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OLG Frankfurt am Main Urteil vom 11.01.2017 - 16 U 116/16 - Entbehrlichkeit der Rückschau beim Linksabbiegen
OLG Frankfurt am Main v. 11.01.2017: Entbehrlichkeit der Rückschau durch Schulterblick beim Linksabbiegen
Das OLG Frankfurt am Main (Urteil vom 11.01.2017 - 16 U 116/16) hat entschieden:
Ein Linksabbieger kann von der Verpflichtung zur sog. zweiten Rückschau enthoben sein, wenn ein Linksüberholen im besonderen Maß verkehrswidrig wäre und aus diesem Grund so fernliegt, dass sich der nach links Abbiegende auch unter Berücksichtigung der ihn treffenden gesteigerten Sorgfaltspflicht auf eine solche Möglichkeit nicht einzustellen braucht.
Siehe auch Doppelte Rückschaupflicht des Linksabbiegers und Linksabbiegen
Gründe:
I.
Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz nur noch um die Verteilung der Haftungsquoten aus einem Verkehrsunfall, der sich am ... 2014 gegen 20.30 Uhr in Stadt1 auf der Straße1 in Höhe der Einfahrt zu der Firma A ereignet hat. Die Beklagte zu 1. war zunächst mit ihrem bei der Beklagten zu 2. versicherten Kraftfahrzeug von dem in der Nähe liegenden B-Parkplatz auf die Straße1 Richtung Stadt1 aufgefahren. Sie beabsichtigte im weiteren Straßenverlauf nach links auf den Parkplatz der Firma A einzubiegen. Wegen der örtlichen Verhältnisse nimmt der Senat auf die von den Beklagten im Termin vorgelegten und als Anlage 1 zum Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 19. August 2015 genommenen Fotos, Bl. 59 bis 61 d.A. Bezug. Sie verlangsamte ihre Fahrt auf etwa 20 bis 25 km/h und fuhr in diesem Tempo. Hinter ihr befand sich das Fahrzeug der Zeugen C und D Nachname1. Der Kläger befuhr die Straße1 in gleicher Richtung. Beim Herannahen an das Fahrzeug der Zeugen Nachname1 und der Beklagten zu 1. entschied er sich, diese Fahrzeuge wegen der langsamen Fahrt zu überholen und begann damit nach Ende der durchgezogenen Mittellinie. Er kollidierte im Bereich des Mittelstreifens mit dem Fahrzeug der Beklagten zu 1., da diese inzwischen mit der Einfahrt in den Parkplatz der Firma A begonnen hatte.
Wegen der in 1. Instanz gestellten Anträge und zur weiteren Darstellung des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Feststellungen in dem landgerichtlichen Urteil Bezug genommen, soweit ihnen nicht die Feststellung in dem Berufungsurteil entgegenstehen (§ 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO).
Das Landgericht hat durch Urteil vom 4. Mai 2016 die Klage abgewiesen. Nach informatorischer Anhörung der Parteien und Beweisaufnahme ist es zu dem Ergebnis gekommen, dass der Kläger den Unfall grob verkehrswidrig verursacht habe und ihn die Alleinhaftung für die Unfallschäden treffe. Dabei ist es insgesamt bei der Feststellung des Sachverhaltes dem von den Beklagten geschilderten Unfallhergang gefolgt. Entscheidend war danach, dass der Kläger als Dritter in einer sich nach und nach verlangsamenden Fahrzeugschlange die zwei vor ihm fahrenden Fahrzeuge trotz des dort bestehenden Überholverbots (Verkehrszeichen 276 StVO) und in unklarer Verkehrslage überholt hat. Die Beklagte zu 1. habe - dies entnimmt das Gericht den Angaben der Zeugen Nachname1 - ihre Abbiegeabsicht durch Blinken und die deutliche Verlangsamung der Fahrt angezeigt. Zwar habe die Beklagte zu 1. den zweiten gebotenen Schulterblick unmittelbar vor Einleitung des Richtungswechsels unterlassen, dieses Fehlverhalten trete aber mit Blick auf das grob verkehrswidrige Verhalten des Klägers zurück. Die Beklagte zu 1. habe angesichts der unklaren Verkehrslage nicht mit dem Überholen eines nachfolgenden Fahrzeuges rechnen müssen.
