Das Verkehrslexikon

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BGH Urteil vom 20.01.1998 - VI ZR 59/97 - Zum Mitverschulden wegen Nichtanlegen des Sicherheitgurtes

BGH v. 20.01.1998: Zum Mitverschulden wegen Nichtanlegen des Sicherheitgurtes


Der BGH (Urteil vom 20.01.1998 - VI ZR 59/97) hat zum Mitverschulden wegen Nichtangurtung entschieden:
Der Tatrichter ist nicht gehindert, im Einzelfall den Geschädigten trotz Verstoßes gegen die Anschnallpflicht aus § 21 a Abs. 1 StVO im Rahmen der Abwägung der Unfallbeiträge nach § 254 Abs. 1 BGB von der Mithaftung für die Unfallschäden freizustellen.


Siehe auch Sicherheitsgurt und Anschnallpflicht und Sicherheitsgurt - Tateinheit oder Tatmehrheit beim Zusammentreffen mit anderen Verstößen


Zum Sachverhalt: Der Kläger befand sich unangeschnallt in halb liegender Position auf der Rückbank seines Pkw, der von einem Kfz. frontal getroffen wurde, dessen Führer absolut fahruntauglich war und bei hoher Geschwindigkeit ins Schleudern und auf die Gegenfahrbahn geraten war.

Der Haftpflichtversicherer hatte nur 2/3 reguliert; der BGH hat vollen Ersatz zugesprochen.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Es ist außer Streit, daß der Kl. gegen die Anschnallpflicht aus § 21 a StVO verstoßen hat. Weiter ist zugunsten der Bekl. davon auszugehen, daß diese Pflichtverletzung bei der Entstehung des Schadens des Kl., um dessen Ersatz es hier geht, mitgewirkt hat. Damit hängt nach § 254 Abs. 1 BGB die Verpflichtung der Bekl. zum Ersatz sowie der Umfang des zu leistenden Ersatzes von den Umständen, insbesondere davon ab, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder dem anderen Teil verursacht worden ist.

Der BGH legt - der Rechtsprechung des RG (vgl. etwa RGZ 156 [193 und 202] m. w. N.) folgend - § 254 Abs. 1 BGB dahin aus, daß bei der Abwägung in erster Linie das Maß der Verursachung maßgeblich ist, in dem die Beteiligten zur Schadensentstehung beigetragen haben; das beiderseitige Verschulden ist nur ein Faktor der Abwägung (vgl. Senat vom 9. 7. 1968 - VI ZR 171/67 - VersR 68, 1093 m. w. N.). Es kommt danach für die Haftungsverteilung entscheidend darauf an, ob das Verhalten des Schädigers oder das des Geschädigten den Eintritt des Schadens in wesentlich höherem Maß wahrscheinlich gemacht hat (vgl. Senat vom 12. 7. 1988 - VI ZR 283/87 - VersR 1988, 1238 [1239] m. w. N.). Die unter diesen Gesichtspunkten vorzunehmende Abwägung kann in besonderen Fallgestaltungen zu dem Ergebnis führen, daß einer der Beteiligten allein für den Schaden aufkommen muß (vgl. hierzu im einzelnen Staudinger/Medicus, BGB 12. Aufl. § 254 Rdn. 109 f.).

Danach ist grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, daß das Berufungsgericht den Unfallbeitrag des Kl. im Rahmen der Abwägung nach § 254 Abs. 1 BGB außer Betracht gelassen hat. Der Umstand, daß der Kl. durch das Nichtangurten nicht nur seine eigenen Schutzinteressen vernachlässigt, sondern zugleich gegen eine Rechtspflicht verstoßen und ordnungswidrig gehandelt hat (§ 49 Abs. 1 Nr. 20 a StVO), läßt die Befugnis des Tatrichters, den Schadensbeitrag des Kl. bei der Abwägung nach § 254 Abs. 1 BGB außer Ansatz zu lassen, grundsätzlich unberührt. Zwar gewinnt der Schadensbeitrag eines Geschädigten, der sich zugleich als Verstoß gegen eine Rechtspflicht darstellt, für die Abwägung ein erhöhtes Gewicht. Eine solche Rechtspflichtverletzung ist nämlich nicht etwa mit jedem Schadensbeitrag verbunden, der zur Anwendung des § 254 Abs. 1 BGB führt. Allerdings ist die Abwägung der Schadensbeiträge nach dieser Vorschrift davon abhängig, daß bei der Entstehung des Schadens ein "Verschulden" des Beschädigten mitgewirkt hat.

