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BGH Urteil vom 13.04.2021 - VI ZR 276/20 - Zur Bewertung des zum sog. Dieselskandal führenden Verhaltens als sittenwidrig

BGH v. 13.04.2021: Zur Bewertung des zum sog. Dieselskandal führenden Verhaltens als sittenwidrig




Der BGH (Urteil vom 13.04.2021 - VI ZR 276/20) hat entschieden:

   Für die Bewertung eines schädigenden Verhaltens als sittenwidrig im Sinne von § 826 BGB ist in einer Gesamtschau dessen Gesamtcharakter zu ermitteln und das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens beim konkreten Geschädigten zugrunde zu legen.

Siehe auch
Rechtsprechung zum Themenkomplex „Schummelsoftware“ - Diesel-Abgasskandal
und
Stichwörter zum Thema Autokaufrecht


Tatbestand:


Der Kläger nimmt den beklagten Motorenhersteller auf Schadensersatz wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung für die Abgasreinigung in Anspruch.

Der Kläger erwarb am 7. April 2016 von einem privaten Verkäufer einen gebrauchten Skoda Octavia RS. Das Fahrzeug ist mit einem Dieselmotor des Typs EA189 ausgerüstet. Die Beklagte ist Herstellerin des Motors. Die Motorsteuerung war mit einer das Abgasrückführungsventil steuernden Software ausgestattet, die erkannte, ob das Fahrzeug auf einem Prüfstand dem Neuen Europäischen Fahrzyklus unterzogen wurde, und in diesem Falle in den Abgasrückführungsmodus 1, einen Stickoxid-​optimierten Modus, schaltete. In diesem Modus fand eine Abgasrückführung mit niedrigem Stickoxidausstoß statt. Im normalen Fahrbetrieb außerhalb des Prüfstands schaltete der Motor dagegen in den Abgasrückführungsmodus 0, bei dem die Abgasrückführungsrate geringer und der Stickoxidausstoß höher ist. Für die Erteilung der Typgenehmigung maßgeblich war der Stickoxidausstoß auf dem Prüfstand. Die Stickoxidgrenzwerte wurden nur im Abgasrückführungsmodus 1 eingehalten.

Vor Abschluss des Kaufvertrags, am 22. September 2015, hatte die Beklagte die Öffentlichkeit in einer Ad-​hoc-​Mitteilung über vorgefundene Auffälligkeiten bei den Abgaswerten von Dieselfahrzeugen informiert. Im Oktober 2015 ordnete das Kraftfahrtbundesamt den Rückruf von Fahrzeugen mit dem Motor EA189 an und wies die Fahrzeughersteller an, Maßnahmen zu entwickeln und zu ergreifen, um die betroffenen Fahrzeuge in einen ordnungsgemäßen Zustand zu versetzen. Am 5. Oktober 2015 teilte Skoda im Rahmen einer Presseerklärung mit, auch Skoda-​Fahrzeuge mit Drei- und Vierzylinder-​Dieselmotoren mit den Hubräumen 1,2 I, 1,5 I und 2,0 I seien vom Dieselskandal betroffen. Dies betreffe mehrere Skoda-​Modelle, u.a. auch den Octavia II. Die Beklagte entwickelte in der Folgezeit ein Software-​Update, das das KBA als geeignet zur Herstellung der Vorschriftsmäßigkeit auch des hier streitgegenständlichen Fahrzeugtyps ansah. Der Kläger ließ das Software-​Update am 17. Mai 2018 durchführen.

Das Landgericht hat die Beklagte zur Erstattung des Kaufpreises in Höhe von 17.900 € nebst Zinsen Zug um Zug gegen Übereignung und Herausgabe des Fahrzeugs und Zahlung einer Nutzungsentschädigung in Höhe von 5.445,90 € verurteilt. Darüber hinaus hat es - soweit im Revisionsverfahren noch von Interesse - festgestellt, dass sich die Beklagte mit der Rücknahme des Fahrzeugs im Annahmeverzug befindet. Auf die Berufung der Beklagten hat das Oberlandesgericht den von der Beklagten zu leistenden Schadensersatz auf 12.454,10 € abzüglich einer weiteren Nutzungsentschädigung in Höhe von 0,06 € für jeden bis zur Rückgabe des Fahrzeugs über den Tachostand von 147.950 km hinaus gefahrenen Kilometer reduziert. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen und die weitergehende Berufung zurückgewiesen. Mit der vom Oberlandesgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter.





Entscheidungsgründe:


I.

