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Landgericht Frankfurt am Main Urteil vom 30.12.2004 - 2-19 0 135/03 - Zum Anscheinsbeweis für einen nicht angelegten Sicherheitsgurt

LG Frankfurt am Main v. 30.12.2004: Zum Anscheinsbeweis für einen nicht angelegten Sicherheitsgurt


Das Landgericht Frankfurt am Main (Urteil vom 30.12.2004 - 2-19 0 135/03) hat entschieden:
  1. Der Anscheinsbeweis spricht für einen nicht angelegten Sicherheitsgurt, wenn der Geschädigte aus dem Fahrzeug geschleudert wird.

  2. Der Anscheinsbeweis kann nicht dadurch entkräftet werden, dass ein Verletzungsbild vorgetragen wird, das auch durch einen angelegten Sicherheitsgurt verursacht worden sein kann.

  3. Der nicht angeschnallte Beifahrer muss sich ein Mitverschulden in Höhe von einem Drittel zurechnen lassen.

Siehe auch Sicherheitsgurt und Anschnallpflicht und Sicherheitsgurt - Tateinheit oder Tatmehrheit beim Zusammentreffen mit anderen Verstößen


Zum Sachverhalt: Am 25. ... 2000 ereignete sich auf der Verbindungsstraße G ein Verkehrsunfall. Ein bei der Bekl. versichertes Kfz kam bei einer Geschwindigkeit von cirka 110 km/h beim Einscheren nach einem Überholvorgang von der Fahrbahn ab und überschlug sich mehrmals. Der Beifahrer, ein Bundeswehrangehöriger, wurde bei diesem Unfall erheblich verletzt. Die Kl. machte aus abgetretenem Recht Ansprüche in Höhe von € 19 261,60 gegenüber der Bekl. geltend. Die Bekl. zahlte an die Kl. zunächst den entsprechenden Betrag und macht nunmehr einen Mitverschuldensanteil des Bundeswehrangehörigen von 1/3 geltend. Die Kl. behauptet, der Bundeswehrangehörige sei zum Zeitpunkt des Verkehrsunfalles vom 25. . 2000 angeschnallt gewesen. Bei mehrmaligem Überschlagen könne ein Beifahrer auch im angeschnallten Zustand herausgeschleudert werden, insbesondere, wenn der Gurt nicht ganz fest sitze und der Beifahrer eine extreme Sitzposition eingenommen habe. Die Bekl. behauptet, der Bundeswehrangehörige sei zum Zeitpunkt des Verkehrsunfalles vom 25. ... 2000 nicht angeschnallt gewesen. Wäre er angeschnallt gewesen, wären die bei dem Unfall erlittenen Verletzungen nicht eingetreten.

Die Klage wurde nach Beweisaufnahme abgewiesen.


Aus den Entscheidungsgründen:

"... Der Kl. steht gegen die Bekl: der erhobene Schadensersatzanspruch aus den §§ 7 StVG und 823 ff. BGB i.V.m. § 3 Ziff. 8 PflVersG nicht zu. Zwar ist auf Grund des unstreitigen Unfallereignisses vom 12. 12. 2001 ein solcher Anspruch gegen die bekl. Haftpflichtversicherung zunächst entstanden. Jedoch ist der Anspruch durch unstreitige Teilzahlung und durch die von der Bekl. erklärte Aufrechnung mit einem erhobenen Rückerstattungsanspruch bereits vor Klageerhebung erloschen.

Denn der Bekl. stand die zur Aufrechnung gestellte Gegenforderung aus § 812 BGB zu, weil sie zu Unrecht der Kl. den vollen Schaden aus dem Unfallereignis vom 25. . 2000 erstattet hat. Der dem Grunde nach unstreitige Anspruch der KI. aus den §§ 7, 8 StVG, 823 ff. BGB, 30 III SoldatenG und 87a Bundesbeamtengesetz war auf Grund eines nicht unerheblichen Mitverschuldens des verletzten Beifahrers um mindestens 1/3 zu reduzieren.

Es ist im vorliegenden Fall nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises zu Gunsten der für das Nichtanliegen des Gurtes beweisbelastete (OLG Düsseldorf, SP 2001, 47f.) Bekl. zu vermuten, dass der Zeuge W bei dem Unfallereignis vom 25. ... 2000 nicht angeschnallt war (1.), und die Kl. konnte jene Vermutung auch nicht entkräften (2.).

