Das Verkehrslexikon
OLG München Urteil vom 03.07.2009 - 10 U 1711/09 - Kollision eines wartepflichtigen Kfz mit einem falsch reagierenden Fahrer eines Motorrollers
OLG München v. 03.07.2009: Kollision eines auf eine Vorfahrtstraße einfahrenden Fahrzeugführers mit einem falsch reagierenden Fahrer eines Motorrollers
Das OLG München (Urteil vom 03.07.2009 - 10 U 1711/09) hat entschieden:
- Den Fahrzeugführer, der bei für ihn geltendem Verkehrszeichen "Vorfahrt gewähren" in eine in eine Vorfahrtstraße einfährt, trifft bei einer Kollision mit einem Fahrer eines Motorrollers das ganz überwiegende Verschulden, wenn er freie Sicht auf die Straße und damit auch auf den Motorrollerfahrer hatte und letzterem eine relevante Geschwindigkeitsüberschreitung nicht vorzuwerfen ist.
- Das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers begründet dann kein Verschulden, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgemäße unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert
Siehe auch Unfälle zwischen wartepflichtigem Einbieger und Vorfahrtberechtigtem und Reaktionen aus "Bestürzung, Furcht und Schrecken"
Gründe:
A.
Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).
B.
Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
I.
Das Amtsgericht ging vorliegend im Ergebnis zu Recht von einer Alleinhaftung des Beklagten zu 1) aus.
1. Für den Beklagten zu 1) war nach den Ausführungen des Sachverständigen Dipl.-Ing. S. der Getötete bereits zu Beginn des Einfahrvorganges des Beklagten zu 1) sichtbar, er hatte uneingeschränkte Sicht bis zur Abbiegespur von der B 13. Für den Beklagten zu 1) galt, nachdem zur Klarstellung Zeichen 205 aufgestellt war, nur die Regelung des § 8 II StVO, die gem. § 39 III StVO der strengeren Regel des § 10 StVO vorgeht (Bouska, DAR 1997, 338). Hiergegen hat der Beklagte zu1) schuldhaft verstoßen. Nach den Ausführungen des Sachverständigen beschleunigte der Beklagte zu 1) zudem nur äußerst langsam, was den Einfahrvorgang durch die deshalb längere Verweildauer auf der vom Getöteten befahrenen Fahrbahnseite besonders gefährlich machte.
2. Ein unfallursächliches Verschulden des Getöteten konnte demgegenüber nicht bewiesen werden.
a) Der Sachverständige Dipl.-Ing. S. hat in der mündlichen Verhandlung überzeugend ausgeführt, dass und warum das zum Unfallzeitpunkt erst eine erhebliche Strecke nach der Unfallstelle befindliche Streckenverbot (Wiederholung der Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 60 km/h) bei Einfahrt in die Kreuzstraße für den getöteten Ehemann der Klägerin zunächst nicht zu erkennen war. Der Senat gelangt auf Grund der vom Sachverständigen über die Annäherung an die Unfallstelle gefertigten Fotos (Anlage zur Sitzungsniederschrift vom 03.07.2009) zu dem Ergebnis, dass eine Überschreitung der auf der Kreuzstraße geltenden Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h dem Getöteten nicht vorgeworfen werden kann.
b) Weiter war zwar die Höchstgeschwindigkeit auf der B 13 in südlicher Richtung schon etwa 200 m vor der Kreuzung mit der Kreuzstraße auf 70 km/h beschränkt, eine relevant kausale Geschwindigkeitsüberschreitung lag aber nicht vor. Der Sachverständige hat überzeugend ausgeführt, dass die Kurvengrenzgeschwindigkeit auf der Abbiegespur bei trockener Fahrbahn etwa 90 km/h beträgt und insbesondere, dass auch bei Einhaltung einer Geschwindigkeit von 70 km/h der Getötete, der den Ausfahrvorgang 1,4 sek. vor der Kollision wahrnahm, dann 0,6 sek. später am Kollisionsort angekommen und mit einer Restgeschwindigkeit von noch 54 km/h gegen das Fahrzeug des Beklagten zu 1) im Bereich des rechten Hinterrades mit ebenso tödlichen Folgen geprallt wäre.
c) Der Sachverständige hat darüber hinaus ausgeführt, dass nach Erkennen des Ausfahrvorganges für eine Korrektur der gewählten Fahrlinie keine Zeit mehr war. Eine fehlerhafte Reaktion durch die erfolgte Bremsung, die zum Sturz des Motorrollers führte, kann dem Getöteten vorliegend nicht vorgeworfen werden. Nach ständiger Rechtsprechung begründet das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers dann kein Verschulden, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgemäße unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (RGZ 92, 38; BGH LM Nr. 2 zu § 286 [A] ZPO; VRS 5 [1952] 87; 34 [1967] 434 [435]; 35 [1968] 177; VersR 1953, 337; 1958, 165; 1971, 909 [910]; 1976, 734 = DAR 1976, 184 [185] = NJW 1976, 1504 = MDR 1976, 749; VersR 1982, 443; 2009, 234 (unter II 2 a); KG VersR 1978, 744; 1995, 38; OLG Karlsruhe VersR 1987, 692; OLG Koblenz, Urt. v. 27.10.2003 - 12 U 714/02; OLG Düsseldorf NZV 2006, 415 [416]; NZV 2007, 614 = NJOZ 2007, 5944 [5950] = DAR 2007, 704; Senat, Beschl. v. 11.08.2006 - 10 U 2990/06 und v. 22.08.2007 - 10 U 3101/07; LG Ravensburg SP 1995, 227). Die durch den Ausfahrvorgang seitens des Beklagten zu 1) geschaffene Gefahrenlage hätte sich im Hinblick auf die dargestellten Berechnungen des Sachverständigen nicht relevant anders dargestellt, hätte sich der Getötete mit einer Geschwindigkeit von 70 km/h statt 93 km/h angenähert. Die Besonderheit des vorliegenden Falles liegt in der geringen Beschleunigung durch den Beklagten zu 1) und dem dadurch bedingten langsamen Ausfahrvorgang und der langen Verweildauer auf der Fahrbahn der Kreuzstraße Richtung Oberschleißheim.
3. Es kommt in solchen Fällen nur eine Haftung aus Betriebsgefahr gem. § 7 I StVG in Betracht (BGH VersR 1976, 734 = DAR 1976, 184 [186] = NJW 1976, 1504 = MDR 1976, 749; OLG Koblenz a.a.O.). Diese tritt vorliegend aber gegenüber dem schweren Verschulden des Beklagten zu 1) zurück, der zum Zeitpunkt des Beginns des dargestellten Einfahrvorganges freie Sicht bis zur Abbiegespur und auf den Getöteten hatte.
II.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 97 I, 100 II, IV ZPO
III.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.
IV.
Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, daß die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.