Das Verkehrslexikon

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Verwaltungsgericht Düsseldorf Beschluss vom 19.05.2021 - 6 K 4191/18 - Anliegen einer Schule an einer Straße und Geschwindigkeitsbeschränkung

VG Düsseldorf v. 19.05.2021: Anliegen einer Schule an einer Straße und Geschwindigkeitsbeschränkung




Das Verwaltungsgericht Düsseldorf (Beschluss vom 19.05.2021 - 6 K 4191/18) hat entschieden:

   Eine allgemeinbildende Schule liegt i.S.v. § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO "an" einer Straße, wenn typischerweise eine Vielzahl von Schülern das Schulgelände von der Straße aus betritt bzw. beim Verlassen der Schule unmittelbar vom Schulgelände auf die Straße tritt, die auf Tempo 30 herabgesetzt werden soll.2. Auch wenn eine Schule i.S.v. § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO an einer Straße liegt, verlangt § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO, dass die Straßenverkehrsbehörde durch Betätigung des Entschließungs- und Auswahlermessens entscheidet, ob, über welche Strecke und auf welcher Fahrbahnseite eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h angeordnet werden soll.

Siehe auch
Tempo-30-Zone - Zonengeschwindigkeitsbeschränkungen
und
Verkehrsrechtliche Anordnung von Geschwindigkeitsbeschränkungen


Gründe:


I.

Das Verfahren war einzustellen, weil es in der Hauptsache erledigt ist. Anders als der von § 91a ZPO abweichende Wortlaut des § 161 Abs. 2 VwGO es nahelegen mag, kommt es für die Feststellung der Erledigung nur darauf an, dass die Hauptbeteiligten übereinstimmend die Erledigung erklärt haben. Die übereinstimmenden Erledigungserklärungen von Kläger und Beklagtem beenden den Rechtsstreit in der Hauptsache, ohne Rücksicht darauf, ob tatsächlich Erledigung eingetreten ist.

Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 27. Oktober 1961 - VII C 150.60, NJW 1962, 1076, und vom 14. Oktober 1988 - 9 CB 52.88, NVwZ-​RR 1989, 110, 111; Kopp/Schenke, VwGO (2020), § 161 Rn. 7, 10, 15; Schübel-​Pfister, in: Eyermann, VwGO (2019), § 161 Rn. 6.

Die Kammer findet keinen Grund, dieser längjährig gefestigten allgemeinen Meinung die Gefolgschaft zu versagen. Klägerin und Beklagte haben den Rechtsstreit in diesem Sinne in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt.

Die klägerischen Prozessbevollmächtigten haben eine solche Erledigungserklärung am 15. April 2021 abgegeben. Diese erste Erledigungserklärung ist bereits wirksam, weil die vom verstorbenen Kläger C. erteilte Vollmacht auch über dessen Tod hinaus fortgalt, § 173 VwGO i.V.m. § 86 ZPO. Überdies haben die nunmehr von der Erbin und jetzigen Klägerin erneut bevollmächtigten Prozessbevollmächtigten die Erledigungserklärung am 16. Mai 2021 wiederholt.

Dieser Erledigungserklärung haben die Prozessbevollmächtigten der Beklagten zugestimmt, wenngleich nur hilfsweise unter der Bedingung, dass die Klägerin die Klage nicht mit Schriftsatz vom 13. April 2021 zurückgenommen hat. Diese Bedingung ist eingetreten. Die Klägerin hat die Klage am 13. April 2021 nicht im Sinne von § 92 Abs. 1 Satz 1 VwGO zurückgenommen.




Die Klagerücknahme ist das Gegenstück zur Klageerhebung. Sie ist eine Prozesserklärung, mit der der Kläger erklärt, den begonnenen Rechtsstreit nicht weiter fortführen zu wollen und auf gerichtlichen Rechtsschutz zu verzichten.

Vgl. Peters/Axer, in: Sodan/Ziekow, VwGO (2018), § 92 Rn. 1; Greger, in: Zöller, ZPO (2020), § 269 Rn. 1, 12.

Prozesserklärungen sind entsprechend den für die Auslegung von Willenserklärungen des bürgerlichen Rechts geltenden Grundsätzen (§§ 133, 157 BGB) auszulegen. Maßgebend für die Auslegung einer Prozesserklärung ist der geäußerte Parteiwille, wie er aus der Erklärung und sonstigen Umständen erkennbar wird; der Wortlaut tritt hinter Sinn und Zweck der Prozesserklärung zurück.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 12. Dezember 2000 - 7 B 68.00, NVwZ-​RR 2001, 406.

Gemessen hieran durfte das Vorbringen in dem Schriftsatz der Klägerin vom 13. April 2021 nicht als wirksame Klagerücknahme verstanden werden. Sie hat zwar erklärt, das "Klageverfahren nicht weiterführen" zu wollen. Diese Erklärung lässt sich aber nicht eindeutig als Klagerücknahme verstehen. Denn auch eine Erledigungserklärung führt dazu, dass die Klage nicht weitergeführt wird. Im gegebenen Prozesszusammenhang kann vor allem deswegen nicht ohne Weiteres auf eine Klagerücknahme geschlossen werden, weil die Prozessbevollmächtigten des vormaligen Klägers und nach dem Erbgang auch der Klägerin bereits zuvor eine Erledigungserklärung abgegeben hatten. Diese stand in Widerspruch zu einer eventuellen Klagerücknahmeerklärung der erkennbar juristisch nicht vorgebildeten Klägerin. Die Kammer war deswegen gehalten, bei der Klägerin nachzufragen, um ihren wahren Willen in Erfahrung und diesen zur Geltung zu bringen. Die Klägerin hat durch ihre Prozessbevollmächtigten klargestellt, dass sie den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt. Da nach der Klarstellung keine Zweifel am Erklärungsgehalt ihres Schriftsatzes vom 13. April 2021 mehr bestehen, ist die - zulässige innerprozessuale - Bedingung, an die die Beklagte ihre Zustimmung zur Erledigung geknüpft hatte, eingetreten.