1. In der Rechtsprechung ist anerkannt, dass mittels eines Anscheinsbeweises nicht nur von einem feststehenden Verhalten auf den Zusammenhang mit einem eingetretenen Erfolg, sondern auch umgekehrt von einem eingetretenen Erfolg auf ein bestimmtes Verhalten als Ursache geschlossen werden kann (z. B. BGH, VersR 1956, 577 und 1965, 772). Auch für den Beweis, dass ein Fahrzeuginsasse nicht angeschnallt war, kann daher auf den Anscheinsbeweis zurückgegriffen werden (OLG Bamberg, VersR 1985, 786, 787; 1982, 1075). Voraussetzung für die Anwendung des Anscheinsbeweises ist, dass ein typischer Geschehensablauf vorliegt (so BGHZ 2, 1; 5; 11, 227, 230; 31, 351, 357; 104, 323, 330). Deshalb kann auch demjenigen, der einen Kraftfahrzeugunfall verursacht hat, bzw. der hierfür in Anspruch genommenen Versicherung, für die Behauptung, der verletzte Kraftfahrzeuginsasse sei nicht angeschnallt gewesen, nur dann der Anscheinsbeweis zu Gute kommen, wenn sich auf Grund eines allgemeiner Erfahrungssatzes der Schluss aufdrängt, dass der erlittene Schaden bei der Art und Weise des Verkehrsunfalls einzig darauf zurückgeführt werden kann, dass der Beifahrer nicht angeschnallt war (BGH, VersR 1991, 195; 1981, 548; OLG Zweibrücken, VersR 1993, 454.

Diese Voraussetzung ist hier erfüllt. Es stellt einen typischen Lebenssachverhalt dar, dass ein Beifahrer, der bei einem Verkehrsunfall mit Überschlag aus dem Kfz herausgeschleudert wird, nicht angeschnallt gewesen ist. Dies entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, weil es den Normalfall darstellt, dass ein angeschnallter Beifahrer bei einem Unfall von dem Gurt in dem Auto gehalten wird. Hingegen besteht zwischen dem Unterbleiben des Anschnallens und das Verlassen des Autos ein dem Regelfall entsprechender Ursachenzusammenhang, der dem üblichen und Gewöhnlichen entspricht. Dies um so mehr, wenn - wie hier - der eine Insasse bei dem Unfall aus dem Kfz geschleudert wird, während der andere Insasse beim selben Unfall nahezu unverletzt bleibt. Dem entsprechend hat auch der Sachverständige in seinem Gutachten ausgeführt, dass Fälle, in denen eine angeschnallte Person beim Unfall aus dem Auto befördert wird, extrem selten sind. Zwar kann der Sachverständige einen solchen Fall nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, jedoch ist ein vollkommener Ausschluss der Möglichkeit auch gar nicht erforderlich. Es genügt für die Annahme eines Anscheinsbeweises bereits, wenn das fehlende Anschnallen der Normalfall ist, und das Anliegen des Gurtes einen absoluten Ausnahmefall darstellt, was nach der Einschätzung des Sachverständigen hier gegeben ist.

2. Allerdings greift der Anscheinsbeweis nicht ein, wenn das Schadensgeschehen Umstände aufweist, die es ernsthaft als möglich erscheinen lassen, dass der Unfall anders abgelaufen ist als nachdem „Muster” der der Anscheinsregel zu Grunde liegenden Erfahrungstypik. Die nicht auszuschließende reine Denkmöglichkeit, dass ein bestimmtes Schadensereignis auch durch eine andere Ursache ausgelöst worden ist als derjenigen, für die der Anscheinsbeweis spricht, reicht allerdings noch nicht aus, um den Anscheinsbeweis zu erschüttern (BGH, VersR 1991, 195, 196; OLG Düsseldorf, SP 2001, 47 f.). Der Hinweis auf eine solche Möglichkeit eines anderen Verlaufes genügt daher noch nicht zu seiner Entkräftung. Es müssen vielmehr besondere Umstände hinzukommen, die wegen dieser Abweichungen des Sachverhalts von den typischen Sachverhalten einen solchen Geschehensablauf als ernsthafte, ebenfalls in Betracht kommende Möglichkeit nahe legen (BGH, VersR 1978, 945).

