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Zum grundlosen Bremsen des Vorausfahrenden und anschließendem Auffahrunfall

Rechtsprechung: Zum grundlosen Bremsen des Vorausfahrenden und anschließendem Auffahrunfall


Siehe auch Auffahrunfall - Bremsen des Vorausfahrenden



Für den Fall des grundlosen Bremsens des Vorausfahrenden ist entschieden worden, dass mindestens Schadensteilung vorzunehmen ist (KG VerkMitt 82, 88 für grundloses Bremsen bei Grün nach dem Anfahren), bzw. können sogar noch höhere Haftungsquoten des Vorausfahrenden in Betracht kommen (60 % zu Lasten des Vorausfahrenden bei grundlosem Bremsen auf der linken Fahrspur einer Bundesstraße, OLG Koblenz VRS 68, 251; überwiegende Haftung des Vorausfahrenden bei grundlosem Bremsen auf der Autobahn, OLG Düsseldorf MDR 74, 42).


Wenn allerdings nicht gerade ein den zuvor genannten Ausnahme-Beispielen vergleichbarer Fall vorliegt, wenn also zwar feststeht, dass der Vorausfahrende grundlos gebremst hat, dies aber innerhalb des gewöhnlichen fließenden Stadtverkehrs erfolgte, so kann der Vorausfahrende und grundlos Abbremsende immer noch in der Regel 2/3 seines Schadens ersetzt verlangen, der Auffahrende hingegen nur 1/3 (vgl. z.B. KG VersR 76, 370; DAR 76, 16).

Zur Haftungsverteilung bei grundlosem Bremsen des Vorausfahrenden hat das Kammergericht Berlin DAR 2006, 506 f. (Urt. v. 13.02.2006 - 12 U 70/05) entschieden:

  1.  Treffen starkes Bremsen ohne zwingenden Grund sowie Unaufmerksamkeit und/oder unzureichender Sicherheitsabstand zusammen, so fällt der Beitrag des Auffahrenden grundsätzlich doppelt so hoch ins Gewicht; das führt dazu, dass der Auffahrende vom Vorausfahrenden regelmäßig Schadensersatz nach einer Quote von 1/3 verlangen kann.

  2.  Die Mithaftung des Vorausfahrenden ist umso größer, je unwahrscheinlicher ein starkes plötzliches Abbremsen ist.

  3.  Vollzieht der mit einem Automatik-Fahrzeug nicht vertraute Vorausfahrende in einem Abstand von 75–100 m vor einer roten Ampel plötzlich eine Vollbremsung, weil er mit dem linken Fuß – in der Vorstellung, eine Kupplung zu treten – kräftig auf die Bremse tritt, kommt im Verhältnis zu dem unaufmerksamen Auffahrenden eine Haftungsverteilung 50:50 in Betracht.

Viele Beispiele aus der Rechtsprechung finden sich im Modul Auffahrunfall - Bremsen des Vorausfahrenden.

Da bei einem Auffahrunfall der Anscheinsbeweis zunächst gegen den Auffahrenden spricht und dies in der Regel die volle Haftung zur Folge hat, muss für die Annahme einer Mithaftung des Vorausfahrenden der Anscheinsbeweis widerlegt werden:

OLG Karlsruhe v. 20.12.2012:
Bei einem Auffahrunfall wird der Anscheinsbeweis für einen schuldhaften Verkehrsverstoß des Auffahrenden (zu geringer Abstand und/oder Unaufmerksamkeit) in der Regel auch dann nicht erschüttert, wenn der Fahrer des vorderen Fahrzeugs ohne verkehrsbedingten Anlass eine abrupte Bremsung durchgeführt hat. Bei einer abrupten Bremsung ohne äußeren Anlass liegt allerdings gleichzeitig ein schuldhafter Verkehrsverstoß des vorausfahrenden Fahrzeugführers vor; bei einem Auffahrunfall kann eine Haftungsquote von 50 % in Betracht kommen.

OLG München v. 14.02.2014:
Bei einem typischen Auffahrunfall haftet der Auffahrende grundsätzlich allein und in voller Höhe. Im Allgemeinen spricht der Beweis des ersten Anscheins gegen denjenigen, der auf ein vor ihm (vorwärts) fahrendes oder stehendes Fahrzeug fährt, weil der Auffahrende in diesen Fällen entweder zu schnell, mit unzureichendem Sicherheitsabstand oder unaufmerksam gefahren ist. Der Auffahrende kann den gegen ihn sprechenden Anscheinsbeweis erschüttern oder ausräumen, wenn er Umstände darlegt und beweist (nicht etwa nur behauptet), die die ernsthafte Möglichkeit eines anderen atypischen Geschehensablaufs ergeben.

OLG Hamm v. 31.08.2018:
Der Anscheinsbeweis gegen den Auffahrenden kann allenfalls erschüttert sein, wenn eine grundlose Vollbremsung mit der nötigen Gewissheit im Sinne des § 286 ZPO bewiesen ist.