II.

Nachdem die Beteiligten das Verfahren in der Hauptsache übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist über die Kosten gemäß § 161 Abs. 2 VwGO nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zu entscheiden. Die Verfahrenskosten sind grundsätzlich demjenigen aufzuerlegen, der bei der Fortsetzung des Verfahrens voraussichtlich unterlegen wäre.

Dem entspricht es, die Kosten hauptsächlich der Beklagten aufzuerlegen. Das ergibt sich aus der bereits weit fortgeschrittenen Befassung des Gerichts mit der Klage. Nach durchgeführter Ortsbesichtigung hatten die zuständigen Berufsrichter der Kammer den Sach- und Streitstand bereits weitgehend durchdrungen. Im Rahmen ihrer Vorberatungen war bereits eine detaillierte Entscheidungsgrundlage entstanden, als dem Gericht weniger als eine Woche vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung der Tod des ursprünglichen Klägers bekannt wurde. Auf der Grundlage der Vorberatungsunterlagen der Berufsrichter ist dem Gericht daher nicht nur eine überschlägige, sondern eine im Einzelnen begründete Kostenverteilungsentscheidung möglich.

1. M...straße

Da die Beklagte die Beschränkung auf 30 km/h auf der M...straße nach Klageerhebung wieder aufgehoben hat, trägt sie insofern die Kostenlast.

2. C1...straße

Soweit sich die Klage gegen die Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h auf der C1...-straße richtet, dürfte die Klage unzulässig gewesen sein, weil die Klagefrist versäumt gewesen sein dürfte. Insofern sind die Kosten der Klägerin aufzuerlegen.

Verkehrszeichen werden gemäß Art. 43 Abs. 1 Satz 1 VwVfG NRW gegenüber dem Verkehrsteilnehmer in dem Zeitpunkt wirksam, in dem sie ihm bekanntgegeben werden. Sind Verkehrszeichen so aufgestellt oder angebracht, dass sie ein durchschnittlicher Verkehrsteilnehmer bei Einhaltung der nach § 1 StVO erforderlichen Sorgfalt schon mit einem raschen und beiläufigen Blick erfassen kann, äußern sie ihre Rechtswirkungen gegenüber jedem von der Regelung betroffenen Verkehrsteilnehmer

Nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO ist die Klage innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes zu erheben, wenn - wie hier nach § 110 JustizG NRW i.V.m. § 68 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 1 VwGO - die Durchführung eines Widerspruchsverfahrens nicht erforderlich ist. Die Berechnung der Klagefrist richtet sich nach § 57 VwGO; mangels Rechtsmittelbelehrung beträgt die Klagefrist bei Anfechtung amtlicher Verkehrszeichen ein Jahr, § 58 Abs. 2 VwGO.

Die Frist für die Anfechtung eines Verkehrsverbotes, das durch Verkehrszeichen bekannt gegeben wird, beginnt für einen Verkehrsteilnehmer zu laufen, wenn er zum ersten Mal auf das Verkehrszeichen trifft. Die Frist wird für ihn nicht erneut ausgelöst, wenn er sich dem Verkehrszeichen später ein weiteres Mal gegenübersieht. Es hat dann lediglich erinnernde Funktion.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 2010 - 3 C 37.09, BVerwGE 138, 21; OVG NRW, Beschluss vom 27. August 2019 - 8 A 2923/18, NWVBl. 2020, 39.

Das zugrunde gelegt, wahrt die Klage nach Aktenlage die Klagefrist hinsichtlich der Verkehrszeichen auf der C1...-straße nicht, da sie nicht innerhalb eines Jahres seit Aufstellung der Verkehrsschilder erhoben wurde.

Auf Anordnung des Fachbereichs Bauen/Garten/Umwelt, Fachdienst Verkehrsleitung, der Beklagten vom 20. Dezember 2016 stellte die Wirtschaftsbetriebe H. GmbH am 23. Dezember 2016 auf der C1...-straße erstmals Verkehrszeichen Nr. 274 StVO (30 km/h) auf, und zwar zwischen dem Kreise der Kreuzung L. -I. -Straße in Fahrtrichtung P.-​-wall bis zur Kreuzung mit dem P.-​-wall und auf der gleichen Strecke in Gegenrichtung (Beiakte Heft 2 Bl. 18). Auf weitere Anordnung des Beklagten vom 13. Januar 2017 wechselte die Wirtschaftsbetriebe H. GmbH am 17. Januar 2017 die aufgestellten Verkehrszeichen durch größere Exemplare aus und fügte weitere Verkehrszeichen an den Einmündungen F. N. und Alte C2. Straße hinzu (Beiakte Heft 2 Bl. 19). Das Wohnhaus des Klägers, postalisch: C1...-straße 40, liegt an dem Teil der C1...-straße , der auf der die Höchstgeschwindigkeit von 30 km/h angeordnet worden ist. Hier wohnte der vormalige Kläger wohnte bereits vor der erstmaligen Aufstellung der Verkehrszeichen 274 an der C1...-straße .

