; vgl. BGHZ 82, 338, 343 ff; Urteile vom 12.01.1982 - VI ZR 265/80, VersR 1982, 383, und vom 29.01.1985 - VI ZR 59/84, VersR 1985, 441) und die Sachverständigenkosten (324,32 €; vgl. BGH, Urteil vom 29.01.1985 - VI ZR 59/84, VersR 1985, 441; OLG Celle, NZV 2011, 505; LG Lüneburg, NJW-​RR 2015, 979), mithin insgesamt 1.624,32 €. Der Klägerin hätte nämlich ein Anspruch auf Ersatz des deckungsgleichen Schadens in Höhe von jedenfalls 30%, mithin 0,3 x (4.277,64 € Reparaturkosten + 1.000,- Wertminderung + 324,32 € Sachverständigenkosten =) 1.680,59 € zugestanden, also ein Betrag, der über die Summe von 1.624,32 € hinausgeht (zur Berechnung vgl. BGH aaO; OLG Celle aaO).

6. Den verbleibenden, nicht deckungsgleichen Sachfolgeschaden (sogenannter inkongruenter Schaden) haben die Beklagten nach der Haftungsquote zu ersetzen. Dazu zählt vorliegend die Unkostenpauschale, die die Kammer entsprechend ständiger, höchstrichterlich gebilligter Rechtsprechung mit 25,- € in Ansatz bringt (vgl. Urteil vom 19.07.2013 - 13 S 61/13, Zfs 2013, 564 m.w.N.; zur Deckungsungleichheit dieser Position vgl. nur OLG Düsseldorf, Schaden-​Praxis 2002, 245; KG, SVR 2011, 228). Als deckungsungleicher Schaden verbleibt danach ein Betrag von 7,50 €.

7. Demgegenüber zählen die Kosten für die Inanspruchnahme der Kaskoversicherung hier schon nicht zu den nach § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB erstattungsfähigen Schäden, so dass es auf die Frage der Deckungsgleichheit dieser Schadensposition nicht ankommt (vgl. hierzu OLG Frankfurt, NJW-​RR 2013, 664 m.w.N.).

a) Voraussetzung für einen Erstattungsanspruch ist insofern grundsätzlich, dass der Geschädigte im Innenverhältnis zur Zahlung der in Rechnung gestellten Kosten verpflichtet ist und die konkrete anwaltliche Tätigkeit im Außenverhältnis aus der maßgeblichen Sicht des Geschädigten mit Rücksicht auf seine spezielle Situation zur Wahrnehmung seiner Rechte erforderlich und zweckmäßig war (vgl. BGH, Urteil vom 08.05.2012 - VI ZR 196/11, VersR 2012, 998 m.w.N.; Urteil der Kammer vom 01.02.2013 - 13 S 54/11, NJW 2013, 2767).

b) Diese Voraussetzungen sind hier nicht erfüllt. Die Geltendmachung des Kaskoschadens war vorliegend einfach gelagert. Gegenstand des Anspruchs waren lediglich einige wenige Schadenspositionen. Besondere Schwierigkeiten sachlicher Art hinsichtlich dieser Positionen sind weder ersichtlich noch dargetan. Es bestanden auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kaskoversicherer seine Leistungspflicht aus dem Versicherungsvertrag in Abrede stellen würde. Der Umstand, dass der beklagte Haftpflichtversicherer mit der Erfüllung der ihm kraft Gesetzes obliegenden Leistungspflicht aus § 115 VVG in Verzug geraten war, lässt ebenfalls keine Rückschlüsse auf das Regulierungsverhalten des Kaskoversicherers zu (vgl. BGH, Urteil vom 08.05.2012 aaO). Es ist auch nicht erkennbar, warum es der Klägerin aufgrund der Leistungsverweigerung des Haftpflichtversicherers unzumutbar gewesen sein soll, den Schadensfall ihrem eigenen Kaskoversicherer zu melden und diesen zur Zahlung aufzufordern, ohne hierfür einen Anwalt hinzuzuziehen. Die Leistungsverweigerung durch den gegnerischen Haftpflichtversicherer hatte nämlich keine Auswirkungen auf die vertraglichen Beziehungen der Klägerin zu ihrem Versicherer (vgl. BGH, Urteil vom 08.05.2012 aaO m.w.N.; Kammer, Urteil vom 01.02.2013 - 13 S 54/11, NJW 2013, 2767).

8. Die Beklagten schulden allerdings aus § 249 Abs. 2 Satz 1 BGB den Ersatz außergerichtlicher Anwaltskosten für die Inanspruchnahme des Schädigers auf der Grundlage einer 1,3-​Geschäftsgebühr nach § 2 Abs. 2 RVG i.V.m. Nr. 2300 RVG-​VV (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 11.07.2012 - VIII ZR 323/11, NJW 2012, 2813; Kammer, st. Rspr., vgl. nur Urteil vom 01.02.2013 - 13 S 54/11, NJW 2013, 2767) in Höhe von 195,- € zzgl. 20,- € Auslagenpauschale (RVG-​VV Nrn. 7002), mithin insgesamt 215,- €, von denen die Klägerin lediglich 103,74 € geltend gemacht hat.

9. Dass die streitgegenständlichen Ansprüche der Klägerin nicht verjährt sind, hat das Amtsgericht zutreffend und von den Parteien in der Berufung nicht angegriffen festgestellt.

Der Zinsausspruch folgt aus §§ 288 Abs. 1, 291 BGB.

III.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 92 Abs. 2 Nr. 1, 100 Abs. 4 ZPO.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i.V.m. § 26 Nr. 8 EGZPO.

Die Revision ist nicht zuzulassen. Die Rechtssache erlangt keine grundsätzliche über den konkreten Einzelfall hinausgehende Bedeutung und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert nicht die Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 ZPO).