Gegen dieses, dem Kläger in der berichtigten Fassung am 30. Mai 2016 zugestellte Urteil hat der Kläger am 9. Juni 2016 Berufung eingelegt, die er am 13. Juli 2016 begründet hat. Der Kläger wendet sich gegen die vollständige Abweisung seiner Klage. Er ist der Ansicht, das Landgericht habe rechtsfehlerhaft die Betriebsgefahr auf Seiten der Beklagten nicht haftungserhöhend berücksichtigt, sie habe jedenfalls 1/3 der Mithaftung zu tragen. Schließlich sei zu Unrecht außer Betracht geblieben, dass die Beklagte zu 1. als Abbiegende in ein Grundstück als Linksabbiegerin nach § 9 Abs. 5 StVO eine erhöhte Sorgfaltspflicht treffe. Schließlich habe die Beklagte zu 1. ihre doppelte Rückschaupflicht verletzt, da sie jedenfalls den zweiten Schulterblick unterlassen habe.
Der Kläger beantragt:
Das Urteil des Landgerichts Hanau vom 4. Mai 2016 (Az.: 4 O 475/15) wird aufgehoben und wie folgt abgeändert:
Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 5.335,12 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz hieraus seit dem 31. März 2015 zu zahlen.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Die Beklagten verteidigen die angegriffene Entscheidung.
Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Parteien gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
II.
1. Die Berufung des Beklagten ist zulässig (§§ 511, 517, 520 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Für den Lauf der Fristen kommt es auf die Zustellung des Urteilsberichtigungsbeschlusses vom 30. Mai 2016 an den Kläger am 2. Juni 2016 an.
2. Das Rechtsmittel des Klägers ist aber unbegründet. Zu Recht hat die Kammer des Landgerichts jedenfalls im Ergebnis die Klage abgewiesen und ist nach Würdigung der Ergebnisse der Beweisaufnahme zu dem Ergebnis gelangt, dass das Unterlassen des 2. Schulterblicks vorliegend im Rahmen der Gesamtabwägung aller Verursachungsanteile der Beteiligten nicht ins Gewicht fällt. Die Berufungsrügen hiergegen erweisen sich nicht als erfolgreich, da die angefochtene Entscheidung nicht auf einer Rechtsverletzung beruht und die dem Berufungsverfahren zugrunde zu legende Tatsachen keine andere Entscheidung rechtfertigen (§§ 513, 529, 546 ZPO).
a. Zwar ist es richtig wie der Kläger mit seiner Berufung geltend macht, dass den Abbiegenden in ein Grundstück als Linksabbieger nach § 9 Abs. 5 StVO eine erhöhte Sorgfaltspflicht trifft und gerade die zweite Rückschau vor Einleiten der Richtungsänderung beim Abbiegen einen gewichtigen Sorgfaltsmangel darstellen kann, da hierdurch gerade vermieden werden soll, dass der nachfolgende oder ein etwa überholender Verkehr im letzten Moment übersehen wird. Dies gehört zum Kernbestand der gefestigten Rechtsprechung, auf die der Kläger zu Recht hinweist. Dies gilt allerdings nicht uneingeschränkt.