Nach Aktenlage spricht alles dafür, dass der Kläger die Verkehrszeichen, denen er nicht ausweichen konnte, wenn er sein Haus verließ, gesehen hat. Nach aller Lebenserfahrung trifft typischerweise jeder Anwohner einer Straße kurz nach der Aufstellung der Verkehrszeichen auf diese. Selbst wenn man die ausgewechselten Verkehrszeichen vom 17. Januar 2017 zugrunde legt, lag die am 9. Mai 2018 erhobene Klage mit ganz überwiegender Wahrscheinlichkeit außerhalb der einjährigen Klagefrist.

3. S. Straße

Soweit sich die Klage gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der S. Straße richtet, hätte sie voraussichtlich Erfolg gehabt. Deswegen sind die Kosten insofern der Beklagten aufzuerlegen.

Die Klage war voraussichtlich zulässig. Die Klage dürfte bzgl. der S. Straße fristgemäß (§§ 74 Abs. 1, 58 Abs. 2 VwGO) innerhalb eines Jahres nach der Aufstellung des Verkehrszeichens erhoben worden sein. Nachdem die Beklagte ihre Auffassung zur Klagebefugnis im letzten Schriftsatz vom 11. Mai 2021 geändert hat, und die jetzige Klägerin ausdrücklich für klagebefugt hält, muss die Kammer nicht weiter darauf eingehen. Unabhängig davon, dass die jetzige Klägerin nicht in H. , sondern in L1. wohnt, ist sie gegen ein auch sie belastendes Verkehrszeichen in H. klagebefugt.

Vgl. BVerwG, Urteile vom 21. August 2003 - 3 C 15.03, NJW 2004, 698, und vom 27. Januar 1993- 11 C 35.92, BVerwGE 92, 32.

Die Klage dürfte auch begründet gewesen sein. Die Voraussetzungen, die § 45 Abs. 1 Satz 1, Abs. 9 Satz 1 i.V.m. Satz 4 Nr. 6 StVO für die Beschränkung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit auf 30 km/h vorsehen, sind nach dem jetzigen Stand des Rechtsstreits, also nach erfolgter Ortsbesichtigung durch den Berichterstatter, wohl nicht erfüllt.

Maßgeblich ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung, da es sich bei der Anordnung von Verkehrszeichen um Dauerverwaltungsakte handelt.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. September 2017 - 3 B 50.16, NVwZ-​RR 2018, 12.

a) Nach § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO, der als speziellere Norm §§ 39 Abs. 1, 45 Abs. 9 Satz 1 StVO verdrängt,

vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. September 2017 - 3 B 50.16, NVwZ-​RR 2018, 12,

dürfen insbesondere Beschränkungen und Verbote des fließenden Verkehrs nur angeordnet werden, wenn auf Grund der besonderen örtlichen Verhältnisse eine Gefahrenlage besteht, die das allgemeine Risiko einer Beeinträchtigung der in den vorstehenden Absätzen genannten Rechtsgüter erheblich übersteigt. Für die Annahme einer qualifizierten Gefährdungslage reicht es dabei aus, dass eine entsprechende konkrete Gefahr besteht, die sich aus den besonderen örtlichen Verhältnissen ergibt. Es müssen nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zusätzliche Schadensfälle zu erwarten sein.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 2010 - 3 C 37.09, BVerwGE 138, 21 Rn. 27.

Besondere örtliche Verhältnisse im Sinne von § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO können bei verkehrsbehördlichen Maßnahmen insbesondere in der Streckenführung, dem Ausbauzustand, der zur Verfügung stehenden Fläche für den Fahrzeug- und Fußgängerverkehr, den Ausweichmöglichkeiten, witterungsbedingten Einflüssen, der dort anzutreffenden Verkehrsbelastung, der Verteilung des Verkehrs über den Tag und den daraus resultierenden Unfallzahlen begründet sein.

Vgl. BVerwG, Beschlüsse vom 3. Januar 2018 - 3 B 58.16, juris Rn. 21, und vom 23. April 2013- 3 B 59.12, juris Rn. 9 sowie Urteil vom 23. September 2010 - 3 C 37.09, BVerwGE 138, 21 Rn. 26 m.w.N.

Zur Feststellung, ob eine konkrete Gefahrenlage vorliegt, bedarf es vor allem einer sorgfältigen Prüfung der Verkehrssituation, aber nicht der Ermittlung eines Unfallhäufigkeits-​Prozentsatzes oder vertiefter Ermittlungen zur Frage, wie hoch konkret der Anteil an feststellbaren bzw. zu erwartenden Unfällen ist.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 5. April 2001 - 3 C 23.00, NJW 2001, 3129 = juris Rn. 28.

Das Vorliegen einer Gefahrenlage im Sinne von § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO bestimmt sich nicht allein nach einem Aspekt, sondern wird von einer Gemengelage verschiedener Faktoren beeinflusst.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 23. April 2013 - 3 B 59.12, juris Rn. 9; OVG NRW, Beschluss vom 29. Januar 2019 - 8 A 10/17, juris Rn. 27.

