Das Verkehrslexikon
OLG Naumburg Urteil vom 23.11.1999 - 9 U 319/98 - Alleinhaftung des Überholers bei geringfügiger Seitwärtsbewegung des Überholten
OLG Naumburg v. 23.11.1999: Alleinhaftung des Überholers bei geringfügiger Seitwärtsbewegung des Überholten
Das OLG Naumburg (Urteil vom 23.11.1999 - 9 U 319/98) hat entschieden:
Der Überholende muss sich auf die Möglichkeit geringfügiger seitlicher Fahrbewegungen des zu Überholenden einstellen. Selbst dann, wenn das überholte Fahrzeug in seiner Fahrspur derart nach links herauszieht, dass die linken Reifen um etwa eine Reifenbreite über den Mittelstreifen hinausragen, kann die Betriebsgefahr des überholten Fahrzeugs völlig zurücktreten - Veranlasst ein Pkw-Fahrer, der gerade überholt werden soll, durch eine für den Überholenden überraschende, nicht angekündigte geringfügige Seitwärtsbewegung seines Fahrzeugs bis hin (etwa) zur Mittellinie ein Ausweichen des Überholers und "Verreißen" seines Fahrzeugs auf der ausreichend breiten Straße, so führt dies nicht zur Mithaftung des Fahrers, der überholt werden sollte.
Siehe auch Überholen und Reaktionen aus „Bestürzung, Furcht und Schrecken“ - die Schrecksekunde
Tatbestand:
Hinsichtlich des in erster Instanz vorgenommenen Parteivorbringens und der dort gestellten Parteianträge wird gem. § 543 Abs. 1 ZPO auf den Tatbestand des landgerichtlichen Urteils verwiesen.
Gegen das den Beklagten am 10.11.1998 und dem Kläger am 11.11.1998 zugestellte Urteil haben die Beklagten am 10.12.1998 und der Kläger am 11.12.1998 Berufung eingelegt. Nachdem beiden Parteien die Berufungsbegründungsfrist bis zum 11.02.1999 verlängert worden war, hat der Kläger seine Berufung mit am 08.02.1999 beim Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz vom selben Tage begründet; die Beklagten haben ihre Berufung mit am 11.12.1999 beim Oberlandesgericht eingegangenen Schriftsatz vom selben Tage begründet.
Der Kläger hat während des Berufungsverfahrens seine Vollkaskoversicherung in Anspruch genommen, die den Fahrzeugschaden sowie die Abschleppkosten am 12.11.1998 reguliert hat, so dass sich der Schaden insoweit auf die Selbstbeteiligung i.H.v. 2.000.- DM reduziert hat. Die Inanspruchnahme der Vollkaskoversicherung hat zu einer Rückstufung des Schadensfreiheitsrabattes geführt. Der Kläger beansprucht weiterhin den Ersatz der Gutachterkosten, der Kosten für den Feuerwehreinsatz, der Kosten für die An- und Abmeldung, der Kosten für die Reparatur der Uhr sowie die Unkostenpauschale; er wendet sich nicht gegen die vom Landgericht für die Kleidungsstücke veranschlagten 100.- DM.
Der Kläger nimmt Bezug auf sein erstinstanzliches Vorbringen. Ergänzend trägt er in zweiter Instanz erstmals vor, die Beklagte sei geringfügig bis über die Mittellinie gewechselt, habe ihr Vorhaben dann aber abgebrochen und sich wieder auf der rechten Fahrspur eingeordnet. Ihm könne nicht angelastet werden, dass er nicht gleichzeitig gebremst und gelenkt habe. Er habe richtigerweise versucht, "so schnell wie möglich" wieder auf die sicher erscheinende befestigte Fahrbahn zu gelangen. Den Begrenzungspfahl habe er erst nach seinem Ausweichmanöver gestreift. Bereits der Anscheinsbeweis spreche hier für ein Alleinverschulden der Erstbeklagten. Die Uhr sei bei dem Unfall vom Handgelenk weggeschleudert und später defekt im Fahrzeug aufgefunden worden.
Der Kläger beantragt,
- in Abänderung des am 30.10.1998 verkündeten Urteils des Landgerichts Dessau die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an den Kläger 5.471,10 DM nebst 7,57 % Zinsen seit dem 13.11.1998 sowie 7,57 % Zinsen aus 49.920,18 DM für die Zeit vom 31.01. bis 12.11.1998 sowie weitere 850,30 DM nebst 5,57 % Zinsen ab Zustellung seiner Berufungsbegründung zu zahlen.
- festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger den Schaden zu ersetzen, der aus der Inanspruchnahme der Kfz-Kaskoversicherung (K. AG , Snr.: ...) für die Regulierung des Fahrzeugschadens aus dem Unfall vom 18.11.1997 resultiert/resultieren wird.
Die Beklagten beantragen,
das am 30.10.1998 verkündete Urteil des Landgerichts Dessau abzuändern und die Klage abzuweisen.
Die Beklagten wiederholen ihr erstinstanzliches Vorbringen und tragen ergänzend vor: Die Beklagte zu 1) habe ihr Fahrzeug innerhalb der linken Fahrspur gehalten. Der Kläger sei bereits beim Ausscheren aus der Fahrzeugkolonne auf den Seitenstreifen gefahren und habe dort einen Begrenzungspfahl berührt. Der Kläger habe bei unklarer Verkehrslage überholt, sein 340 PS starkes Fahrzeug nicht beherrscht und es pflichtwidrig unterlassen zu bremsen. Der Kläger übersehe, dass es in vorliegendem Fall zu keinem vollendeten Fahrstreifenwechsel der Beklagten zu 1) gekommen sei.
Entscheidungsgründe:
I.
Beide Berufungen sind zulässig; insbesondere sind sie statthaft sowie form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 511, 511 a, 516, 518, 519 ZPO).
II.
In der Sache hat nur die Berufung der Beklagten Erfolg, denn die zulässige Klage ist sowohl hinsichtlich des Zahlungsantrages als auch beider Feststellungsanträge unbegründet:
Dem Kläger steht gegen die Beklagten kein Anspruch auf Schadensersatz nach §§ 18 StVG, 3 Nr. 1 PflVG zu, denn er hat die überragende Unfallursache selbst gesetzt, der gegenüber bei der haftungsbestimmenden Abwägung der unfallursächlichen Momente nach § 17 StVG auf Seiten der Beklagten zu 1) der - nicht erhöhten - Betriebsgefahr ihres Pkw kein teilhaftungsbegründendes Eigengewicht beizumessen ist.
Bei einem Fahrstreifenwechsel, der in Zusammenhang mit einem Überholvorgang steht, ist der den Wechsel von Fahrstreifen regelnde § 7 Abs. 5 StVO entgegen der Auffassung des Klägers nicht anwendbar, weshalb die insoweit von ihm zitierte Rechtsprechung nicht einschlägig ist. Vielmehr ist hier der das Überholen regelnde § 5 StVO maßgeblich (Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl., § 7 StVO, Rn. 17). Der Vorausfahrende muss das Überholtwerden möglichst erleichtern, vor allem durch korrektes Rechtsfahren (Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl., § 5 StVO, Rn. 62). Auch wenn er selbst nicht überholen will und die Positionsveränderung innerhalb der rechten Fahrbahn nur vornimmt, um etwa bessere Sicht an dem vorausfahrenden Pkw vorbei zu gewinnen, darf er dies nicht, ohne sich zuvor im Rückspiegel darüber zu vergewissern, ob er nicht durch die Änderung seiner Fahrlinie ein gerade zum Überholen ansetzendes Fahrzeug gefährdet (OLG Hamm, VersR 1987, 692 für die Änderung der Fahrlinie um 1,2 m). Auf die Möglichkeit geringfügiger seitlicher Fahrbewegungen des zu Überholenden muss sich der Überholende allerdings einstellen (vgl. OLG Hamm, r+s 1997, 107 = VRS 1997, 182). Selbst dann, wenn das überholte Fahrzeug derart nach links herauszieht, dass die linken Reifen um etwa eine Reifenbreite über den Mittelstreifen hinausgeraten, kann die Betriebsgefahr des überholten Fahrzeugs völlig zurücktreten (OLG Köln, VRS 1987, 13, 17). Darüber hinaus ist es ein allgemeiner Erfahrungssatz, dass die Betriebsgefahr eines überholenden Wagens höher liegt als die Betriebsgefahr des überholten Wagens (BGH, VersR 1958, 268, 269 f).