Es kann jedoch weder davon ausgegangen werden, dass das Herausschleudern des Zeugen W trotz eines angelegten Sicherheitsgurtes stattgefunden hat, noch, dass ein Gurtversagen ernsthaft in Betracht kommt.

Die Entkräftung des Anscheinsbeweises wäre zum einen möglich gewesen, wenn die vernommenen Zeugen glaubhaft geschildert hätten, dass der Zeuge W angeschnallt gewesen ist, was sie jedoch nicht getan haben. (Wird ausgeführt).

Eine Entkräftung hätte weiter möglich sein können, wenn eine der von dem Sachverständigen in seinem Gutachten aufgeführten Alternativen, bei denen trotz angelegten Gurtes ein Schleudern aus dem Auto gegeben sein kann, plausibel dargelegt gewesen wäre. Dies ist indes ebenfalls nicht gegeben. Es ist weder dargelegt noch aus den sonstigen Akteninhalten ersichtlich, dass die von dem Sachverständigen bezeichneten Schadensbilder eines Auseinanderziehens des Kfz oder einer seitlichen Krafteinwirkung gegeben waren. Ebenso wenig ist ersichtlich, dass eine ungünstige Knickstelle der Rückenlehne gegeben war.

Es ist auch weder dargelegt, noch ergibt sich aus den Aussagen des Zeugen irgendein Anhalt dafür, dass der Zeuge W eine nicht ordnungsgemäße Position eingenommen hätte. Abgesehen davon dürfte selbst bei Annahme eines diesbezüglichen Anhaltspunktes jedenfalls ein Mitverschulden des Zeugen W von 1/3 immer noch gegeben sein.

Auch ist nicht dargetan, dass am Gurt Materialfehler oder sonstige Risse gegeben waren. Hiergegen spricht auch, dass ausweislich der dienstlichen Stellungnahmen der Polizeibeamten die Sicherheitsgurte einer Kontrolle unterzogen wurden, bei der keine Beschädigungen festgestellt werden konnten. Zur Entkräftung des Anscheinsbeweises genügt letztlich auch nicht das von der Kl. vorgetragene Verletzungsbild bei dem Zeugen W. Ausweislich der Arztberichte der Universität M und des Bundeswehrkrankenhauses B lag bei dem Zeugen W eine Thoraxverletzung mit Schürfungen vor, die zu einem angelegten Sicherheitsgurt passen würde. In beiden Arztberichten wird aber sodann ausgeführt, dass zwingende Rückschlüsse auf einen angelegten Gurt nicht gezogen werden können. Im Arztbericht der Universität M wird ausgeführt, die erlittene Thoraxverletzung allein erlaube keinen Rückschluss darauf, ob der Gurt angelegt gewesen sei. Im Arztbericht des Bundeswehrkrankenhauses B wird angegeben, die Verletzungen ließen keine Rückschlüsse darauf zu, ob der Zeuge W angegurtet gewesen sei oder nicht. Das Verletzungsbild ist damit für die Annahme eines angelegten Gurtes bzw. zur Entkräftung der Vermutung, dass ein solcher nicht angelegen hat, ebenfalls nicht hinreichend.

Konnte die Vermutung des nicht angelegten Gurtes somit nicht entkräftet werden, hat die Bekl. zu Recht ein Mitverschulden des Zeugen W an dem Entstehen seiner Verletzungen von 1/3 angenommen. Einem Kfz-Insassen, der den Sicherheitsgurt nicht anlegt, fällt grundsätzlich ein Mitverschulden (§ 254 1 BGB) an seinen infolge der Nichtanlegung des Gurtes erlittenen Unfallverletzungen zur Last (BGHZ 74, 25 ff., BGH, VersR 1983,153;1981, 548; 1979, 532). Dieses wird in der Regel mit einem Drittel veranschlagt (so OLG Düsseldorf, SP 2001, 47f.; OLG Saarbrücken, PvR 2003, 14f.), wie es die Bekl. auch im vorliegenden Fall zu Recht in Ansatz gebracht hat. ..."