Ihre Annahme setzt nicht voraus, dass sich ein Schadenfall bereits realisiert hat. In den regelmäßig vorliegenden Fällen, dass es bei der Verkehrsbeschränkung bzw. dem Verkehrsverbot um die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben und bedeutende Sachwerte geht, wird auch eine an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit von § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO nicht gefordert. Entscheidend ist vielmehr, ob die konkrete Situation an einer bestimmten Stelle oder Strecke der Straße eine das allgemeine Risiko erheblich übersteigende Gefahrenlage im Hinblick auf die durch § 45 StVO geschützten Rechtsgüter (z. B. Sicherheit des Straßenverkehrs) darstellt und die Befürchtung nahe liegt, dass ohne eine gefahrmindernde Tätigkeit der Straßenverkehrsbehörde mit hinreichender Wahrscheinlichkeit dort Schadensfälle eintreten werden.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 23. September 2010 - 3 C 37.09, BVerwGE 138, 21; OVG NRW, Beschluss vom 29. Januar 2019 - 8 A 10/17 -, juris Rn. 27.

Die Beantwortung der Frage, ob eine solche qualifizierte Gefahrenlage besteht, bedarf einer Prognose, für deren Tatsachenbasis der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in der letzten Tatsacheninstanz maßgeblich ist.

OVG NRW, Beschluss vom 06.06.2019 - 8 B 821/18, NWVBl 2019, 428.

Hieran gemessen dürften die Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO nach dem jetzigen Erkenntnisstand des Gerichts, der aufgrund der Erledigungserklärungen zugrunde zu legen ist, nicht vorliegen.

Die Herabsetzung der nach § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 StVG zulässigen Höchstgeschwindigkeit für Kraftfahrzeuge innerhalb geschlossener Ortschaften von 50 km/h auf 30 km/h stellt eine Beschränkung des fließenden Verkehrs im Sinne von § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO dar.

Das Gericht hätte nach der Ortsbesichtigung wohl keine im vorstehenden Sinne qualifizierte Gefährdungslage feststellen können. Die S. Straße ist mehr als acht Meter breit und mit einem breiten Geh- und Radweg auf der nördlichen, den Schulen und Sozialeinrichtungen zugewandten Seite ausgestattet. Es gibt zwei Richtungsfahrbahnen für den motorisierten Verkehr. Die Straße verläuft weitgehend gerade und ohne Kurven oder Verschwenkungen. Nach dem Eindruck der Kammer aus dem Ortstermin ist der Verlauf der von Nordwesten nach Südosten abfallenden Straße außergewöhnlich übersichtlich. Sichtbehinderungen durch Vegetation oder Ähnliches gibt es nicht. Die Grundschule liegt mehr als 50 m zurückgesetzt von der Straße. An allen nördlicherseits einmündenden Straßen sind Fußgängerampeln installiert, die eine gefahrlose Straßenquerung ermöglichen.

Die Beklagte hat überdies keine Nachweise oder auch nur Anhaltspunkte dafür vorgelegt, dass gleichwohl eine qualifizierte Gefährdungslage vorliegen könnte. Sie hat nicht vorgetragen, dass es auf dem streitgegenständlichen Straßenabschnitt bislang nennenswert zu Unfällen gekommen wäre. Sie hat auch keine Anhaltspunkte für eine Unfallwahrscheinlichkeit anführen können, die über dem allgemein Unfallrisiko liegen, das als Teil des allgemeinen Lebensrisikos hinzunehmen ist. Auch die Polizei, die sich im Laufe des Verwaltungsverfahrens geäußert hat, konnte von keiner besonderen Gefährlichkeit des Straßenstücks berichten.

b) Anders als die Beklagte annimmt, dürfte § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO für die Geschwindigkeitsherabsetzung auf Tempo 30 auf der S. Straße nicht gelten. Die Norm ist nicht gemäß § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO unanwendbar, weil der Tatbestand dieser Ausnahmevorschrift wohl nicht erfüllt ist. Sie regelt: Satz 3 gilt nicht für die Anordnung von innerörtlichen streckenbezogenen Geschwindigkeitsbeschränkungen von 30 km/h (Zeichen 274) nach Absatz 1 Satz 1 auf Straßen des überörtlichen Verkehrs (Bundes-​, Landes- und Kreisstraßen) oder auf weiteren Vorfahrtstraßen (Zeichen 306) im unmittelbaren Bereich von an diesen Straßen gelegenen Kindergärten, Kindertagesstätten, allgemeinbildenden Schulen, Förderschulen, Alten- und Pflegeheimen oder Krankenhäusern.

Eine allgemeinbildende Schule liegt "an" einer der genannten Straßen, wenn typischerweise eine Vielzahl von Schülern das Schulgelände von der Straße aus betritt bzw. beim Verlassen der Schule unmittelbar vom Schulgelände auf die Straße tritt, die auf Tempo 30 herabgesetzt werden soll.

Das ergibt sich noch nicht ohne Weiteres aus dem Wortlaut der Norm. Dieser erlaubt vielmehr auch die Auslegung, dass eine allgemeinbildende Schule bereits dann "an" der Straße liegt, wenn das Schulgrundstück bzw. Schulgelände an die Straße angrenzt oder als Hinterliegergrundstück einen tatsächlichen Zugang zur Straße besitzt, vgl. § 14a StrWG NRW.