Nach Auffassung des Berufungsgerichts hat die Beklagte dem Kläger in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich Schaden zugefügt. Die Schädigungshandlung liege in dem Inverkehrbringen des mit der streitgegenständlichen Umschaltlogik versehenen Motors. Mit dem Inverkehrbringen eines Fahrzeugs bringe der Hersteller konkludent zum Ausdruck, dass das Fahrzeug über eine uneingeschränkte Betriebserlaubnis verfüge, deren Fortbestand nicht aufgrund bereits bei Auslieferung des Fahrzeugs bestehender konstruktiver Eigenschaften gefährdet sei. Der Käufer eines Fahrzeugs könne davon ausgehen, dass im Zeitpunkt des Erwerbs des Fahrzeugs die notwendige EG-​Typgenehmigung vorliege und keine nachträgliche Rücknahme oder Änderung drohe, weil die materiellen Voraussetzungen bereits bei ihrer Erteilung nicht vorgelegen hätten. Das vom Kläger erworbene Fahrzeug habe gerade nicht über eine dauerhaft ungefährdete Betriebserlaubnis verfügt, weil die installierte Motorsteuerungssoftware eine Umschaltlogik enthalten habe, die als unzulässige Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 1 und Abs. 2 VO (EG) 715/2007 zu qualifizieren sei. Diese Erwägungen gälten ungeachtet des Umstands, dass es vorliegend nicht um einen VW, sondern um einen Skoda gehe. Insoweit sei zu berücksichtigen, dass der streitgegenständliche Motortyp von der Beklagten entwickelt, hergestellt und zum Zwecke des Einbaus in diverse Fahrzeuge unterschiedlicher Konzernunternehmen in den Verkehr gebracht worden sei. Der dem Kläger infolge dieses Verhaltens entstandene Schaden liege in dem Abschluss des Kaufvertrags vom 7. April 2016. Das schädigende Verhalten der Beklagten sei kausal für den Kaufvertragsabschluss. Es entspreche der Lebenserfahrung, dass der Kläger vom Kauf des Fahrzeugs Abstand genommen hätte, wenn ihm bekannt gewesen wäre, dass das Fahrzeug zwar formal über eine EG-​Typgenehmigung verfüge, diese aber wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung nicht hätte erhalten dürfen. Der Kausalverlauf sei auch nicht deshalb zu verneinen, weil der Kläger das Fahrzeug erst nach Aufdecken des Dieselabgasskandals und der Veröffentlichung der von der Beklagten abgegebenen Ad-​hoc-​Mitteilung und der Presseerklärung zum Thema VW-​Dieselabgasskandal erworben habe. Die bloße generelle Kenntnis breiter Bevölkerungsschichten von der Dieselabgasproblematik als solcher sei nicht ausreichend, um den Kausalzusammenhang in Zweifel zu ziehen. Abzustellen sei vielmehr auf den konkreten Kenntnisstand des Klägers zum Zeitpunkt des konkreten Kaufvertragsschlusses. Der Kläger habe schlüssig dargetan, zum Erwerbszeitpunkt keine Kenntnis von der Betroffenheit seines Fahrzeugs von dem Dieselabgasskandal gehabt zu haben. In diesem Zusammenhang sei zu berücksichtigen, dass es sich bei dem streitgegenständlichen Fahrzeug um ein Fahrzeug des Herstellers Skoda handle, bei dem sich die mögliche Betroffenheit nicht in gleicher Weise aufdränge wie bei Fahrzeugen der Beklagten. Die Schädigungshandlung der Beklagten sei auch als sittenwidrig zu qualifizieren. Als Beweggrund für das Inverkehrbringen des mit der unzulässigen Abschalteinrichtung versehenen Motors komme allein eine Kostensenkung und Gewinnmaximierung durch hohe Absatzzahlen in Betracht. Zwar sei ein Handeln mit Gewinnstreben nicht per se als verwerflich zu beurteilen. Im Hinblick auf das eingesetzte Mittel sei das Handeln hier aber verwerflich. Die unzulässige Abschalteinrichtung sei in einer hohen Zahl von Fahrzeugen verschiedener Marken des Konzerns verbaut worden mit der Folge einer entsprechend hohen Anzahl getäuschter Käufer. Die subjektiven Voraussetzungen der §§ 826, 31 BGB lägen ebenfalls vor.


II.