Lässt sich zum Verschulden nichts feststellen, darf jedem Unfallbeteiligten nur seine Betriebsgefahr zugerechnet werden. Nur unstreitige, zugestandene, erwiesene und erwiesenermaßen schadensursächliche Tatsachen zählen. Bleibt der Unfallhergang ungeklärt, so ist die von beiden Parteien jeweils zugestandene Fahrweise zu Grunde zu legen (vgl. OLG Schleswig, VersR 1982, 709; Jagusch/Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 35. Aufl., StVG, § 1, Rn. 5, 17).
Die Beklagte zu 1) zog in dem Augenblick, in dem sie vom Kläger überholt wurde, nach der glaubhaften Aussage der Zeugin Sch. nach links. Dem steht nicht entgegen, dass der im Fond der Beklagten zu 1) mitfahrende Zeuge W. seinem Gefühl nach nur eine Geradeausbewegung wahrnahm, denn er arbeitete gerade eine Partitur durch und konnte sich daher nicht auf den Verkehr konzentrieren. Die Zeugin Sch. konnte allerdings nicht sagen, wie weit die Beklagte zu 1) nach links zog, meinte aber, die Mittellinie sei allenfalls geringfügig überschritten worden; die Beklagte zu 1) habe wohl nur schauen wollen, ob sie überholen könne. Auch der Sachverständige konnte hierzu keine Feststellungen treffen. In der ersten Instanz war allerdings unstreitig, dass die Beklagte zu 1) die Mittellinie nicht überfahren hatte; der Kläger war insoweit nur der Meinung, darauf komme es gar nicht an. Für seinen in der zweiten Instanz erstmals gebrachten Vortrag, die Beklagte zu 1) habe die Mittellinie überfahren, hat der Kläger keinen Beweis angetreten.
Der Kläger hingegen lenkte bereits nach eigener Aussage, als er mit den linken Rädern auf den Seitenstreifen gekommen war, "etwas zu stark" nach rechts. Nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen in der Form der Würdigung des Landgerichts, der sich der Senat anschließt, lenkte der Kläger, als er sich noch hinter dem Fahrzeug der Beklagten zu 1) befand, ohne dabei zu beschleunigen, zunächst nach links und dann in einer kräftigen Bewegung nach rechts, wodurch er die Gewalt über das Fahrzeug verlor.
Damit steht erwiesenermaßen nur fest, dass der Kläger das Steuer nach rechts verrissen hat. Ein erheblicher Fehler der Beklagten zu 1) ist demgegenüber nicht feststellbar, denn es steht nicht positiv fest, dass sie erheblich nach links oder gar auf die Überholspur gezogen ist. Eine insgesamt nur geringfügige seitliche Fahrzeugbewegung war jedoch kein zureichender Anlass für die sich selbst gefährdende Reaktion des Klägers. Ein besonnener vernünftiger Kraftfahrer hätte sein Fahrzeug auf der ausreichend breiten Straße nicht verrissen, sondern weiter geradeaus gehalten und sich von der leichten seitlichen Bewegung des Fahrzeugs der Beklagten zu 1) nicht irritieren lassen. Der Kläger musste während des Überholens mit geringfügigen seitlichen Bewegungen der überholten Fahrzeuge rechnen und sich darauf einstellen. Das Verhalten der Beklagten zu 1) hätte er als möglich voraussehen und gefahrlos meistern müssen; mit seiner Fahrweise hat er sich selbst offenbar überfordert. Bei dieser Sachlage ist der - nicht erhöhten - Betriebsgefahr des Fahrzeugs der Beklagten zu 1) im Rahmen der Abwägung nach § 17 Abs. 1 S. 2 StVG kein teilhaftungsbegründendes Eigengewicht beizumessen (vgl. OLG Hamm, r + s 1997, 107 = VRS 1997, 182).
Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers dann nicht vorwerfbar ist, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn selbst nicht vorhersehbaren Gefahrenlage keine Zeit zur ruhigen Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgemäße unternimmt, um einen Unfall zu vermeiden, sondern in verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (OLG Frankfurt, VersR 1981, 737, 738). Diese Voraussetzungen liegen hier aber nicht vor, wenn die Beklagte zu 1) innerhalb ihrer Fahrspur geblieben ist und keine allzu große Bewegung nach links gemacht hat, denn dies ist kein Grund für eine verständliche Bestürzung (siehe oben).
III.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 91 Abs. 1, 97 Abs. 1 ZPO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO. Die Beschwer hat der Senat gem. § 546 Abs. 2 ZPO festgesetzt. Die Revision ist nicht zugelassen (§ 546 Abs. 1 u. 2 ZPO).