Näher: Sauthoff, Öffentliche Straßen, 3. Aufl. (2020), Rn. 362.

Für eine einschränkende Auslegung sprechen aber bereits die allgemeinen Grundsätze der Gesetzesauslegung. Denn nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen sind Ausnahmeregelungen grundsätzlich - wenngleich nicht immer - eng auszulegen.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 21. Juni 2005 - 2 WD 12.04, BVerwGE 127, 302 Rn. 249: "Als Ausnahmevorschrift ist sie mithin nach allgemeinen Auslegungsgrundsätzen ('singularia non sunt extendenda') eng auszulegen."; BVerwG, Urteil vom 25. Juni 2015 - 7 C 1.14, BVerwGE 152, 241 Rn. 34; BVerwG, Urteil vom 3. August 2016 - 4 C 3.15 -, BVerwGE 155, 390 Rn. 19; methodenwissenschaftliche Kritik: Würdinger, Ausnahmevorschriften sind analogiefähig!, JuS 2008, 949, mit umfassenden Literaturnachweisen und rechtshistorischer Herleitung.

Auch der systematische Zusammenhang, in dem die Norm steht, sowie der Sinn und Zweck der Ausnahmeregelung des Satzes 4 gebieten die eingangs dargelegte einschränkende Auslegung. Die im Vergleich zu § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO erleichterten Voraussetzungen, die nach § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO in den Ausnahmefällen des Satzes 4 nur erfüllt sein müssen, dienen der Erhöhung der Verkehrssicherheit an den aufgezählten sensiblen Einrichtungen. Bei den in Satz 4 genannten Ausnahmen soll die Bekämpfung des "Schilderwalds", der Satz 3 vor allem dient, ausnahmsweise unterbleiben. Insbesondere an Schulen sieht der Verordnungsgeber generell eine erhöhte Gefahr für die Verkehrssicherheit, weil die sich dort im Straßenverkehr bewegenden Schüler verkehrsunerfahren sind und sich häufig wenig umsichtig verhalten. Vor Schulbeginn und nach Schulschluss entsteht zudem oftmals eine verkehrlich heikle Lage durch elterlichen Hol- und Bringverkehr mit dem Pkw ("Elterntaxi").

Vgl. BR-​Drs. 332/16 S. 5, 11-​14.

Diese erhöhten Gefahren treten jedoch nicht an jeder Straße auf, die an ein Schulgelände angrenzt. Sie treten nur an den Stellen bzw. Bereichen auf, wo die Schüler nach den konkreten örtlichen Verhältnissen das Schulgelände in großer Zahl ("im Pulk", BR-​Drs. 332/16 S. 11) betreten und verlassen. Die Gefahren treten typischerweise gar nicht an Straßen auf, an denen das Schulgrundstück keinen Zugang bietet.

Würde das bloße Angrenzen ausreichen, könnte etwa auch der Verkehr auf einer Stadtautobahn, an die ein Schulgelände mit einer Seite grenzt, unter den erleichterten Voraussetzungen des § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO und ohne Berücksichtigung von Satz 3 beschränkt werden, obwohl der Schülerstrom mit ihr keine Berührung hat.

Auf die tatsächlich genutzten Hauptzugänge abzustellen entspricht auch der Bundesrats-​Begründung zur Ausnahmevorschrift. So heißt es dort ausdrücklich:

"Nicht zum Tagen kann die Absenkung der Anordnungshürde jedoch für solche Einrichtungen kommen, die nicht mit unmittelbarem Zugang zur Hauptverkehrsstraße ausgestattet sind, sondern sich auf einem abseits gelegenen Gelände befinden."

BR-​Drs. 332/16 S. 13; ähnlich S. 10: "mit Zugang zur Straße".

"Die Einrichtung einer streckenbezogenen Geschwindigkeitsbeschränkung sollte sich in erster Linie auf die tatsächlich benutzten Eingänge erstrecken. Andere relevante Bereiche, wie etwa Nebeneingänge zu z.B. Turnhallen, sind in die Gesamtbetrachtung mit einzubeziehen."
BR-​Drs. 332/16 S. 14.

§ 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 - "Schule" StVO erfasst nicht Nebenzugänge, die regelmäßig nur von wenigen Schülern genutzt werden. Bei kleineren Zugangszahlen treten die Gefahrerhöhungen, denen mit einer erleichterten Anordnung von Tempo 30 entgegengewirkt werden soll, nicht auf.

Regelmäßig ist die Ausnahme des § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 - "Schule" StVO daher nur für Straßen erfüllt, deren Haupteingang an der zu beschränkenden Straße liegt. Grenzt das Schulgrundstück zwar an die zu beschränkende Straße, liegt der Haupteingang aber an einer Nebenstraße, die von der zu beschränkenden Straße abgeht, genügt das regelmäßig nicht, um den Ausnahmetatbestand zu erfüllen. Anderes mag im Einzelfall gelten, wenn der Haupteingang nicht hinreichend tief in der Nebenstraße liegt, also kaum von der zu beschränkenden Straße entfernt ist. Liegt der Haupteingang an abzweigenden Nebenstraßen, bleibt es bei der Grundregel des § 45 Abs. 9 Satz 3 StVO, der für eine Geschwindigkeitsbegrenzung eine qualifizierte Gefahrenlage verlangt.

