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Bundesverfassungsgericht Beschluss vom 04.05.2021 - 2 BvR 868/20 - Versagung umfassender Akteneinsicht im Bußgeldverfahren verletzt Anspruch auf faires Verfahren

BVerfG v. 04.05.2021: Versagung umfassender Akteneinsicht im Bußgeldverfahren verletzt Anspruch auf faires Verfahren




Das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 04.05.2021 - 2 BvR 868/20) hat entschieden:

   Aus dem Recht auf ein faires Verfahren (Art 2 Abs 1 iVm Art 20 Abs 3 GG) kann grundsätzlich ein Anspruch auf Einsicht des Betroffenen in nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgen. Eine Versagung eines solchen Akteneinsichtsrechts wird dieser Gewährleistung nicht gerecht, weil es die Verteidigungsmöglichkeiten des Betroffenen einschränkt.

Siehe auch
Akteneinsichtsrecht in die Rohmessdaten von Messgeräten
und
Geschwindigkeitsverstöße - Nachweis - standardisierte Messverfahren


Anmerkung:
Beachte auch die Parallelentscheidung vom gleichen Tag - 2 BvR 277/19 -.

Gründe:


I.

Mit seiner Verfassungsbeschwerde wendet sich der Beschwerdeführer gegen eine Verurteilung im Bußgeldverfahren wegen einer Geschwindigkeitsüberschreitung sowie die Nichtzulassung der Rechtsbeschwerde. Die dem Ordnungswidrigkeitenvorwurf zugrundeliegende Geschwindigkeitsmessung erfolgte mittels eines standardisierten Messverfahrens mit dem Messgerät PoliScan Speed M1. Vor der Verurteilung hatte der Beschwerdeführer erfolglos Zugang zu außerhalb der Bußgeldakte befindlichen Informationen, hierunter die Messdaten, die Statistikdatei und die Case-​List, begehrt, um eine eigenständige Überprüfung der Ordnungsmäßigkeit des Messergebnisses vorzunehmen.





II.

1. Der Beschwerdeführer macht mit seiner Verfassungsbeschwerde insbesondere eine Verletzung seines Rechts auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) geltend. Er rügt unter anderem, dass ihm infolge der Entscheidungen der Fachgerichte die Möglichkeit einer eigenständigen Überprüfung des Messergebnisses und damit die Formulierung von konkreten Einwendungen gegen das standardisierte Messverfahren unzulässig erschwert worden seien. Dies stelle sich insbesondere angesichts des Gebots der Waffengleichheit als verfassungswidrig dar.

2. Dem Bayerischen Staatsministerium der Justiz und dem Generalbundesanwalt ist Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Die Akten des Ausgangsverfahrens haben der Kammer vorgelegen.




III.

Die Kammer nimmt die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung an und gibt ihr statt, da dies zur Durchsetzung des Grundrechts des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG angezeigt ist (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG). Die Voraussetzungen für eine stattgebende Entscheidung durch die Kammer liegen vor (§ 93c Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

Das Urteil des Amtsgerichts und die Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts über die Rechtsbeschwerde verletzen den Beschwerdeführer in seinem Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG). Die Fachgerichte haben verkannt, dass aus dem Recht auf ein faires Verfahren für den Beschwerdeführer grundsätzlich ein Anspruch auf Zugang zu den nicht bei der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen folgen kann. Die generelle Versagung des Begehrens des Beschwerdeführers auf Informationszugang, welches dieser im fachgerichtlichen Verfahren hinreichend geltend gemacht hat, wird deshalb der aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG folgenden Gewährleistung nicht gerecht. Entgegen der Annahme der Fachgerichte handelt es sich hierbei auch nicht um eine Frage der gerichtlichen Aufklärungspflicht, sondern der Verteidigungsmöglichkeiten des Betroffenen (vgl. BVerfG, Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 12. November 2020 - 2 BvR 1616/18 -, Rn. 47 ff.; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats vom 28. April 2021 - 2 BvR 1451/18 -, Rn. 5). Auf dieser Fehlannahme beruht die Entscheidung des Bayerischen Obersten Landesgerichts. Es ist auch nicht auszuschließen, dass bereits die Verurteilung des Beschwerdeführers auf dem Verstoß des Amtsgerichts Rosenheim gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens beruht.



IV.

1. Hiernach ist festzustellen, dass das Urteil des Amtsgerichts Rosenheim vom 25. November 2019 - 9 OWi 460 Js 27680/19 - und der Beschluss des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 20. April 2020 - 202 ObOWi 488/20 - den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzen.

2. Beide Entscheidungen waren aufzuheben (§ 93c Abs. 2 i.V.m. § 95 Abs. 2 BVerfGG). Die Sache ist zur erneuten Entscheidung an das Amtsgericht Rosenheim zurückzuverweisen.

3. Die Entscheidung über die Auslagenerstattung beruht auf § 34a Abs. 2 BVerfGG.

Diese Entscheidung ist unanfechtbar.

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