Dabei versteht § 254 Abs. 1 BGB unter dem Begriff des Verschuldens jedoch nicht die vorwerfbare Verletzung einer Dritten gegenüber bestehenden Rechtspflicht, sondern die Außerachtlassung derjenigen Sorgfalt, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt (vgl. Senat BGHZ 74, 25 [28] = VersR 1979, 528 [529]). Dies bedeutet, daß in Fällen, in denen - wie hier - in der Vernachlässigung der eigenen Schutzinteressen zugleich ein Verstoß gegen eine Rechtspflicht liegt, den Geschädigten ein gewichtigerer Vorwurf trifft. Damit ist für solche Fälle der Weg zu einer vollen Haftungsfreistellung des Geschädigten jedoch nicht etwa von vornherein versperrt. Eine Abwägung, bei der der Unfallbeitrag des Geschädigten zurücktritt, bedarf in solchen Fällen allerdings einer besonderen Rechtfertigung.

2. Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler ausgeführt, daß hier ein solcher rechtfertigender Ausnahmefall vorliegt. Das Gewicht, das der Verletzung der Anschnallpflicht bei der Abwägung der Schadensbeiträge zukommt, ist nicht für alle Fälle konstant (vgl. Senat vom 30. 9. 1980 - VI ZR 213/79 - VersR 1981, 57 [59]). Seine Bewertung hängt vielmehr von den Umständen des Falls ab, insbesondere von dem Gewicht der Verursachungs- und Verschuldensbeiträge des Schädigers. Bei der Gewichtung dieser Beiträge ist das Berufungsgericht im Streitfall rechtsfehlerfrei zu dem Ergebnis gelangt, daß die Gefahr, die von einem mit voller Geschwindigkeit bei Dunkelheit auf der Gegenfahrbahn fahrenden Kfz ausgeht, ungewöhnlich hoch ist. Hinzu tritt das gleichfalls als außergewöhnlich hoch zu bewertende Verschulden des Erstbekl., der sich mit einer BAK von (etwa) 1,83 0/00 mit seinem Fahrzeug in den Verkehr begeben hat. Gegenüber dem Gewicht dieser Verursachungs- und Verschuldensbeiträge des Erstbekl. konnte das Berufungsgericht den Unfallbeitrag des Kl. trotz des Verstoßes gegen § 21 a Abs. 1 StVO ohne Rechtsfehler als vergleichsweise gering einstufen und bei der Abwägung nach § 254 Abs. 1 BGB außer Ansatz lassen.

Dem hält die Revision ohne Erfolg entgegen, der Senat habe in BGHZ 119, 268 (271) (= VersR 1992, 1529 [1530]) entschieden, daß einem Kfz-Insassen, dessen Unfallverletzungen durch die Benutzung des Sicherheitsgurts vermieden oder vermindert worden wären, das Nichtangurten nur dann nicht nach § 254 Abs. 1 BGB als Mitverschulden angelastet werden könne, wenn für ihn nach §§ 21 a Abs. 1, 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 b StVO keine Gurtanlegepflicht bestanden habe bzw. wenn ihm eine Ausnahmegenehmigung nach der letztgenannten Vorschrift auf Antrag hätte erteilt werden müssen. In dieser Entscheidung ging es darum, ob dem Geschädigten überhaupt eine Verletzung der Anschnallpflicht vorgeworfen werden kann. Zur Abwägung der Verursachungs- und Verschuldensbeiträge hat der Senat dort zwar ausgeführt, daß einem Kfz- Insassen, der den Sicherheitsgurt nicht anlegt, "grundsätzlich" ein Mitverschulden an seinen infolge der Nichtanlegung des Gurts erlittenen Unfallverletzungen zur Last fällt. Das bedeutet aber nicht, daß im Einzelfall der Unfallbeitrag des nichtangeschnallten Geschädigten bei der Abwägung nach § 254 Abs. 1 BGB nicht völlig zurücktreten darf. ..."







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