Die F1. -L2. -Grundschule ist zwar eine allgemeinbildende Schule, liegt aber nicht im Sinne von § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 - "Schule" an der S. Straße. Der Haupteingang liegt an der I1.-​---​-straße , und zwar mit über 50 m hinreichend weit von der S. Straße entfernt. Ein weiterer Eingang liegt an der ebenfalls von der S. Straße abzweigenden Goethestraße. Auch diese liegt mehr als 100 m von der S. Straße entfernt. Der Kindergarten U. grenzt zwar an die S. Straße unmittelbar an. Sein Haupteingang liegt aber ebenfalls nicht an der der S. Straße selbst an. Die Höchstgeschwindigkeit auf der S. Straße vor diesen Einrichtungen ist zudem gar nicht auf Tempo 30 beschränkt, liegt also außerhalb des streitgegenständlichen Straßenbereichs. Die Beklagte hält die Verkehrssituation vor diesen Einrichtungen offensichtlich selbst für ungefährlich. Anders ist nicht erklärlich, warum hier wieder die gesetzliche Regelhöchstgeschwindigkeit von 50 km/h zulässig ist und die Beklagte es hinnimmt, dass die Kraftfahrzeuge unmittelbar vor diesen Einrichtungen wieder von 30 km/h auf 50 km/h beschleunigen.

Dasselbe dürfte für das Kinderheim T1. T2. gelten, selbst wenn man diese Einrichtung gegen den Wortlaut der Ausnahmevorschrift des § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO zuordnen will. Hinzu tritt, dass das Kinderheim vollständig von einer hohen Mauer und einem gesicherten, massiven mannshohen Metalltor verschlossen ist. Es ist allein wegen dieser baulichen Besonderheiten ausgeschlossen, dass aus dieser Einrichtung Kinder ohne Vorsicht auf die Straße laufen.

c) Selbst wenn man gegen die Auffassung des Gerichts annähme, dass eine Ausnahme im Sinne von § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO vorläge und auch in Ansehung von § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO unterstellt, dass eine Reduzierung auf Tempo 30 grundsätzlich möglich sein könnte, dürfte es an der von dieser Norm vorausgesetzten Ermessensbetätigung der Beklagten fehlen. § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO verlangt eine restriktive Verfahrensweise bei der Anordnung von Verkehrsregelungen und es ist stets nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen, ob die Regelung erforderlich ist.

Vgl. BVerwG, Beschluss vom 1. September 2017 - 3 B 50.16, NVwZ-​RR 2018, 12 Rn. 6.

Das ergibt sich auch bestätigend aus der Begründung des Bundesrats zu § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO. Dort heißt es ausdrücklich:

"Mit der Änderung ist damit kein Automatismus verbunden, dass Tempo 30 vor solchen Einrichtungen stets anzuordnen ist. Es ist daher weiterhin eine Einzelfallprüfung erforderlich."

Vgl. BR-​Drs. 332/16 S. 14.

Das Gericht kann eine behördliche Ermessensentscheidung gemäß § 114 Satz 1 VwGO nur eingeschränkt daraufhin überprüfen, ob die Behörde das ihr eingeräumte Ermessen erkannt, von ihrem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung entsprechenden Weise Gebrauch gemacht und ob sie die gesetzlichen Grenzen des Ermessens eingehalten hat. Der Betroffene kann im Rahmen der behördlichen Ermessensausübung verlangen, dass seine eigenen Interessen ohne Rechtsfehler mit den Interessen der Allgemeinheit und anderer Betroffener, die für die Einführung der Verkehrsbeschränkung sprechen, abgewogen werden.

Vgl. BVerwG, Urteil vom 27. Januar 1993 - 11 C 35/92, BVerwGE 92, 32.

Es bedarf zur gerichtlichen Nachprüfung, ob eine verkehrsrechtliche Anordnung diesen Anforderungen gerecht wird, und ob die handelnde Behörde ihr Ermessen überhaupt erkannt und ausgeübt hat, einer nachvollziehbaren Darlegung der Ermessenserwägung. Zwar bedarf es für eine verkehrsrechtliche Anordnung als öffentlich bekanntgegebene Allgemeinverfügung keiner Begründung (§ 39 Abs. 2 Nr. 5 VwVfG). Die vor Erlass der verkehrsrechtlichen Anordnung angestellten Überlegungen und Abwägungsgesichtspunkte müssen sich jedoch - etwa anhand der Behördenakte - zumindest im Wesentlichen nachvollziehen lassen.

Diese Maßstäbe zugrunde gelegt, hätte die Kammer voraussichtlich nicht erkennen können, dass die Beklagte vor der Entscheidung über die Anordnung von Tempo 30 auf der S. Straße überhaupt Ermessen ausgeübt hat.