Diese Erwägungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Die Revision wendet sich mit Erfolg gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, die Beklagte habe dem Kläger in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise Schaden zugefügt (§ 826 BGB). Das Berufungsgericht hat bei der Prüfung der Sittenwidrigkeit rechtsfehlerhaft allein auf den Zeitpunkt der haftungsbegründenden Handlung abgestellt und das weitere Verhalten der Beklagten bis zum Eintritt des angenommenen Schadens nicht in den Blick genommen. 1. Sittenwidrig ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der in einer Gesamtschau durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Dafür genügt es im Allgemeinen nicht, dass der Handelnde eine Pflicht verletzt und einen Vermögensschaden hervorruft. Vielmehr muss eine besondere Verwerflichkeit seines Verhaltens hinzutreten, die sich aus dem verfolgten Ziel, den eingesetzten Mitteln, der zutage getretenen Gesinnung oder den eingetretenen Folgen ergeben kann (st. Rspr., s. nur Senatsurteile vom 30. Juli 2020 - VI ZR 5/20, ZIP 2020, 1715 Rn. 29; vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 15). Schon zur Feststellung der objektiven Sittenwidrigkeit kann es daher auf Kenntnisse, Absichten und Beweggründe des Handelnden ankommen, die die Bewertung seines Verhaltens als verwerflich rechtfertigen. Die Verwerflichkeit kann sich auch aus einer bewussten Täuschung ergeben (Senatsurteile vom 30. Juli 2020 - VI ZR 5/20, ZIP 2020, 1715 Rn. 29; vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 15; vom 28. Juni 2016 - VI ZR 536/15, NJW 2017, 250 Rn. 16 mwN). Insbesondere bei mittelbaren Schädigungen kommt es ferner darauf an, dass den Schädiger das Unwerturteil, sittenwidrig gehandelt zu haben, gerade auch in Bezug auf die Schäden desjenigen trifft, der Ansprüche aus § 826 BGB geltend macht (Senatsurteile vom 30. Juli 2020 - VI ZR 5/20, ZIP 2020, 1715 Rn. 29; vom 25. Mai 2020 - VI ZR 252/19, BGHZ 225, 316 Rn. 15; vom 7. Mai 2019 - VI ZR 512/17, NJW 2019, 2164 Rn. 8 mwN; Senatsbeschluss vom 19. Januar 2021 - VI ZR 433/19, ZIP 2021, 297 Rn. 14). Fallen die erste potentiell schadensursächliche Handlung und der Eintritt des Schadens - wie im Streitfall - zeitlich auseinander, ist der Bewertung eines schädigenden Verhaltens als (nicht) sittenwidrig das gesamte Verhalten des Schädigers bis zum Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten zugrunde zu legen. Denn im Falle der vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung gemäß § 826 BGB wird das gesetzliche Schuldverhältnis erst mit Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten begründet; der haftungsbegründende Tatbestand setzt die Zufügung eines Schadens zwingend voraus. Deshalb kann im Rahmen des § 826 BGB ein Verhalten, das sich gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als sittenwidrig darstellte, aufgrund einer Verhaltensänderung des Schädigers vor Eintritt des Schadens bei dem konkreten Geschädigten diesem gegenüber als nicht sittenwidrig zu werten sein (Senatsurteile vom 8. Dezember 2020 - VI ZR 244/20, ZIP 2021, 84 Rn. 12; vom 23. März 2021 - VI ZR 1180/20, zVb; Senatsbeschluss vom 9. März 2021 - VI ZR 889/20, zVb, Rn. 13, jeweils mwN). Hiervon ist insbesondere dann auszugehen, wenn wesentliche Elemente, die das bisherige Verhalten des Schädigers gegenüber zunächst betroffenen (anderen) Geschädigten als besonders verwerflich erscheinen ließen, durch die Änderung seines Verhaltens derart relativiert werden, dass der Vorwurf der Sittenwidrigkeit bezogen auf sein Gesamtverhalten gegenüber dem später betroffenen Geschädigten und im Hinblick auf den Schaden, der diesem entstanden ist, nicht gerechtfertigt ist (vgl. Senatsurteile vom 8. Dezember 2020 - VI ZR 244/20, aaO Rn. 14, 17; vom 23. März 2021 - VI ZR 1180/20; Senatsbeschluss vom 9. März 2021 - VI ZR 889/20, Rn. 17 f.).



2. Diesen Grundsätzen genügt die angefochtene Entscheidung nicht. Die Revision rügt zu Recht, dass das Berufungsgericht bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit allein auf den Zeitpunkt der von ihm angenommenen Schädigungshandlung - des Inverkehrbringens des mit der Manipulationssoftware versehenen Motors - abgestellt und der von der Beklagten im Einzelnen aufgezeigten Änderung ihres Verhaltens ab 22. September 2015 in diesem Zusammenhang keine Bedeutung beigemessen hat. Aus seiner Sicht konsequent hat es den Vortrag der Beklagten zu den von ihr getroffenen Maßnahmen zur Information der Öffentlichkeit - auch über die Betroffenheit von Fahrzeugen der Konzernunternehmen - bei der Beurteilung der Sittenwidrigkeit nicht in den Blick genommen und insoweit keine Feststellungen getroffen.

III.

Das Berufungsurteil war daher aufzuheben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen (§ 563 Abs. 1 ZPO).

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