Ein Linksabbieger kann von der Verpflichtung zur sogenannten zweiten Rückschau enthoben sein, wenn ein Überholen aus technischen Gründen nicht möglich ist oder wenn ein Linksüberholen im besonderen Maß verkehrswidrig wäre und aus diesem Grund so fernliegt, daß sich der nach links Abbiegende auch unter Berücksichtigung der ihn treffenden gesteigerten Sorgfaltspflicht auf eine solche Möglichkeit nicht einzustellen braucht (OLG Frankfurt Urteil vom 7. Februar 2005 - 1 U 223/04; OLG Celle, Urteil vom 8. Dezember 1977 - 5 U 39/77; OLG Koblenz, Urteil vom 3. Juni 1976 - 1 Ss 194/76, alle zitiert nach iuris; Jagusch, Straßenverkehrsrecht, 21. Auflage § 9 Rdn 25; Lafontaine in: Freymann/Wellner, jurisPK-StrVerkR, 1. Aufl. 2016, § 41 StVO, Rn 265.). Im Übrigen muss, wer eine Kolonne überholt, nach den Örtlichkeiten sicher sein, dass kein Vorausfahrender links abbiegen will (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl. 2015, § 5 Rn 2 und 40). So lag der Fall hier. Der Senat nimmt zunächst auf die Ausführungen der Entscheidung des Landgerichts Bezug und macht sich diese zu Eigen. Danach hat der Kläger grob verkehrswidrig gegen § 5 Abs. 3 Nr. 2 und Nr. 1 StVO verstoßen, da er in unklarer Verkehrslage und bei einem durch Verkehrszeichen angeordneten Überholverbot die vor ihm fahrenden Fahrzeuge der Zeugen Nachname1 und der Beklagten zu 1. überholt hat und dabei den am Fahrzeug der Beklagten zu 1. gesetzten Blinker übersehen hat. Diese Feststellungen werden mit der Berufung auch nicht angegriffen.
Entgegen der Ansicht der Berufung und der Ansicht des Landgerichts war angesichts der festgestellten besonderen örtlichen Umstände und der von allen Beteiligten - auch dem Kläger - erkannten konkreten Verkehrslage aber die zweite Rückschau der Beklagten zu 1. tatsächlich nicht mehr geboten. Denn die Beklagte zu 1. musste aus mehreren Gründen nicht mit dem Überholen eines noch hinter dem Fahrzeug der Zeugen Nachname1 fahrenden PKW zu diesem Zeitpunkt rechnen.
Nach den Angaben beider Zeugen Nachname1 war es nämlich so, dass die Beklagte zu 1. schon einige Zeit vor dem Abbiegen in die Einfahrt der Firma A ihre Fahrt verlangsamt hatte und deshalb auch die unmittelbar hinter ihr fahrenden Zeugen Nachname1 ihre Geschwindigkeit angepasst hatten und ebenfalls nur noch mit etwa 20 bis 25 km/h hinter der Beklagten zu 1. fuhren. Dieser Sachverhalt ist unstreitig, da dies auch der Kläger in seiner informatorischen Anhörung im Termin am 19. August 2015 so zum Gegenstand seines Sachvortrages gemacht hat. Diese Angaben sind nach prozessualen Grundsätzen als Parteivortrag i.S. des § 138 ZPO zu bewerten. Dabei hat der Kläger ferner dargelegt, dass er schon etwa 400 bis 500 m direkt hinter beiden Fahrzeugen gefahren war, er deren Verlangsamung der Fahrt auf eine Geschwindigkeit von etwa 20 bis 25 km/h bemerkt und dies - nach Ende der durchgezogenen Linie - zum Anlass für ein Überholen beider Fahrzeuge genommen hatte. Tatsächlich bestand aber zu diesem Zeitpunkt noch ein durch Verkehrszeichen 276 angeordnetes Überholverbot, wie das Landgericht im Rahmen der Beweisaufnahme durch Einholung einer Auskunft der Verkehrsbehörden mit der Berufung unangefochten festgestellt hat.
Die Verlangsamung der Fahrt geschah auch nicht ohne für die herannahenden Fahrzeuge ersichtlichen Grund, sondern im engen räumlichen Einmündungsbereich der Einfahrt zum A, die zudem gut sichtbar mit mehreren großen Fahnen markiert ist. Dies entnimmt der Senat den zur Akte gereichten Bilder der Anlage 1 zu Protokoll der Sitzung vom 19. August 2015, die die konkreten örtlichen Umstände belegen und in der Sache ebenfalls unstreitig geblieben sind.