Den von der Beklagten vorgelegten Verwaltungsvorgängen dürfte keine Ausübung von Ermessens zu entnehmen sein. Ausweislich des Verwaltungsvorgangs zur Aufstellung der Verkehrszeichen (Beiakte Heft 1 Bl. 1-​10) sind der zuständige Beigeordnete und auf dessen Vorlage der Bauausschuss des Rates der Beklagten auf der Grundlage der Niederschrift einer Verkehrsingenieurbesprechung, an der auch der Referatsleiter des für Verkehrslenkung zuständigen Referates des Verkehrsministeriums NRW teilgenommen hat, davon ausgegangen, dass die Höchstgeschwindigkeit regelhaft auf 30 km/h herabzusetzen ist, wo § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 StVO einschlägig ist. Nur ausnahmsweise könne wegen besonderer Umstände davon abgesehen werden. Diese Ansicht hat die Beklagte im gerichtlichen Verfahren in der Klageerwiderung wiederholt und bekräftigt, indem sie sich auf den Standpunkt gestellt und hervorgehoben hat, das Regel-​Ausnahme-​Verhältnis, das für Beschränkungen des fließenden Verkehrs gelte, sei an diesen Stellen umgekehrt. Von ihrem Rechtsstandpunkt aus war es also folgerichtig, dass die Verwaltungsakte keine Anhaltspunkte für eine Ermessenausübung enthält, weil die Beklagte sich gebunden sah, die Geschwindigkeit auf Tempo 30 herabzusetzen. Auch der kurz darauf gefasste Ratsbeschluss enthält keine Ermessensgesichtspunkte.

Dieser Rechtsstandpunkt der Beklagten hätte sich nach einer mündlichen Verhandlung jedoch wohl als unrichtig herausgestellt. Wie dargelegt, verlangt § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO eine Ermessensbetätigung zu den Fragen, ob der Verkehr überhaupt geregelt werden soll (Entschließungsermessen) und - falls ja - in welcher Weise (Auswahlermessen).

Es wäre wohl nicht feststellbar gewesen, dass die Beklagte Ermessenserwägungen darüber angestellt hat, ob sie die Belange von Personen, deren Interessen durch die getroffene Maßnahme unter Umständen nachteilig berührt werden, in dem gebotenen Umfang erfasst hat, und ob diese Aspekte in rechtsfehlerfreier Weise mit den Gesichtspunkten abgewogen wurden, die ggf. für die Beibehaltung der Regelhöchstgeschwindigkeit der StVO von 50 km/h sprechen. Die Beklagte hat sich nach den Akten und ihrem Vortrag im Gerichtsverfahren allein von der Vorstellung leiten lassen, sie sei zur Herabsetzung auf Tempo 30 verpflichtet. Aus den dem Gericht vorliegenden Ratsunterlagen dürfte ausschließlich die Intention deutlich geworden sein, sämtliche sensible Einrichtungen wie Schulen, Kindergärten und Altenheime durch die Herabsetzung der Geschwindigkeit auf 30 km/h schützen zu wollen, und zwar relativ pauschal und flächendeckend.

Ein Fall der Ermessensreduzierung auf Null ist angesichts der verhältnismäßig wenig befahrenen, ruhigen Verkehrslage auf der S. Straße, die das Gericht im Ortstermin beobachten konnte, nicht zu erkennen. Eine solche Reduzierung kommt auch aus weiteren Gründen nicht in Frage. Den Akten dürfte sich keine Begründung dafür entnehmen lassen, warum die Geschwindigkeitsherabsetzung auf beiden Richtungsfahrbahnen gilt, obwohl über eine weite Strecke neben der Fahrbahn, die nicht an der Schulseite liegt, gar kein Gehweg vorhanden ist und es dort auch nicht zu Querungsverkehr kommt. Eine solche Erwägung wäre aber erforderlich, zumal in der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur StVO (VwV StVO) zu Zeichen 274 unter IX. ausdrücklich vorgegeben ist, dass die beiden Fahrtrichtungen nicht gleich behandelt werden müssen.

Ermessenserwägungen wären wohl auch hinsichtlich der Länge der temporeduzierten Strecke erforderlich gewesen. Nach der VwV StVO an vorgenanntem Ort ist die streckenbezogene Anordnung auf den unmittelbaren Bereich der Einrichtung und insgesamt auf höchstens 300 m zu begrenzen. Die geschwindigkeitsreduzierte Strecke beträgt nach dem Ortstermin dagegen 480 m. Eine Überschreitung der zulässigen Gesamtlänge um mehr als 50 Prozent bedarf jedoch einer eingehenden Begründung. Diese dürfte die Beklagte schuldig geblieben sein.

Dasselbe gilt für die Beschränkung, die auch in den Schulferien nicht unterbrochen ist. Hierzu drängt sich eine Ermessensbetätigung auch deswegen auf, weil die VwV StVO die Geschwindigkeitsbegrenzung zwingend auf die Öffnungszeiten der Einrichtung beschränkt. Selbst wenn die Schule bzw. die angeschlossene Betreuungseinrichtung während der Ferien geöffnet hat, hätte die Beklagte darüber Erwägungen anstellen müssen, ob die Geschwindigkeitsbeschränkung auch während der Ferien erforderlich ist. Denn während der Ferienbetreuung sind die Anfangs- und Abholzeiten über einen längeren Zeitraum gestreckt als zu Schulzeiten, in denen der Unterricht pünktlich begonnen und beendet wird. Weiterhin nehmen typischerweise deutlich weniger Schüler an der Ferienbetreuung teil als am regulären Schulunterricht. Beide Umstände führen dazu, dass die von § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 - "Schule" StVO vorausgesetzte Gefährdungssituation entschärft wird.
Die Beklagte hat schließlich nichts dazu ausgeführt, dass Tempo 30 erforderlich ist, obwohl über die gesamte temporeduzierte Strecke Ampelanlagen vorhanden sind, die ein gefahrloses Überqueren der S. Straße erlauben. Dazu wären umso mehr Erwägungen zu erwarten, als Grundschüler vielfach von Erziehungsberechtigten zur Schule begleitet werden.