Das Landgericht Saarbrücken (Urteil vom 04.10.2019 - 13 S 69/19) lehnt es zwar ausdrücklich ab, den Anscheinsbeweis bei grundlosem Abbremsen des Vorausfahrenden als erschüttert anzusehen, geht aber im Rahmen der Haftungsabwägung dann doch wieder davon aus, das es das grundlose Abbremsen als feststehend ansieht und so zum offenbar gewünschten Ergebnis der Schadensteilung kommt:

   Der gegen den Auffahrenden sprechende Anscheinsbeweis kann nach allgemeinen Grundsätzen dadurch erschüttert werden, dass ein atypischer Verlauf, der die Verschuldensfrage in einem anderen Lichte erscheinen lässt, von dem Auffahrenden dargelegt und bewiesen wird (BGH, st. Rspr., vgl. Urteil vom 13.12.2016 - VI ZR 32/16, NJW 2017, 1177; vom 16.01.2007 a.a.O. m.w.N.). Dies gilt etwa in Fällen, in denen der Nachfolgende auf ein vorausfahrendes Fahrzeug auffährt, weil dieses durch ein Fahrzeug verdeckt war, das erst im letzten Moment durch einen Fahrspurwechsel den Blick freigegeben hat, oder weil das vorausfahrende Kfz unvorhersehbar und ohne Ausschöpfung des Anhalteweges "ruckartig" - etwa infolge einer Kollision - zum Stehen kommt (BGH, Urt. v. 9.12.1986 – VI ZR 138/85, VersR 1987, 358).

c) Soweit dies in Rechtsprechung und Literatur auch in Betracht gezogen wird, wenn dem Auffahrenden der Nachweis gelingt, dass der Vorausfahrende sein Fahrzeug ohne zwingenden Grund stark abgebremst hat (vgl. OLG Frankfurt/M NJW 2007, 87; Burmann in Burmann ua, Straßenverkehrsrecht, 25. Aufl. 2018, StVO § 4 Rn. 24; Helle in: Freymann/Wellner, a.a.O., Rn. 51.1; König in Hentschel ua, Straßenverkehrsrecht, 45. Aufl. 2019, § 4 StVO Rn. 37; Jaeger NJW 2017, 2628, jew. mwN; offen gelassen in BGH, Urt. v. 24.6.1969 – VI ZR 40/68, VersR 1969, 859), vermag dem die Kammer nicht zu folgen. Ein plötzliches scharfes Bremsen des Vorausfahrenden muss ein nachfolgender Kraftfahrer grundsätzlich einkalkulieren, weshalb der Anscheinsbeweis nicht dadurch erschüttert wird, dass das vorausfahrende Fahrzeug durch eine Vollbremsung oder Notbremsung zum Stillstand kommt (BGH, Urt. v. 16.1.2007 – VI ZR 248/05, DAR 2008, 337). Das Gebot ausreichenden Sicherheitsabstandes dient dazu, dem nachfolgenden Kraftfahrer die Möglichkeit zu eröffnen, nach Ablauf der Reaktionszeit ein Auffahren zu verhindern, wenn das vorausfahrende Kfz aus irgend welchen Gründen – dies kann auch ein willkürliches Herabsetzen der Geschwindigkeit sein - seine Geschwindigkeit plötzlich vermindert (BGH, Urt. v. 30. März 1962 – 4 StR 12/62 –, BGHSt 17, 223). Auf den Grund des Abbremsens kommt es folglich nicht an, insbesondere setzt der Anscheinsbeweis ein verkehrsgerechtes Verhalten des Vorausfahrenden nicht voraus (vgl. BGH, Urt. v. 6.10. 1959 - VI ZR 191/58, NJW 1960, 99; König in Hentschel ua. aaO mwN). Mithin muss sich ein nachfolgender Kraftfahrer auch dann auf ein plötzliches Bremsen einrichten, wenn es ohne – für den Hinterherfahrenden erkennbaren – Anlass erfolgt, selbst wenn das Abbremsen verkehrswidrig ist und gegen § 4 Abs. 1 Satz 2 StVO verstößt (vgl. OLG Karlsruhe NJW 2017, 2626;OLG Köln, B. v. 9.2.2017 – 19 U 155/16 –, juris, Wenker, jurisPR-VerkR 12/2013 Anm. 1; Greger/Zwickel, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 5. Aufl. 2014, § 38 Rn. 87; BeckOK ZPO/Bacher, 29. Ed. 1.7.2018, ZPO § 284 Rn. 95.1, jew. mwN; offengelassen von OLG Hamm NJW-RR 2019, 283). Fährt folglich ein Kfz auf das vorausfahrende Fahrzeug auf, das durch eine Vollbremsung oder Notbremsung zum Stillstand kommt, kann dies typischerweise nur darauf beruhen, dass der nachfolgende Fahrzeugführer nicht den gebotenen Abstand eingehalten oder unaufmerksam war, sofern nicht aufgrund anderer Umstände (zB vorausgehender Spurwechsel, vgl. BGH, Urt. v. 13. Dezember 2016 – VI ZR 32/16, DAR 2017, 196) der Unfall auch bei sorgfaltsgerechtem Verhalten des Auffahrenden eingetreten sein kann. Weil solche Umstände hier nicht gegeben sind – das Beklagtenfahrzeug hat auf freier Strecke grundlos (fast) bis zum Stillstand abgebremst – greift der Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Klägers ein.

4. Im Rahmen der Abwägung beider Verursachungsbeiträge ist die vom Kläger geltend gemachte Haftungsteilung nicht zu beanstanden. Beim starken Bremsen ohne zwingenden Grund ist die Gefahr, die für den nachfolgenden Verkehr entsteht, gewichtig, so dass eine Mithaftung von 50% angemessen erscheint (vgl. die Nachweise bei Geigel/Freymann, Der Haftpflichtprozess, 27. Aufl., Kap. 27 Rn. 149). Nichts anderes gilt, wenn ein Abbremsen zum Stillstand außerorts auf freier Strecke ohne erkennbaren Grund erfolgt.

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