Hinzu kommt, dass sich der Unfall zwischen der Ausfahrt des Parkplatzes des Möbelhauses B und den Einmündungen des Parkplatzes der Firma A ereignet hat, was der Kläger ebenfalls in seiner informatorischen Befragung dargelegt hat. Es liegt aber nach der Lebenserfahrung gerade im engen räumlichen Nebeneinander von Parkplatz-Ein- und -Ausfahrten derartiger Firmen nahe, dass hier mit Ein- und Ausfahrenden Fahrzeugen tatsächlich auch zu rechnen ist. Dies gilt umso mehr, wenn wie hier ein Fahrzeug bereits seine Geschwindigkeit deutlich verlangsamt und den Blinker gesetzt hat. Dies enthebt die abbiegenden Fahrzeuge zwar nicht von ihrer besonderen Pflicht zur Beachtung der Sorgfalt beim Linksabbiegen, wie dies die Berufung zu Recht geltend macht. Dennoch durfte der Kläger im Angesicht der von ihm tatsächlich erkannten unklaren Verkehrslage in dieser Situation überhaupt nicht überholen, da er nach den Örtlichkeiten und des Verhaltens der Zeugen Nachname1 und der Beklagten zu 1. nicht sicher sein durfte, dass eines der vorausfahrenden Fahrzeuge hier doch links abbiegen würden. Dagegen musste die Beklagte zu 1. mit dem Überholen des Klägers im Einmündungsbereich zum Parkplatz der Firma A nicht rechnen. Denn es bestand ein Überholverbot, das der Kläger offenbar nach dem festgestellten Sachverhalt nur nicht bemerkt hatte. Die Beklagte zu 1. hatte ferner ihre beabsichtigte Richtungsänderung durch Blinken und Verlangsamung der Fahrt deutlich angezeigt. Die Einfahrt war ferner mit Fahnen deutlich markiert.
b. Angesichts dieser örtlichen und tatsächlichen Umstände wirkte sich auch die Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten zu 1. nicht haftungsbegründend zu Lasten der Beklagten aus, wie dies der Kläger mit der Berufung rügt. Denn diese tritt hinter das grobe Verschulden des Klägers vollständig zurück.
c. Die besonderen tatsächlichen Umstände lassen auch eine Heranziehung der Wertungen aus den vom Kläger zur Begründung seiner Auffassung herangezogenen Entscheidungen des OLG Karlsruhe vom 12. September 1997, NZV 99, S. 166, des OLG Stuttgart vom 5. November 1952, VRS 5, 15des OLG Braunschweig vom 27. Dezember 1992, NZV 93, S. 479, des OLG Frankfurt vom 7. Dezember, VM 73, S. 86 und des Bundesgerichtshofs vom 26. März 1956 nicht zu. Dort lagen insgesamt völlig andere Sachverhalte und örtliche Verhältnisse der Bewertung der Haftungsquoten zugrunde, die auf diesen Rechtsstreit nicht übertragbar sind.
3. Da das Rechtsmittel des Klägers erfolglos war, hat er nach § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten des Berufungsverfahrens zu tragen. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ist den §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO, 26 Nr. 8 EG ZPO entnommen.
Die Revision war nicht gemäß § 543 Abs. 2 S. 1 ZPO zuzulassen, da die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordert. Es handelt sich vielmehr hier um die Bewertung und Würdigung von Einzeltatsachen und Indizien und die Anwendung anerkannter Rechtsgrundsätze auf den Einzelfall. Diesen kommt über den Prozess hinaus selbst keine weitere Bedeutung zu.
Der Streitwert war gemäß § 3 entsprechend der Beschwer nach dem Berufungsantrag wie festzusetzen.