4. Auf der T.

Soweit sich die Klage gegen die Geschwindigkeitsbegrenzung auf der Straße Auf der T. richtet, hätte sie aller Voraussicht nach Erfolg gehabt. Die Kostenlast muss deswegen insofern der Beklagten zur Last fallen.

Die Geschwindigkeitsreduzierung richtet sich bei der Straße Auf der T. nach § 45 Abs. 9 Satz 1 in Verbindung mit Satz 4 Nr. 6 StVO. Denn nach den vorstehend dargelegten Maßstäben liegen an dieser Straße sowohl die allgemeinbildende Schule des F2. -Gymnasiums als auch das Seniorenwohnheim M1. . Das Seniorenwohnheim grenzt unmittelbar an die Straße an; auch sein Haupteingang geht auf die Straße Auf die T. . Der Haupteingang des F2. -Gymnasiums liegt zwar an der S1...straße , einer Nebenstraße zur Straße Auf der T. . Die Kammer hätte auf der Grundlage der Erkenntnisse aus dem Ortstermin aber wahrscheinlich angenommen, dass der Nebeneingang zum F2. -Gymnasium, der an der Straße Auf der T. liegt, häufig und von einer Vielzahl von Schülern genutzt wird. Er liegt unmittelbar neben der vorgelagerten Bushaltestelle, die für den Schülerverkehr genutzt wird. An ihr steigen viele Schüler der Schule aus den Bussen aus und wieder in sie ein. Die von § 45 Abs. 9 Satz 4 Nr. 6 - "Schule" StVO vorausgesetzte erhöhte Gefahrenlage ist hier gegeben.

Doch selbst wenn man unterstellt, dass eine Temporeduzierung auf der Straße Auf der T. nach § 45 Abs. 9 Satz 1 StVO grundsätzlich möglich wäre, fehlt es auch hier an der erforderlichen Ermessensausübung der Beklagten. Insofern kann auf das zur S. Straße Ausgeführte verwiesen werden. Es gilt auch hier sinngemäß.

Abweichend davon kommt eine Ermessensreduzierung auf Null allenfalls im Bereich unmittelbar vor dem F2. -Gymnasium auf der der Schule zugewandten Fahrbahnseite in Betracht. Denn dort trifft die aufsteigende Unterführung auf die Bushaltestelle und den Nebeneingang des Gymnasiums. Insofern liegt nahe, dass dort eine typischerweise erhöhte Gefährdungslage gegeben ist, der nur durch eine Geschwindigkeitsreduzierung auf Tempo 30 ermessensfehlerfrei zu begegnen ist. Das gilt vor allem, weil die Verkehrssituation für die Fahrzeugführer, die aus der dunklen Unterführung bergauf und in die Helligkeit fahren (nur zu Schulzeiten am Tage liegt die Gefahrenlage vor), nur schwer zu übersehen ist. Zudem muss mit unachtsamem Verhalten, Drängeln usw. an der Bushaltestelle gerechnet werden. Da der Nebeneingang auf den Schulhof der Schule führt, ist weiterhin damit zu rechnen, dass - vor allem jüngere - Schüler ungestüm vom Schulhof auf die Straße laufen, ohne den Straßenverkehr ausreichend zu beachten.

Für das Seniorenheim M1. mag das in gleicher Weise für die Fahrbahnseite gelten, die der Einrichtung zugewandt ist. Da das Seniorenwohnheim auch Voll- und Kurzzeitpflege für Demenzkranke anbietet, ist latent damit zu rechnen, dass diese Pflegebedürftigen in verwirrtem Zustand oder orientierungslos auf die Fahrbahn laufen.

Die Verkehrsregelung betrifft jedoch die die gesamte Straße Auf der T. von der Unterführung bis zur Kreuzung mit der M...straße . Insbesondere für die den Einrichtungen gegenüberliegenden Fahrbahnen kann das Gericht nach Aktenlage keine Ermessensreduzierung auf Null erkennen. An die westliche Richtungsfahrbahn grenzt keine sensible Einrichtung an, deren Benutzer besonderen Verkehrsgefahren ausgesetzt sein könnten. Es ist auch nicht ersichtlich, dass von dieser Seite aus Senioren oder Schüler gehäuft ohne hinreichende Vorsicht auf die andere Straßenseite laufen. Insbesondere ist nicht ohne Weiteres nachvollziehbar, warum die Beklagte die westliche Richtungsfahrbahn auch auf dem Teilstück ab der Einmündung der L3. -P1. -Straße bis zur M...straße temporeduziert hat. Auf der westlichen Seite befindet sich deutlich zurückgesetzt das Kreishaus, auf der anderen Straßenseite stehen ebenfalls Gebäude der öffentlichen Verwaltung. An der Kreuzung mit der M...straße befindet sich eine Ampelanlage. Das gesamte Teilstück hat zudem einen geraden, gut übersehbaren Straßenverlauf.

Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 52 Abs. 1 und 2 GKG. Hinsichtlich einer jeden der angegriffenen Verkehrsregelung ist der Auffangstreitwert von 5.000 Euro anzusetzen. Diese sind zu addieren.

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